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Literaturkritik in der Abseitsfalle

In ihrem Interview im Börsenblatt hatte Iris Radisch nicht viel zu sagen, als sie von Stefan Hauck auf die Buch-Blogger angesprochen wurde:

Man muss sie ernst nehmen, denn das alte Reich-Ranicki-Imperium der Literaturkritik, das gibt es nicht mehr.

Ende der Durchsage. Es folgt noch eine Beschreibung des Umfelds, in dem sie selbst arbeitet: Die Anzeigeneinnahmen gehen zurück. Die Literaturredakteure müssen selbst ran. Die Freiberufler werden prekär entlohnt:

Es gibt im Journalismus wenig Formate – außer großen Recherchen und Reportagen –, die so zeitaufwendig sind wie die Literaturkritik. Dennoch bekommt ein Kritiker für eine mittellange Kritik nur 350 bis 450 Euro. Daran arbeitet er aber inklusive der Lesezeit mindestens zwei Wochen.

Umgekehrt hat die Bedeutung der Literaturkritik für den Markt immer mehr nachgelassen. Man setzt sich immer weniger mit Themen, Texten und Sprache auseinander, und seit dem Tod von Marcel Reich-Ranicki ist man ziemlich in der Versenkung verschwunden und wird immer weniger wahrgenommen. Ich würde ergänzen: Die Verlage tun ein übriges dazu, indem sie ihre besten Texte hinter die Paywall stellen und für Mondpreise verkaufen wollen. Die Paywall ist die große Abseitsfalle des Internets. Okay, das kann schon mal passieren, aber irgendwann hätten sie es merken müssen in den Redaktionen, welche Mechanismen da am Werk sind.

Zum Beispiel die Buch-Blogger, die man „ernst nehmen muss“. Aber was sonst noch? Vielleicht müsste man sich auch einmal damit auseinandersetzen, warum sie präsent sind, im Gegensatz zu den Feuilletons? Weil sie online auffindbar sind, auch längerfristig, denn jedes Blog ist per se ein Archiv mit Permalinks, während die Verlagswebseiten in immer kürzeren Abständen neu aufgezogen werden, wobei die Weblinks, die auf eine Website gesetzt werden, kaputt gehen. Cool URIs don't change, sagte einst der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee. Diesen Anspruch erfüllen bis heute nur die klassischen Formate des Web 2.0, nämlich Wikis und Blogs.

Wenn Iris Radisch die „die echten literarischen Debatten“ fordert, die es früher einmal gab, liest sich das tatsächlich wie ein romantischer Blick in eine Vergangenheit, die ein für alle Mal perdu ist. Und die Literaturkritik-Debatte im Perlentaucher war 2015.

Heute wird das Bild, das sich das lesende Publikum von Büchern macht, im wesentlichen von Intermediären wie den Suchmaschinen oder den Sozialen Netzwerken bestimmt, von dem, was man halt so findet. Die Feuilletons gibt es noch, aber sie haben genauso an Bedeutung eingebüßt wie alles übrige, was die Zeitungsverlage so hervorbringen. Wie bei jedem schweren Tanker gibt es auch hier einen langen Bremsweg.

Die Top 10 der nicht zuende gelesenen Romane

Der französische Radiosender France Culture hat seine Hörer auf den sozialen Netzwerken gefragt, welche Bücher sie nie zuende gelesen hätten. Über 3000 Antworten seien eingegangen. Das Ergebnis wurde im Oktober in Form einer Top-10-Liste veröffentlicht:

  1. Ulysses von James Joyce
  2. Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell
  3. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust
  4. Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien
  5. Die Schöne des Herrn von Albert Cohen
  6. Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil
  7. Rot und Schwarz von Stendhal
  8. Madame Bovary von Gustave Flaubert
  9. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez
  10. Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline

Combis-Schlumberger, Hélène. 2017. Top 10 des livres que vous n’avez jamais réussi à finir. France Culture. 6. Oktober. www.franceculture.fr (zugegriffen: 5. November 2017).

Handkes Tagebücher

Hat er als „Vorlass“ ins Literaturarchiv Marbach gegeben.

„Ich war nie in Versuchung, private Dinge aufzuschreiben“, sagt er. Dafür gewinnt man Einblick in das Intimleben der Sprache. An einer Stelle werden Verben bestimmten Substantiven zugesellt. Ein Verb für die Frau: „sie versteht“; ein Verb für die Musik Bachs: „das Zeitmaß geben“, ein Verb für die Erzählung: „sie greift ein“.

66 Hefte wurden schon in Marbach aufbewahrt; sie zählen zu den am häufigsten benutzten Beständen des Archivs. Insgesamt sind es jetzt 217.

Alles bleibt in Bewegung, nichts ist in diesem schönen Durcheinander fest, auch die Begeisterung für das Tagebuch als solches nicht.

Auch er, ein Blogger.

Kister, Stefan. 2017. Peter Handke in Marbach: Gesammelte Sternschnuppen. stuttgarter-zeitung.de. 19. Oktober. www.stuttgarter-zeitung.de (zugegriffen: 21. Oktober 2017). – via zkbw.

Neu beim Project Gutenberg: Ocean Steamships

Das Buch, bekannt aus dem Zauberberg von Thomas Mann, ist seit heute auf Project Gutenberg verfügbar. Dank an Chris Curnow, Brian Wilcox and the Online Distributed Proofreading Team.

Büchermarkt II

Diese Woche ist bekannt geworden, daß das Kultur- und das Jugendprogramm ab April 2017 neue Namen erhalten sollen: Deutschlandradio Kultur wird zu Deutschlandfunk Kultur und DRadio Wissen wird zu Deutschlandfunk Nova.

Der Namenswechsel kostet eine Million Euro. Wissen Sie, das alte Briefpapier wird aufgebraucht und die alten Visitenkarten werden aufgebraucht, die sowieso alle paar Monate erneuert werden müssen. Aber das ist dann Normalgeschäft. Beides sind zudem wohl ziemlich unschöne Namen. Hinzu kommt die offizielle Begründung: Der Deutschlandfunk sei bekannter als das Deutschlandradio, deshalb sei es besser, die anderen Programme umzubenennen, dann würden sie auch von mehr Hörern eingeschaltet. Das ist nicht nachvollziehbar, angesichts des dort gleichzeitig erwähnten Zuwachses bei Deutschlandradio Kultur.

Eine Verschiebung der Kultur vom DLF zum Kulturkanal hat der Intendant Willi Steul in dem heutigen Gespräch dementiert. Trotzdem erscheint der Weggang Denis Schecks zum SWR in einem neuen Licht. Es wird wohl doch noch Pläne zum Umbau bei der Kultur geben. Einer wie Scheck gibt so eine Stelle nicht ohne Not auf.

Büchermarkt

Denis Schecks Weggang beim Deutschlandfunk hat der Sendung Büchermarkt gut getan. Sein Nachfolger Jan Drees, der mir bisher vor allem als einer der wenigen lesenswerteren Literaturblogger aufgefallen war, macht ernst und bringt die Indie-Szene ins Feuilleton: Joshua Groß' Faunenschnitt aus dem Fürther Verlag Starfruit Publications wurde gerade von Christoph Schröder besprochen. Und von Wolfgang Herrndorfs Tschick gibts jetzt eine Verfilmung: Ob sie auch für Leser von Interesse sei (Besprechung von Maik Brüggemeyer)? Der DLF wird nun also doch etwas lebendiger. Es könnte sich lohnen, den Podcast der Sendung zu verfolgen.

Sic transit gloria mono

Nur noch 60 Tage bis zur Buchmesse! meldet mir die Propaganda derselben. Die jährliche Bestandsaufnahme, the annual jamboree steht wieder bevor im Oktober. Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten. Wie ist es also bestellt um die Verlage und das ganze Drumherum?

In der Arno-Schmidt-Mailingliste sickerte gerade durch, daß die traditionsreiche Reihe der rororo-Monographien ziemlich unbemerkt eingestellt worden sei. Was bleibt, sind demnach Restbestände.

Es war eigentlich absehbar, daß die monos irgendwann ganz verschwinden werden, denn unsere Bibliotheken bieten uns so viele biographische und literarische Informationen online, daß es eigentlich keinen Grund mehr gibt, sich noch eine mono zuzulegen. Sie liefen auch in den Bibliotheken nicht mehr gut, unsere Stadtbibliothek hat sie zunehmend ausgemuster. Vor etwa acht Jahren (?) verschwanden sie aus den Frankfurter Buchhandlungen, vor etwa zwei Jahren auch aus den Bahnhofsbuchhandlungen.

Der Verlag denke über eine Verwertung als E-Book nach, hört man. Aber ohne Bilder. rororo-monos ohne Bilder. Die mono als ein unbebildertes E-Book bliebe nicht nur weit hinter dem zurück, was technisch seit geraumer Zeit schon mit EPUB3 möglich wäre, es wäre auch sonst eine Bankrotterklärung, denn an die Stelle einer ordentlichen Backlist träte damit eine bloße Resteverwertung, ein digitaler Ramschtisch, der nach allem, was ich gerade aus der Diskussion der letzten Tage entnommen habe, zudem noch ganz lieblos bereitet würde.

Denn die monos waren aus drei Gründen attraktiv: Sie waren sorgfältig recherchiert (von Autoren, die ihr Sujet beherrschten), gut und interessant bebildert und zudem angenehm zu lesen. Wenn eines dieser Elemente wegfiele (die Bebilderung), ist fraglich, ob der reine Text noch trägt. Ich fürchte, nein. Ich verstehe auch nicht, warum man die Bildrechte nicht für das E-Book erwirbt und damit ein funktionierendes Konzept zerstört. Munzinger und Brockhaus und Kindler sind – zumindest bei uns im Rhein-Main-Gebiet – online allgemein verfügbar. Und den Rest besorgt Wikipedia: it’s free. And free trumps quality all the time.

Die Verlage haben den Schlag noch nicht gehört. Sie müssen sich schon etwas einfallen lassen, wenn sie weiterhin für Autoren attraktiv bleiben wollen. Sie haben die Gatekeeper-Rolle schon lange verloren. Ich glaube, das ist den meisten Verlegern noch gar nicht bewußt geworden. Wenn ich die Wahl habe, gehe ich doch schon heute den Weg über den Selbstverlag. Und in diesem Fall: Ohne Bilder kann jeder. Ob man damit etwas einnimmt, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Und was die Herstellung angeht: Mit Pandoc ist es nun wirklich kein Hexenwerk mehr, einen Text in viele verschiedene Zielformate zu konvertieren. Dazu braucht man weder einen Mediengestalter noch eines der völlig überteuerten Adobe-Programme. Entsprechende Dienstleister bieten schon seit langem auch Lösungen auf Basis von XSL/XML/LaTeX an. Wer näheres erfahren möchte, möge sich auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober mal in der Halle 4.2 umtun und die Vorträge besuchen.

Entdeckung hinter dem Haus XV

Früher gab es bei uns in der Stadt drei Buchhandlungen und eine ganze Reihe weiterer Geschäfte, die ebenfalls ein kleines Angebot an Büchern vorhielten – meist waren es kleine Schreibwaren- oder Spielzeuggeschäfte. Eine Buchhandlung war auf der Hauptstraße gelegen. Es gibt sie noch heute, nach einem Umzug ist sie sogar etwas günstiger zu erreichen als damals. Eine der beiden Buchhandlungen im Einkaufszentrum schloß vor langer Zeit schon. „Wenn ich wieder eröffne, schreie ich“, schrieb der Buchhändler damals auf einen Karton, den er zum Abschied hinter die Fensterscheibe geklebt hatte. Die andere Buchhandlung wechselte den Besitzer. Erst wurde die Kette moderner ausgestattet, man ging in die Fläche, vergrößerte das Angebot. Dann wurde der Laden übernommen von einem noch größeren Händler. Dann von einem noch viel größeren, der später aber ebenfalls in eine Krise kam, die mittlerweile überwunden scheint. Dann wurde das Einkaufszentrum umgebaut; der Laden zog damals in einen anderen Teil des Zentrums, später wechselte wieder der Name des Geschäfts.

Ich kam schon längere Zeit nicht mehr dort vorbei. Aber heute nachmittag mal wieder. Und, siehe da, der Laden war erneut umgezogen, diesmal hatte man sich verkleinert, gleich nebenan zu finden, ungefähr ein viertel des bisherigen Sortiments und der dazu erforderlichen Fläche. So klein wie noch nie. Die Aufteilung des Angebots: Am Eingang die Spiegel-Bestsellerliste und ein Tisch mit billigen Mängelexemplaren, dann ging es weiter mit „Spannung“, Kinderbüchern, Kochen und Lebensberatung, Sachbuch, in der Mitte ein paar CDs mit Hörbüchern und ein paar Geschenkartikel, die mit Büchern überhaupt nichts zu tun haben. Auf ein paar Sesseln saßen ein paar Leute, die etwas lustlos in Bildbänden blätterten. Nebenan quengelte ein Kind an der Hand seiner Oma. Ich fand nichts, was auf mein Interesse gestoßen wäre, und verließ das Geschäft wieder. Beim Hinausgehen fällt mein Blick am Eingang seitlich auf ein Schild mit dem Hinweis, „im Internet“ gebe es noch viel mehr Bücher zu kaufen, und zwar rund um die Uhr und unter derselben Marke, mit der nun auch dieser Laden versehen ist. Wehwehweh.

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