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Der Wanderer LXXIV

Ich höre alte Podcasts aus dem Archiv, und es ist toll, wie weit die Geschichte der Podcasts nun schon zurückreicht. Vor allem Literaturpodcasts sind immer noch hörenswert. Ich lese sowieso nur selten belletristische Neuerscheinungen, da kommt mir das Gespräch über die Bücher von gestern gut gelegen.

Empfehlung: Mein Freund der Baum mit Andrea Frey und Andreas Baum. Ich lasse ihre Gespräche stundenlang laufen, ohne Pause. Wenn ich wieder ins Zimmer komme, unterhalten sie sich immer noch, scheinbar unermüdbar. Ich habe selten so viel Vernünftiges über Literatur gehört wie hier. Gleichzeitig scheinen auch immer mal wieder schon zeithistorische Bezüge durch. Das Archiv geht immerhin zurück bis 2013, im Februar gibts das Format nun schon zehn Jahre (ebenso lang, übrigens, wie dieses Blog). Wie geschaffen für diese freien Winterwochen daheim. Und es erinnert mich auch daran, dass ich meine private Bibliothek endlich mal aufräumen müsste.

Ja, da gibts auch noch gedruckte Bücher. Wobei mein digitaler Bestand immer mehr wächst. Die Arbeit am E-Book die letzten Jahre hat meinen Bezug zu Büchern verändert. Ich bin mürbe geworden. Mittlerweile bin ich auch bereit, für E-Books Geld zu zahlen, solange sie kein DRM haben. Klassiker aber, wenn es geht, aus dem Project Gutenberg. Kurze Texte eher als längere. Sach- und Fachtexte eher als künstlerische. Der Umgang mit Literatur hat sich verändert. Und das hatten Frey und Baum schon zehn Jahre lang immer wieder reflektiert, auch das ist schön nochmal nachzuhören.

Ich hoffe, die beiden machen weiter und besprechen demnächst mal wieder ein paar Titel. Darunter auch meistens ein Buch, das beide nicht vorher gelesen haben. Allein dafür muss man einfach zuhören. Und für die Zeit bis zur nächsten Folge gibts das Archiv.

Der Wanderer LXXI

Ich blogge seit fast 14 Jahren, aber es ist ziemlich viel passiert in der letzten Zeit, worüber ich nicht geschrieben hatte. Vieles, was mich tiefer beschäftigt hatte, eignete sich einfach nicht zur Veröffentlichung. Manches war vertraulich, manches war zu persönlich oder es hätte sonst zu sehr die Interessen anderer betroffen, so dass es nicht möglich war, es in die Öffentlichkeit zu tragen. Zumal in ein Internet, das zwar nicht nichts vergisst, aber eben doch auch einiges behält. Man weiß bloß nicht vorab, was von dem vielen.

Nach einer so langen Zeit, in der ich mich recht umfangreich öffentlich mitgeteilt und an so vielen Diskussionen beteiligt hatte, war es aber auch einmal gut, sich zurückzunehmen und eine Weile eher ins Off zu gehen. Es fühlte sich passender an, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Auch im Nachhinein bestätigt sich der Eindruck, dass es die richtige Entscheidung war innezuhalten.

Also neu ansetzen, aber ganz von vorne, das geht ja gar nicht.

Ich befinde mich in einer Übergangsphase, die schon einen langen Moment andauert, mehrere Jahre schon. Ich achte auf den Kairos, den glücklichen Moment, in dem etwas Neues anfangen kann, anfangen darf und soll, damit es gut wird, damit es sich stimmig anfühlt.

Gelernt habe ich in diesem Jahr, dass nicht gut werden kann, was von Anfang an vergiftet ist, was unpassend ist. Was nicht zusammenpasst, kann man nicht zurechtstutzen. Zweimal abgeschnitten, und immer noch zu kurz. Daraus entsteht keine glückliche Gestalt.

Als Konstante hat sich ein Mantra erwiesen:

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Der Soziologe Stephan Lessenich hatte in seinem Buch „Nicht mehr normal“ gerade einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert. Er schrieb auf S. 37:

Genau das ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland heute: eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist und der die Trägergruppen des Normalen abhandenkommen. Eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt.

Ob es sich dabei schließlich um

Eine Gesellschaft – am Rande des Nervenzusammenbruchs

handelt, mag jede/r für sich beurteilen.

Jedenfalls wird es seit etwa fünf Jahren immer deutlicher. Es begann schon vor Corona. Genaugenommen war Corona schon lange vor Corona. Die alten Strukturen, die alten Verlässlichkeiten gelten nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch eine Gewissheit: Dass etwas bei der nächsten Begegnung, beim nächsten Anlass nicht mehr so sein wird, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Deshalb muss man sich ständig neu orientieren. Man befindet sich dauerhaft auf der Suche. Darauf muss man sich einstellen.

Alles bleibt anders.

Davon wäre zu sprechen.

Nehmen wir mal das Internet. Das ist nämlich schon sehr lange nicht mehr mein Internet. Es ist nicht mehr das Internet, wie wir es kannten. Die Dimension der Zeitlichkeit ist hinzu gekommen. Zu viele zu liebe Menschen fehlen mittlerweile darin, für immer. Wikipedianer, aber auch Blogger, Netzmenschen wie ich, die für immer gegangen sind und die ganz sicher im Himmel auf uns warten, wenn es einen gibt. Daran will ich einfach glauben.

Sind wir eine „Lost generation“? Der Begriff wurde von Gertrude Stein geprägt und stammt aus der Umbruchzeit des Ersten Weltkriegs.

You are a lost generation

sagte sie über die damals gerade volljährig gewordene Schriftstellergeneration. Das ist eine unbefriedigende Konstruktion, aber sie ist auch nicht ganz abwegig, denn was könnten wir – jetzt einmal unabhängig vom Lebensalter – gewinnen? Jedenfalls würde es eine Weile dauern, bis es einträte.

Viel Grundlegendes gibt es also auch weiterhin zu erörtern. Und ich werde mich in der nächsten Zeit wieder mehr im Blog dazu äußern und versuchen, unter den geänderten Bedingungen zu reflektieren. So wie früher, also? Freilich nicht ganz. Vielleicht aber ähnlich.

Langstrecke

Man merkt, dass man älter wird, wenn die Blogs, die man liest, bei den Goldenen Bloggern 2022 in der Kategorie Langstrecke nominiert worden sind:

Herzlichen Glückwunsch! Ich drücke euch allen drei die Daumen! Wenn auch nur eine/r gewinnen kann. Aber warum kann eigentlich nur eine/r gewinnen? Verdient hättet ihr die Auszeichnung alle!

Die Preisverleihung soll am 4. April in Berlin stattfinden.

PS. Ja, ich weiß, dass rivva eigentlich „nur“ ein Nachrichtenaggregator ist…

Der Wanderer LXX

2021 war das Jahr der nicht geposteten Blogbeiträge. Ich weiß nicht mehr, wie viele Texte ich mir ausgedacht, zumindest in Gedanken entworfen, tatsächlich begonnen, geschrieben, abgebrochen, dann doch fortgesetzt, sogar ins Blog übertragen, dann wieder verworfen oder sogar gepostet und wieder gelöscht hatte. Es waren nicht wenige. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Jedenfalls waren es zu viele.

Aus Gründen. Mein Feedreader sagt, es sei nicht nur mir so gegangen. Einige machen mehr oder weniger weiter wie früher. Aber auch bei ihnen merkt man, dass sich etwas verändert hat. Die Rückblicke fallen aus in dieser Saison. Und die Ausblicke mag sich keiner ausmalen. Die Gereiztheit bleibt. Das Umfeld lädt nicht zur Meinungsäußerung ein.

Ich mochte meistens lieber nicht.

Der Wanderer LXIX

In unserem Ort gibt es zwei lokale Zeitungen, die einmal pro Woche an alle Haushalte verteilt werden. Sie finanzieren sich durch Werbung. Eine der beiden Zeitungen hat jetzt angekündigt, sie werde bald nicht mehr erscheinen. Das Blatt sei schon seit mehreren Jahren nicht mehr rentabel. Wegen der coronabedingten Lockdowns seien viele Werbeinnahmen weggefallen. Und nun stiegen auch noch die Vertriebskosten und der Papierpreis. Deshalb habe man sich entschlossen, die gedruckte Zeitung ganz einzustellen. Ein Onlineportal behalte man bei. Es erschließt sich aber nicht, ob es dafür auch in Zukunft eine Redaktion geben wird oder ob dort nur Anzeigen veröffentlicht werden und wie man von diesen wiederum erfahren wird können: Durch einen Newsletter oder – man wagt es kaum zu fragen – durch einen RSS-Feed? Oder verlässt man sich ausschließlich auf Suchmaschinen- und Social-Media-Marketing? In der Hoffnung, dass die Flaschenpost schon irgendwie ankommen werde? Ob das den Werbekunden ausreichen wird oder ob sie sich nicht so eher ein anderes Outlet suchen werden?

Ich erinnere mich an eine Diskussion auf der Mailingliste Nettime, vor so langer Zeit, dass ich nur vage sagen kann: Es war wohl vor etwa zehn Jahren. Jedenfalls nach den Finanzkrisen. Vielleicht war es auch auf der Mailingliste Futureculture, die es schon seit ein paar Jahren nicht mehr gibt. Jedenfalls erzählte uns damals ein Amerikaner aus der Provinz, wie es bei ihnen zur Einstellung fast aller gedruckter Zeitungen gekommen sei. Vorher schon im Besitz ganz weniger Familien, ganz ähnlich wie in dem Bonmot, wonach die Pressefreiheit nichts anderes sei als die Freiheit fünf reicher älterer Männer, ihre Ansichten frei mitteilen zu können und damit auch noch Einnahmen zu erzielen. Dann sei das Internet gekommen, und die Werbung sei nicht mehr in Print geflossen, sondern in die Sozialen Netzwerke und die Suchmaschinen und so weiter, und die Leute hätten alles umsonst lesen wollen. So dass immer weniger Zeitungen verkauft worden seien. Man habe dann die Redaktionen zusammengelegt, weshalb sich die Inhalte der verbliebenen Zeitungen immer weniger voneinander unterschieden hätten. Und am Ende habe es nur noch am Wochenende gedruckte Ausgaben gegeben. Und vielleicht auch das mittlerweile nicht einmal mehr.

Die Geschichte der Zeitungskrise ist bekannt. Aber erst jetzt ist sie auch bei uns soweit angekommen, dass auch die Lokalzeitungen nicht mehr funktionieren. Der Umstieg von Print auf Online geht im lokalen Bereich auch nicht so richtig voran. Wo sind sie denn, die lokalen Ersatzangebote? Siehe oben.

Hinzu kommt das mittlerweile problematische, um nicht zu sagen giftige Umfeld im Netz. Als wir das alles begannen, waren wir kritisch, und uns lag viel an Aufklärung und Austausch und Vernetzung untereinander. Wir waren aktivistisch. Und wir waren auch immer die Guten. Wo wir waren, gab es keine Bösen. Das ist vorbei. Die Bösen sind jetzt auch immer schon da, ganz gleich, wo man hinkommt. Und man muss ständig mit ihnen rechnen. Und manchmal sind es gerade die Besten, die böse werden. Und alles ist persönlich geworden.

Es geht nicht mehr ums Thema, sondern immer um die Person. Und es gibt keinen kleinsten gemeinsamen Nenner mehr. Alle sind sich uneins, alle haben beschlossen, Recht zu haben, keiner zieht in Betracht, er könnte sich auch einmal geirrt haben, und der andere ist immer im Unrecht.

Überall stehen Fettnäpfchen herum, um die man Slalom laufen muss, aber mit verbundenen Augen im Dunkeln und im Nebel auf abschüssiger Piste im Sturm und ohne Skistöcke.

So dass die Öffentlichkeit als Diskursraum kaum noch funktioniert. Deliberative Verfahren kann man mittlerweile eigentlich vergessen. Die Nerven liegen blank. Spätestens seit Anfang 2020, aber das war nur noch der letzte Anstoß zu einer schon länger laufenden Entwicklung. Man zieht sich in immer kleinere und engere private Räume zurück. Das digitale Biedermeier kam. Manche hielten es für modern, es war und ist aber reaktionär. Vor allem kann es die Öffentlichkeit, wie wir sie einmal gestaltet hatten, als einen Raum für gesellschaftliche Aushandlungs- und Verbesserungsprozesse, nicht ersetzen.

Meine These wäre: Es ist nicht nur das Ende der Zeitungen, wie wir sie kannten. Es ist auch eine Art Post-2.0-Zeit, in der wir uns derzeit befinden. So wie die Postmoderne der Moderne folgte, folgt das Post-2.0 oder das Postinternet oder das Post-Web dem Web 2.0 als der ersten Phase von Vernetzung und digitalem gesellschaftlichem Aufbruch.

Blogs sind vom Motor der damaligen Bewegung zu einem Fremdkörper geworden. Unzeitgemäße Erscheinungen, die meisten Jüngeren werden sie gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie es nicht bis in ihre Filterblase schaffen, und wenn sie darauf stoßen, werden sie sich vielleicht fragen, warum das Webdesign auf ihrem Smartphone nicht richtig funktioniert. Und die Texte sind viel zu lang und zuwenige Bilder und so weiter.

Über diese Entwicklung kann man nicht richten, man kann sie nicht abschließend beurteilen, man kann sich nur ratlos davor stellen. Und natürlich weiterbloggen.

Der Wanderer LXVIII

Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.

Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.

Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?

Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.

Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)

Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:

Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!

Der Wanderer LXVII

„Die Formel, die ich wählen würde, wäre: Wir müssen rückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Und das scheint mir genau das Problem zu sein. Es gibt Rückkehr, und wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn man ganz ehrlich ist, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität ist, die auch andere Vulnerabilitäten mit sich bringt, andere Aufmerksamkeiten nötig macht. Auch ein neues Verständnis des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Also, was bei allen Pandemien in der Weltgeschichte so war: Die haben immer zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt. Davor stehen wir auch, vor diesem Problem, jetzt wieder. Und das ist total interessant, und ich stimme Ihnen zu, dass die politischen Anbieter dieses Problem noch nicht richtig verstehen.“ (Heinz Bude im taz Talk am 9. Juli 2021).

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Es gibt kein Zurück. Es geht nur vorwärts. Bei disruptiven Entwicklungen gibt es keine Wiederholungen mehr. Es entstehen unwirkliche Zwischenräume: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue funktioniert noch nicht.

Nehmen wir die Entwicklung im Verlagsbereich. Blicken wir zurück. Den Umbruch zu einem öffentlich verpflichtenden Open Access. Der Wissenschaftsfreiheit war Genüge getan, weil eine Print-Veröffentlichung immer noch möglich blieb. Alles gut.

In den Bibliotheken voller Bleiwüsten zwischen Buchdeckeln, in denen wir noch studiert hatten, schien das letzte Abendglimmen einer untergehenden Verlagslandschaft noch einmal kurz auf, und wir waren am Ende tatsächlich die letzte Generation, für die das noch dazugehört hatte: Die Bücherwelt, bevölkert mit Büchermenschen wie wir.

Als die Bücher lastwagenweise angeliefert wurden. Kartonweise. Palettenweise. Am Anfang hatte es noch etwas Beruhigendes. Als sie die Regale füllten in einem steten Strom, der nie zu enden schien, der aber schließlich dann doch versiegte. Das gedruckte Buch gab es seitdem nur noch zum vertieften Studium – oder als Coffee Table Book, weil es so schön war. In Einzelanfertigung, auf Anfrage.

Zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren.

Es dauerte keine zwei Jahre mehr, bis die Magazine abgebaut waren, weil sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Umstellung ging am Ende schneller als man je gedacht hätte. Und die Studenten waren sowieso schon seit mehreren Generationen daran gewöhnt, ihre Zeitschriften online zu lesen. Erst auf dem Laptop, später auf dem iPad. Der Übergang verlief ziemlich geräuschlos, denn das Geschäftsmodell Zeitschrift funktionierte ja auch schon lange nicht mehr. Erst gab es zu den Print-Abos die Online-Fassung dazu, später war es umgekehrt, schließlich fiel Print ganz weg, schließlich die Zeitschrift.

Die Älteren erinnerten sich noch an das Blättern in gedruckten Büchern, die Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer Erhaltung – wie sie aufzustellen wären, wie sie zu greifen wären, damit sie möglichst langsam verschleißten. Nach Größe sortiert ins Magazin gestellt. Überhaupt: Magazine. Speicherplatz ist billig.

Was blieb, war der reine Content. Der bloße Text auf dem Bildschirm, flüchtig und austauschbar und seelenlos und leer. Und diese Leere übertrug sich beim Lesen und erfüllte uns schließlich ganz. Etwas fehlte.

Ein Ort, an dem wir noch nicht waren.

Wir kamen dorthin, ziemlich unbemerkt. Plötzlich fanden wir uns in einer ganz anderen Gegend wieder, fast wie in einem Roman von Ror Wolf. Kaum Widerstand, nur wenige wünschten sich in die alte Welt zurück. Als die Pandemie begann, waren wir genaugenommen schon lange an dem neuen Ort, aber erst damals merkten wir es so richtig, wir mussten uns nur noch darin zurechtfinden.

Als die Bibliotheken schlossen und nur noch E-Books und E-Journals und Dokumentenserver verblieben: Fehlte uns eigentlich nichts. Als die Pandemie Lücken in den Printbestand riss: Merkten es nur wenige. Denn die Bibliothek war längst schon überall, wo man Zugriff auf ihre digitalen Bestände hatte. Also überall. Und eine Bibliothek, die nicht überall war, war nirgends. War gar nicht. Es gab sie gar nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Als der alte Raum nicht mehr passte, entstand ein neuer Rahmen. Und es galt, das Neue im Neuen zu finden und von nun an zum Ausgangspunkt zu machen für alles, was folgte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren, war der Ort, von dem nun alles weitere seinen Gang nahm.

Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz

Es ist jetzt der zweite Durchgang des Bachmannpreises, den ich beruflich bedingt nicht live verfolgen konnte, und am Ende schaut man sich die Videos dann ja doch nicht mehr alle an. Man sucht Zuflucht bei den Zusammenfassungen in den Feuilletons oder beim Literaraturcafé-Podcast, wo Andrea Diener und Wolfgang Tischer auch in diesem Jahr tapfer nacherzählen, was passiert war. Andrea trotz Impfung in ihrer mollig warmen Frankfurter Dachgeschosswohnung, und Wolfgang dieses Jahr getestet vor Ort in Klagenfurt, wo sich die Getesteten, Geimpften und Genesenen beim Public Viewing in der Hitze trafen.

Risikogruppe, anyone? Der gerade verrentete Hubert Winkels ließ sich für seine Rede zur Literaturkritik aus der Ferne zuschalten. Und die Jury kam diesmal im Studio zusammen, nur die Schriftsteller wurden per ORF-iPad hinzugeholt. Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz und lokal. Sie nannten es „hybrid“. Vielleicht tut man sich dann leichter, in die Ferne hinaus auszuteilen?

Heike Geißler ließ jedenfalls ihrem Unmut über die teils ganz offen dilettantische Performance einiger Jurymitglieder im Deutschlandfunk Kultur freien Lauf – und ging danach natürlich bei den Preisen leer aus. Klar.

Ganz knapp gehaltene Berichterstattung in der taz, von einer Autorin, die nicht vom Fach ist, sich aber Mühe gibt, den dünnen Wettbewerb auf den Punkt zu bringen, was ihr am Ende auch gut gelingt:

In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „… manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an einem bereits feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild für Gegenwartsliteratur gefunden.

Übrigens lag ich mit meiner Prognose völlig daneben. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte.

Eigentlich nicht

Es war ein langes, erwägendes Gespräch, das Serdar Somuncu heute in der Blauen Stunde auf radioeins mit Martin Werthmann geführt hat. Kunst als Alltag, Kunst als Sprache, als die maßgebliche Beziehung zur Welt. Und dann die Frage:

Kannst du mit deiner Kunst auch lügen?

Eigentlich nicht. Oder doch?

Natürlich führt uns das zu einer weiteren Frage:

Kann ich mit meinem Blog auch lügen?

Eigentlich nicht.

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