Noch lange nicht vorbei
The revolution will not be televised. – Doch, sie wird live gestreamt. Die BBC öffnete vergangene Nacht sogar den Stream für ihr Fernsehprogramm auf ihrer Website für alle. Und so konnte man am frühen Morgen, als sich schon abzeichnete, daß leave in dem First-past-the-post-Wahlsystem mehr Stimmen erhalten würde als remain, mitverfolgen, wie ein konservativer Abgeordneter erklärte, was da eigentlich passiert sei. Immer mehr Briten hätten sich gefragt, so meinte er, „wofür man eigentlich im letzten Krieg gestorben sei“. Jedenfalls wolle man nicht fremdbestimmt werden, nicht nur nicht aus Brüssel, sondern überhaupt, und schon gar nicht von den Deutschen. Das wollte er am Ende dann doch noch einmal sagen. Es war sein letzter Satz, dann endete das Interview morgens um drei Uhr – seiner Zeit.
Damit ginge demnach auch die Nachkriegszeit endgültig zuende. Daran hatten wir gar nicht mehr gedacht. Der Versuch, Europa zusammenzuschließen und die Grenzen zu überwinden im Wege einer immer engeren Rechtsgemeinschaft, er endet hier nun wirklich. Was sich vergangenes Jahr schon abgezeichnet hatte, als Deutschland und Österreich mit der Aufnahme der Flüchtlinge von den anderen EU-Staaten alleingelassen worden waren. Euer Problem, nicht unseres. Gibt es überhaupt noch ein Wir? Der Versuch, das und anstelle des oder zu setzen, wie Ulrich Beck es 1993 in der Erfindung des Politischen genannt hatte. Offenheit, Liberalität. Durchaus auch die Kultur der Digitalität, wie Felix Stalder den gegenwärtigen Zustand nennt. Das alles endet doch nun in einer Abstimmung, die letztlich doch sehr knapp ausgegangen war: 51,3 zu 48,7 Prozent, das ist keine wirkliche Mehrheit. Das legt eher die Frage nahe, ob zu der 50-Prozent-Grenze bei solchen Voten nicht doch auch ein Mindestabstand der Mehrheit über die Minderheit zu fordern wäre, damit sie legitimerweise über die Minderheit obsiegen könne? Immerhin: Auch die Zeit der deutlichen Mehrheiten ist vorbei, das gilt nicht nur für Großbritannien.
Der nationalistische Rechtsruck überall derzeit ist ein einziger großer Reflex gegen die Moderne, aber auch gegen das Kapital, gegen die neoliberale und globalisierende Strömung, die eben auch damals in den 1990er Jahren eingesetzt hatte.
Die Börse zu betrachten, ist langweilig, immer. Interessant wird dagegen zu beobachten sein, wie sich der Brexit auf die Stellung der englischen Sprache in Europa auswirken wird, ob nun andere Sprachen wichtiger werden, wenn nicht mehr überall ein Engländer mit drinsitzt. Ob die Europäische Union wieder frankophiler, romanischer wird?
Heute vor 83 Jahren fand in Neu-Isenburg eine Bücherverbrennung statt, und es sind Gedenkveranstaltungen angekündigt worden, um sich daran zu erinnern. Am 24. Juni 1933 brannten auf dem Wilhelmsplatz Bücher. Man dachte, es wäre vorüber, aber das ist alles noch lange nicht vorbei.