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Der Wanderer 103

Nebenan beklagt sich Anke Gröner über die viel zu vollen Blockbuster-Ausstellungen, die derzeit noch andauern beziehungsweise gerade zuende gehen. Sie ging trotz allem in Caspar David Friedrich in Hamburg. Und andere mehr.

Ich stand in den letzten Wochen mehrmals vor der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main – und ging nicht hinein zu Feininger. „Links, das ist die Schlange für die Kasse, und rechts ist Online.“

Die vielen Menschen, der Andrang, die beengten Verhältnisse und das Langeschlangestehen (sic) sind so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir unter einer Kunstausstellung vorstelle. Museums- und Ausstellungsbesuche werde ich in Zukunft also anders angehen lassen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, den das nervt und der sich anderweitig orientiert. Die Bedeutung der Sammlungen und der Dauerausstellungen wächst. Das wird dadurch erleichtert, dass ich schon so lange im Kulturbetrieb unterwegs bin, dass ich die Sammlungen in der Nähe ganz gut kenne. Diejenigen in größerer Entfernung werden nun hinzukommen.

Weg von den Events, weg vom Kunstkonsum als organisiertem Ereignis, hin zu selbstbestimmten und, wenn man so will, auch selbst kuratierten Kunsterfahrungen. Und weg von den größeren und großen Hallen, hin zu den kleineren Häusern. Wo Kunst noch möglich ist, ohne Online-Buchung und festgezurrtem Zeitfenster, zwischen mehreren Gruppenreisen und so. Ähnlich wie früher. Muss doch gehen. Irgendwie.

Meine These wäre, dass die im Vergleich zu früheren Zeiten heute übervollen Ausstellungen etwas mit dem zu tun haben, was Stefan Schulz in seinem Buch die Altenrepublik genannt hatte. Die Baby-Boomer haben jetzt genügend Zeit, denn die große Verrentungswelle hat eingesetzt, und so bevölkern sie nun die Ausstellungshäuser und erobern sich den kulturellen Raum, und zwar zu Zeiten, zu denen sie bis dahin – zumindest in dieser Anzahl – dort nicht anwesend sein konnten. Wir werden es beobachten.

Der Wanderer XCVIII

2023 geht zuende. Es ist Zeit für einen Blick zurück.

So wenig Weihnachten war selten wie in diesem Jahr. Kaum ein Geschäft in der großen Einkaufsstraße hat sein Schaufenster entsprechend dekoriert. Wenn sie nicht mal mehr saisonal dekorieren, wie soll dann der Gedanke an saisonales Einkaufen entstehen?

Wir sehen vor uns: Eine verwundete Gesellschaft. Freilich begann es in einem umfassenderen Sinne schon viel früher. Aber im engeren Sinne betrachten wir die letzten etwa vier Jahre. Irgendwie. Es ist kaum möglich zu erfassen, was in der Zeit alles kaputt gegangen ist, kaputt gemacht wurde. Strukturen, die aufzubauen viele Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert hatte, wurden innerhalb von Wochen und Tagen für immer beschädigt oder für immer zerstört, so scheint es. Auch wenn es viele Versuche dazu gab und gibt, es fällt doch schwer, sich davon zu erholen. Es betrifft Menschen ebenso wie gesellschaftliche Ordnungen: Organisationen, Institutionen, Netzwerke. Ganz schwer einzuschätzen, wie es weitergehen wird.

Überall neues Personal, das die Verhältnisse „vor Corona“ nicht mehr kennt. In der Bibliothek, in der Klinik, in der Arztpraxis, im Laden. Anything left?

Derzeit wird in den größeren Städten nachgeholt, was in der letzten Zeit auf dem Land vorausgegangen war: Schließung von Bankfilialen und Geschäften und Geschäftsstellen. Was bleibt, sind Automaten, wenn überhaupt. Und Webseiten. Und ständig ändert sich etwas. Deshalb veraltet das Wissen über Alltägliches immer schneller.

2023 war auch das Jahr, in dem das textbasierte Usenet kaputt ging. Über das Interface zu Google Groups kam massenweise Spam herein, mit KI generiert, und machte die Newsgroups unlesbar. Zuerst wurden Google Groups vollständig ausgefiltert. Dann zog sich Google vollständig aus dem Usenet zurück. Das einst von DejaNews gekaufte historische Usenet-Archiv bleibe erhalten – offen bleibt, wie lange. Aber es werde nicht mehr fortgeführt. Hier bräuchte es also ein privates Projekt. Es wird sich sicherlich etwas ergeben. Die Newsgroups sind aber deutlich getroffen, denn auch den Benutzern war es nicht mehr möglich gewesen, sich per Killfile gegen den Spam, in solchen Mengen und in dieser Qualität variiert, zu schützen. Und ein doch recht großer Teil der Regulars postete über viele Jahre über Google Groups. Es bleibt abzuwarten, wie es nun weitergehen wird.

Übergänge gab es auch bei den Mailinglisten. Einige starben, einige wurden bei neuen Providern weitergeführt, erneutes Anmelden reichte aus. Im Hintergrund war auch hier Google, diesmal mit seiner Mail. Wer einen so großen Teil der Lemminge mit seinem Dienst bedient, bestimmt am Ende die Regeln, nach denen alle E-Mails transportiert, adressiert, empfangen werden. So eine große Macht auf ein ganzes Medium, auf Märkte und auf Protokolle, die gar nicht mehr zum eigenen Beritt zählen, gehört freilich verboten, ist es aber nicht, wie wir wissen.

Derweil ist die Google-Suche endgültig unbrauchbar geworden. Bing liefert immerhin noch Nachweise zu Nachrichten auf Websites. Und ansonsten: MetaGer rulez. Wenn ich überhaupt noch Web-Suchmaschinen benutze.

2023 war auch das Jahr, in dem Twitter starb und Mastodon und das Fediverse aufstieg. Vielleicht war es auch ein Umbruch für die Blogs. Felix Schaumburg sagte in Bildung – Zukunft – Technik – BTZ108:

Wenige bloggen noch regelmäßig, aber trotzdem gibts die Blogs, und es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass wenn mal irgendwie was ist, man das dann auch wieder nutzen könnte. Und ich glaube, in dem Sinne gehen Blogs nicht weg, auch wenn sie nicht mehr groß sind, also dominant als Medium.

Und in derselben Folge sagte: Guido Brombach: „Ich bin social-media-müde.“ Und er muss es ja wissen.

Wo bleibt das Positive? Ganz sicher hier: 2023 war auch das Jahr, in dem die 70. Ausgabe meiner vierteljährlichen Kolumne Neue Pakete auf CTAN erschienen ist. Die erste Folge kam in der Mitgliederzeitschrift der Deutschsprachigen Anwendervereinigung TeX (DANTE), in der TeXnischen Komödie (DTK), in Ausgabe 2/2005. Und wenn nichts dazwischenkommt, setze ich die Reihe gerne fort.

Der Wanderer LXVIII

Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.

Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.

Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?

Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.

Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)

Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:

Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!

Der Wanderer LXVI

Der Handwerker kniet auf dem Boden und schlägt mit dem Hammer auf eine lange Holzlatte ein, die vor ihm liegt. Kreissägen kreischen durch das Erdgeschoss, und es riecht nach Farbe.

Nach mehr als einem Jahr bin ich in eines der größeren Kaufhäuser gegangen. Letztes Jahr war Ausverkauf. Also wirklich Aus-ver-kauf. Sie haben auch heute keine zu früher vergleichbare Auswahl bei den Produkten. Alles ist geschrumpft, und es gibt viel Platz zwischen den Regalen und den Warentischen. Auch kaum Personal.

Ich suche nach der Kasse. Das Schild, das den Weg weist, zeigt ins Nichts. Die Kasse ist leider nicht besetzt. Sie können entweder nach unten gehen zu den Süßwaren oder ein Stockwerk höher, da hinten ist die Rolltreppe. Nein, die geht nicht, die ist außer Betrieb. Also nach unten. Eine lange Schlange. Es dauert ewig. Also doch nach oben. Umweg: Es gibt noch eine andere Rolltreppe. Eine kürzere Schlange. Möchten Sie eine Plastiktüte für zehn Cent? Nein, danke, ich habe einen Baumwollbeutel dabei. Die Plastiktüte war früher ein stolzer und moderner Werbeträger, heute ist sie ein teures Teil, das keiner mehr haben will. Nicht wirklich.

Zur Projektplanung setze ich seit vielen Jahren auf analoges Werkzeug: Einen schönen Taschenkalender und ein farblich dazu passendes Clairfontaine-Heft. Der Kalender ist bestellt. Das Heft gabs nicht kariert. Also linierte Kladden vom selben Hersteller. Hatte ich zum letzten Mal 2016. Als das alles begann. Und lange vor dem ganzen Rest. Also genaugenommen ein gutes Zeichen.

Auch die Bauarbeiten in den Geschäften könnte man positiv sehen, es wird investiert. Aber mit fremdem Geld, das man ohne weiteres verbrennen kann, ohne dass es weh täte, wenn es später abgeschrieben würde.

Auch auf der Straße: Bauarbeiten. Dauerregen auf die Baustelle.

Das Bild, das die Geschäfte und die große Einkaufsstraße bieten, wirkt wie eine Metapher für die verwundete Gesellschaft im ganzen. Sie lässt mich fassungslos zurück.

Der Wanderer LXV

Der Weg führt am Fluss entlang, hinein in die Stadt. Die Sonne scheint, und es ist so warm, dass es fast schon wieder zuviel an Wärme ist, so schnell war der Übergang vom kalten Spätfrühling zum Sommerbeginn.

Ein Jahr, in dem so viel passiert war. Ein Jahr, in dem auch so wenig passiert war. Eine Wohnung kann groß sein, und dann auch wieder so klein.

Und jetzt nach mehr als einem halben Jahr zurück in die Stadt hinein, am Fluss entlang. Den Weg, den ich fast ein Vierteljahr lang immer wieder gegangen war.

Die Gänse am Ufer, wie vor vier Jahren, als das alles begann. Als ich wieder fliegen lernte, als ich mit anderen um die Wette ins helle Licht lief, und der Körper viel schneller war als die Seele, die erst nachkommen musste. Also innehalten und abwarten. Und weiter. Und immer weiter. Aufstehen. Aufstehen. Aufstehen.

Am Fluss entlang hinein in die Stadt. Wo sehr viel weniger passiert als damals. Beruhigung, Entschleunigung. Die große Bremse, die alles anhielt.

Eine Gruppe junger Leute, die auf dem Rasen am Ufer sitzen und sich auf Englisch unterhalten. Werden es genug Antikörper sein, wenn es darauf ankommen sollte? Die Gänse am Ufer. Die Gänse auf dem Rasen.

Eine Gruppe junger Mütter bei der Gymnastik am Fluss. Sie bilden einen Kreis, und die Kleinen in der Mitte. Und dort ist die Brücke, über die ich so oft schon gegangen war. Kaum Touristen, wo man früher so viele verschiedene Sprachen hörte.

Das Café, in dem ich so viele Stunden verbracht hatte, gibt es nicht mehr. Ausgeräumt. Stühle und Tische sind verschwunden, für immer, wie es scheint. Seelenlose Gassen, fast menschenleer. Ein Disneyland in Fachwerk. Da drüben ist der Dom. Ein älteres Paar läuft über den Platz, telefoniert gemeinsam mit lautgestelltem Handy auf Italienisch als verstände es keiner um sie herum. Sie ist auffällig blondiert, und sie hält das Gerät vor sich als wäre sie sechzig Jahre jünger, mindestens.

Nur die Sonne ist wie früher. Und werden die Antikörper dann reichen? Auch in diesem Café war ich oft. Früher immer gut besucht. Heute kaum Gäste. Der Kellner trägt Maske. Kenne ich ihn? Er langweilt sich. Er nickt. Er geht wieder hinein. Zwei Besucher sitzen draußen an Tischen in der Sonne.

Weiter zum Museum. Es hat geschlossen. Auch gegenüber. Auch der Laden, wo es die Wolldecken gibt, ist noch da, aber geschlossen. Sie hatten immer kleine Elefantenfiguren aus buntem Filz im Angebot. Heute aber nicht.

Weiter über die Straße. Links bei Tchibo läuft der Verkauf. Man wird die Behandlung bald wiederholen müssen, sonst verliert sich der Nutzen und es reicht nicht mehr. Ob das überhaupt geht?

Weiter auf der anderen Straßenseite. Die Apotheke mit einem Schild an der Tür: Today no testing. Der Handyladen: Als wäre nichts gewesen. Der Second-Hand-Laden daneben dito. Offene Türen, aber keine Kunden in den Läden.

Jetzt kommt die große Fußgängerzone. Ich schaue mich um, um mich des Orts zu versichern: Ich bin jetzt mitten in der Stadt, wo früher ganz viel eingekauft wurde. Die großen Läden haben wieder geöffnet. Die kleinen auch. Es ist ein bisschen wie bei der Müttergymnastik: Die Großen drumherum und die Kleinen in der Mitte. Riesige Schilder, auf denen ebenso riesige Rabatte angekündigt werden. Die Sparkasse. Mit Sicherheitsmann am Eingang. Hier haben sie ihn also noch. Und der große Platz, heute ohne Markt. Fahrradfahrer kreuzen meinen Weg. Ich bleibe stehen, ich weiche aus. Ob man es überhaupt wird wiederholen können, wenn es nötig sein wird? Die Rolltreppe nach unten.

Die Geschäfte unter der Erde, auf dem Weg zur S-Bahn. In allem und in allen strahlt die Angst. Warten am Bahnsteig. Viel zu lang dauert es. Es ist viel zu eng hier für die vielen Menschen. Die nächste Bahn nehme ich ganz bestimmt. Die Türen gehen auf, der Zug leert sich, ich gehe hinein, die Türen schließen sich, der Zug fährt an, fährt, fährt, fährt mit mir weg. Durch den Tunnel. Weg aus dieser fremden und leeren Welt ohne Wärme, da ist nur die Hitze am Mittag. Ich traue mich kaum zu atmen. Das ist eine Verbindung, die mich zurück zu der Wohnung bringt, aus der ich aufgebrochen war am Morgen. Mit ihr fliege ich zurück in mein vorübergehendes Leben. Die Tür geht auf, ich verlasse den Zug. Die Maske weiter aufbehalten, bis man den Bahnhof ganz verlassen hat. Ob es ausreichen wird? Und weiter nachhause.

Ich warte auf den Abend.

Der Wanderer LXIII

Müde laufe ich durch die Stadt. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt, dass die Wärme der Sonne dagegen nicht ankommt. Die Winterjacke ist noch zu warm, aber die Sommerjacke zu dünn. Es passt nicht.

Als ich hier das letzte Mal vorbeikam, blühte noch der Ginster. Jetzt sind die Sträucher grün geworden. Aber die Werbung an der Litfaßsäule ist immer noch die gleiche. Vom Februar. Vom Februar vor einem Jahr. Vor einem Jahr, als das alles begann. Als die Geschäfte zum ersten Mal geschlossen wurden. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die digitale Bohème flächendeckend wurde und Homeoffice hieß, jetzt, wo sie bieder geworden war und für alle.

Zuhause bleiben und in den Computer tippen und alles über Video, wie früher in meinem alten Leben auch schon, aber für die anderen war das ganz neu. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die Sonne schien, als ginge es um ihr Leben. Als die Sonne schien, als würde das niemals enden. Als der Ginster blühte. Als die Bäume wieder grün wurden. Als es noch kalt war, aber die Sonne wurde immer wärmer.

Und jetzt ist es wieder Mai, und ich laufe müde durch die Stadt. Aber anders als damals.

Der Laden dort hat schon seit einem Jahr geschlossen. Jetzt haben sie Zeitungspapier hinter das Schaufenster geklebt. Haben sie es überhaupt geklebt, oder warum sieht man keine Spuren von Klebstoff an der Fensterscheibe?

Vor einem Jahr hatte die Sonne auch so geschienen, aber dieses Jahr gibt es immer wieder Regen. Und abends heizt man, sonst ist es zu kühl ohne die Heizung. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt. Und es regnet immer wieder. Immer noch die Winterjacke, wenn auch ohne Fleece.

Merkst du, tagsüber sind viel mehr jüngere Leute unterwegs, die wären früher alle in Büros gewesen. Untergebracht und weggeschlossen, gleichwohl offen. Heute gehen sie spazieren, wenn die Sonne scheint, auch unter der Woche. Gehen sie zum Bäcker, zum Einkaufen, wenn sie Pausen machen von der digitalen Bohème, die sie jetzt Homeoffice nennen, damit es nicht so auffällt. Eine Bohème mit Sozialversicherung. Mit Wumms, haben sie gesagt. Mit Wumms aus der Krise, haben sie gesagt. Dass die sich nicht schämen.

Der Bäcker da drüben hat schon länger geschlossen. Es lohnt sich nicht mehr, weil sie keinen Kaffee to go mehr verkaufen morgens. So früh ist kaum noch einer unterwegs morgens. Sie machen sich den Kaffee jetzt selbst daheim, bevor sie sich an ihre Computer setzen. Vom Bett ins Wohnzimmer an den Schreibtisch an den Computer, dazwischen liegt das Bad, liegt die Küche, der Kaffee, das Frühstück, der Wasserkocher, der Kühlschrank und die Waschmaschine. Und abends wieder retour.

Es ist Ende Mai, und der Wind ist kalt. Die Impfreaktion mache einen müde, sagen sie. Mache Kopfweh, sagen sie. Der Briefträger auf dem Fahrrad biegt um die Ecke. Sein Korb ist voller Zeitschriften und Büchersendungen. Es wird viel gelesen, sagt die Frau an der Abo-Hotline. Sie hätten so viele Anrufe. Alle sind zuhause, man hat Zeit, es wird telefoniert, das Festnetz, die digitale Bohème hat Zeit zuhause.

Der Friseur da drüben darf wieder aufmachen. Die Haare werden kürzer. Die Maskenpflicht. Die Testpflicht. Die Pflicht ruft.

Manche füttern noch die Vögel. Es ist kalt. Es ist Ende Mai. Die Blaumeisen sind verschwunden, wir haben nur noch Sperlinge und Kohlmeisen und Amseln und Tauben. Und Tauben. Und Tauben.

Wenigstens haben sie die Werbung mit den Osterhasen weggemacht. Die Osterhasen, die sie im Einkaufszentrum verschenken wollten, zu Ostern. Vor einem Jahr. Sie hing bis kurz vor Weihnachten. Und jetzt ist Pfingsten. Das zweite Pfingsten schon, seit alles begann. Aber ich denke immer noch an die goldenen Osterhasen auf den Werbeplakaten.

Die Eisdiele hat wieder aufgemacht. Die Leute stehen im eiskalten Wind in der Sonne und warten darauf, dass sie eine Kugel Eis in einer Waffel bekommen können. Sie halten Abstand zueinander, auf dem Boden in der Fußgängerzone sind Markierungen angebracht worden. Alle tragen Masken, denn hier besteht Maskenpflicht von acht bis zweiundzwanzig Uhr. Die Eisverkäuferin trägt auch eine Maske. Man sieht nicht, ob sie lächelt, wenn sie die gefüllten Waffeln reicht.

Gegenüber der Trödelladen mit dem Schild im Schaufenster: Wenn Sie etwas kaufen möchten, rufen Sie mich an! Die Tür ist abgeschlossen. Ich will nichts kaufen. Es ist kalt. Ich denke an die leere Fensterscheibe und das Zeitungspapier und den Klebstoff. Ich bin müde. Sie sagen, das sei von dem Impfstoff. Das Impfen mache die Leute so müde. Es mache auch Fieber, aber ich habe kein Fieber. Es ist kalt. Der Wind.

Die ersten Blumen brechen durch. Der Frühling ist schon fast vorbei, aber alle tragen immer noch ihre Wintersachen. Im Rewe gibts Erdbeeren aus Holland. Und die Buchhandlung hat jetzt wieder geöffnet, aber nur auf Abruf. Da drüben wird getestet. Gleich zum Mitnehmen. Die Leute warten auf ihr Ergebnis. Es gibt eine Schlange, aber keiner hat es eilig, alle haben Zeit.

Bei der Sparkasse darf man einfach so hineingehen. Vor einem Jahr, als das alles anfing, hatten sie noch einen Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang stehen, der ist jetzt nicht mehr da. Man kann gleich reingehen, wie früher. Alle sind maskiert. Früher wäre man verdächtig gewesen, wenn man maskiert in die Sparkasse gegangen wäre. Heute muss man das tun. Der Elektroladen daneben hat geschlossen. Ein Schild für den Paketboten hängt an der Tür: Wir bauen um, wir sind da, bitte klingeln! Es sieht nur so aus, als wäre alles zu. In Wahrheit ist alles ganz anders.

Müde laufe ich durch die Stadt. Sie sagen, das sei die Impfreaktion. Das gehe bald vorbei. Es dauere nicht mehr lange. The times, they are a'changing, lief vorhin im Radio.

Ich denke an die vielen Ausstellungen. Die ungesehenen Ausstellungen. Die ungesehenen Bilder, Skulpturen. Die ungehörten Konzerte. Die ungesehenen Theateraufführungen. Die nicht ausgeliehenen Bücher. Die Wintersachen aus dem letzten Jahr, die immer noch in den geschlossenen Läden liegen, hängen, stehen. In den Läden, die sie kurz vor Weihnachten zugemacht hatten. Das Geschäft da drüben hatten sie vor einem Monaten geräumt. Auch dort jetzt: Zeitungspapier.

Die Blätter an den Sträuchern sind ganz frisch. Man sieht, wie sich die kleinen, frischen Blättchen auffalten. Wie sie sich zum ersten Mal strecken, wie schön das ist, die frischen kleinen Blättchen an den kahlen Zweigen im kalten hellen Frühlingslicht. Im kalten Wind am frühen Nachmittag.

Es ist Ende Mai. Alle sind maskiert. Ich bin die ganze Zeit über müde. Es passt nicht. Aber ich habe kein Fieber.

„Tizian und die Renaissance in Venedig“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Tizian und die Renaissance in Venedig ist eine geballte Ladung Kunstgeschichte auf zwei Etagen. Die Ausstellung ist in Schwerpunkte gegliedert und erzählt die Neuansätze bei der Darstellung und der Funktion der Landschaft in der seinerzeitigen Malerei, der Darstellung von Frauen und Männern im Porträt sowie die Umsetzung antiker und biblischer Stoffe im Bild. Die Schau endet mit einem Überblick über die Rezeption der venetianischen Renaissance bis in die Gegenwart – darunter ein unerwartetes Wiedersehen mit zwei Bildern von Thomas Struth aus der Becher-Klasse (2017 an gleicher Stelle zu sehen), auf denen die museale Verarbeitung reflektiert wird. Bilder im Bild sind darauf zu sehen, darunter auch die Madonna mit dem Kaninchen aus dem Louvre, die im ersten Teil gezeigt wird.

Durchgehend sind Beispiele für bedeutsame Buchausgaben zu sehen, die die Bilder gut ergänzen. Die alten Bücher wirken besonders eindrucksvoll, weil sie die Typografie und die gestalterische und handwerkliche Kunst aus der Anfangszeit des Buchdrucks demonstrieren. Sehr schöne und hervorragend erhaltene Feder-, Kreide- und Pastellzeichnungen, teils weiß gehöht auf farbigem Papier, teils Studien, ergänzen die Gemälde, oft aus der grafischen Sammlung des Städel.

Es ist keine reine Tizian-Schau, sondern, wie der Titel sagt, ein Blick auf Tizian und Umfeld im Venedig um 1500, als die Malerei Farb- und Luftperspektive lernte, weiter Entferntes daher meist sehr blau, aber nicht mehr so flach wie noch kurze Zeit vorher bei den Italienern ausgeführt. Einen guten Eindruck von der Präsentation gibt dieses Werbefilmchen:

Der Weg durch das Haus zur Sonderausstellung führt übrigens durch eine weitgehend neu gehängte klassische Moderne, die ebenfalls sehenswert ist, weil sich dadurch neue Zusammenhänge erschließen und teils auch Werke aus dem Depot geholt wurden, die es absolut verdient haben. Außerdem ist Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht noch bis 17. März zu sehen. Selten war das Städel an einem Freitagnachmittag so gut besucht wie gestern.

Tizian und die Renaissance in Venedig. Städel Museum, Frankfurt am Main. Kurator: Bastian Eclerc (Sammlungsleiter italienische, französische und spanische Malerei vor 1800, Städel Museum). Wissenschaftliche Beratung: Hans Aurenhammer (Goethe-Universität, Frankfurt am Main). Katalog und Begleitheft im Museum zu erwerben. Audioguide zur Miete. App für Android und iOS kostenlos. Digitorial. – Bis 26. Mai 2019.

„Moderne am Main 1919–1933“ im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

In der Ausstellung „Moderne am Main 1919–1933“, die vergangene Woche im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main zum Baushausjahr eröffnet worden ist, ist auch viel Neue Typografie und Vorarbeiten bzw. künstlerisches Umfeld zu sehen – wer also Gelegenheit hat, nach Frankfurt zu kommen, möge sich die Schau nicht entgehen lassen. Der kleinformatige, aber dicke Katalog ist auch schön gemacht und mit informativen Texten versehen. Leider muss man viel Wissen mitbringen, um die Zusammenhänge zwischen den Ausstellungsstücken und dem Hintergrund herzustellen, in der Ausstellung gibt es nur kurze Wandtexte, und der Katalog liegt leider auch nicht aus – ich habe das beim Gehen angeprangert, und das Museum verspricht Besserung. Wir haben etwas gewikipediat, um unsere Lücken zu füllen, und das ging gut.

Moderne am Main 1919–1933. Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main. Kuratiert von Grit Weber, Annika Sellmann, Klaus Klemp und Matthias Wagner K. Bis 14. April 2019. Katalog: 29 Euro.

Wildnis in Frankfurt und Mondrian in Wiesbaden

Die „Wildnis“, die derzeit in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main gezeigt wird, ist ein gutes Beispiel dafür, was ein Kurator bitte nicht machen sollte: Wer mit der Tür ins Haus fällt und gleich im ersten Raum Thomas Struth, Gerhard Richter und Henri Rous­seau (und zwar in dieser Reihenfolge) verbrät, kann sich kaum noch steigern. Hundert Bilder, Skulpturen, Assemblagen und Videos, und es kommt kaum noch wirklich Überzeugendes mehr nach.

Die Künstlichkeit der Kunst – geschenkt – wer hätte das nicht schon gewusst, dass die Bilder „in der Werkstatt“ entstehen. Okay, am Ende kommt es dunkelrot, und wo kommt eigentlich der viele Nebel her? Aber will man das wirklich wissen?

Die Wildnis, die hier gezeigt wird, setzt um die Mitte des 19. Jahrhhunderts ein, und es ist zunächst einmal eine dokumentierte Natur. Es gab ja gerade erst eine gewisse Irritation über das Format der Reportage, und als hätten sie sich abgesprochen: Auch hier wird das Hochgebirge gefaket, und die untergehende Sonne strahlt rot, als käme sie direkt aus dem Abklingbecken der Kunstgeschichte.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, aber hier ist es einfach zuviel. Man denke sechs Jahre zurück, da gabs sowas schon mal in der Schirn, die „letzten Bilder“, die ziemlich zusammenhanglos und assoziativ gelockert nebeneinander an der Wand hingen. Nichts verband sie, als dass es eben mehr oder weniger zufällig die letzten ihrer Art waren. Ganz ähnlich hier: Irgendwas mit Natur. Die längste Kegelbahn der Welt ist nicht leicht zu bespielen, aber etwas mehr Raum gelassen, und Helmut Middendorfs Electric Night käme zur Wirkung; hier aber: wie in einer Ecke abgestellt, wo gerade noch dafür Platz war. Die beiden Werke von Jean Dubuffet bleiben im Gedächtnis.

Ein gutes Gegenbeispiel für eine größtenteils geglückte Dramaturgie ist dagegen die Ausstellung zu Piet Mondria(a)n, die derzeit im Museum Wiesbaden zu sehen ist. Fast der ganze Mondrian ist in, wenn ich mich noch richtig erinnere, sieben oder acht Räumen zu sehen. Von der frühen Landschaftsmalerei zu den bekannten Kompositionen mit Rechteckmuster in den Primärfarben rot, gelb und blau – der Museumsshop verkauft dazu die passenden Brillenputztücher und Servietten, falls man das mag.

Nur bitte nicht auf die Idee kommen, die Bilder wären chronologisch gehängt – das sind sie nicht. So entgeht einem das Hin- und Herschwingen zwischen figurativen und abstrakten Malweisen zwischen These, Antithese und Synthese, auch bei den Materialien, über Jahrzehnte hinweg.

Und es hätte nicht so enden müssen. Das rote Quadrat im letzten Raum war nicht zwingend oder unvermeidlich. Es wirkt eher wie eine Form, die auf etwas wartet, das dann noch folgt.

Wildnis. Kuratorinnen: Esther Schlicht und Johanna Laub. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main. Bis 3. Februar 2019. – Digitorial.

Piet Mondrian. Natur und Konstruktion. Kurator: Roman Zieglgänsberger. Museum Wiesbaden. Partner: Gemeente Museum, Den Haag. Bis 17. Februar 2019.

William Kentridge, „O Sentimental Machine“ im Liebieghaus, Frankfurt am Main

In der Mitte des dunklen Raums steht eine phantastische Maschine. Ein großer, unentwegt atmender „Elefant“ als Holz und Metall, der vor sich hin arbeitet, ohne Pause, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Ziel, aus sich heraus und für sich. Große Hebel, schiebende Flügel. Es dreht sich und es hebt sich etwas. Und trotz der Bewegung ruht er doch in sich. Ich glaube, es liegt an dem warmen Material Holz. Rundherum nicht weniger phantastische Filmszenen aus fünf Projektoren, die teils auf Holzplatten, teils auf die Reliefs im Rom-Saal des Liebieghauses leuchten und Szenen zeigen, Fragmente aus der Kunst, aus der Wissenschaft, Szenen einer Ehe, die Prozession einer politischen Bewegung. Und Metronomen, immer wieder. Vieles wird vorbeigetragen. Das ganze zu nicht weniger phantastischer Musik. Sie ist das schwächste Element von allen und kann sich nur deshalb gegen die Optik behaupten, weil sie über vier mächtige Lautsprecher gespielt wird, die in den Ecken ziemlich an der Decke platziert sind, vermehrt um vier Megafone, die frei im Raum verteilt sind und über die immer wieder gesungene, deklamierte oder gemurmelte Texte zu hören sind. Die Zuschauer können sich frei im Raum bewegen oder sich auf ein paar um den „Elefant“ verteilte Stühle – einfache Holzstühle und Drehstühle – setzen. Man muss sich immer wieder hin und her drehen, man bleibt in Bewegung, ist Teil der Bewegung, der Dynamik.

The refusal of time von William Kentridge, das zurzeit im Liebieghaus zu sehen ist, ist ein wahres Spektakel. Es dauert eine halbe Stunde, aber man meint, es wäre ein ganzes Leben. Ich habe schon lange nicht mehr in so kurzer Zeit so viel Zeit erlebt. Der „Elefant“ relativiert die Zeit und macht sie bewusst. Und es ist nur eines von 80 Werken in der Ausstellung, aber es ist bei weitem dasjenige, das mich am meisten angeregt hat. In der gestern neu eröffneten Kunsthalle Mannheim sei es auch zu sehen. Es gibt also mehrere davon. Wie beruhigend.

In diesem Interview im Louisiana Channel erzählte Kentridge 2017 – ebenfalls eine halbe Stunde lang – über das Werk, das zuerst 2012 bei der documenta 13 gezeigt worden war:

William Kentridge. O Sentimental Machine. Bis 26. August 2018 im Liebieghaus, Frankfurt am Main. Kuratoren: Vinzenz Brinkmann und Kristin Schrader. Katalog im Kerber Verlag, im Museum 39,90 Euro.

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