Der Wanderer LXIII
Müde laufe ich durch die Stadt. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt, dass die Wärme der Sonne dagegen nicht ankommt. Die Winterjacke ist noch zu warm, aber die Sommerjacke zu dünn. Es passt nicht.
Als ich hier das letzte Mal vorbeikam, blühte noch der Ginster. Jetzt sind die Sträucher grün geworden. Aber die Werbung an der Litfaßsäule ist immer noch die gleiche. Vom Februar. Vom Februar vor einem Jahr. Vor einem Jahr, als das alles begann. Als die Geschäfte zum ersten Mal geschlossen wurden. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die digitale Bohème flächendeckend wurde und Homeoffice hieß, jetzt, wo sie bieder geworden war und für alle.
Zuhause bleiben und in den Computer tippen und alles über Video, wie früher in meinem alten Leben auch schon, aber für die anderen war das ganz neu. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die Sonne schien, als ginge es um ihr Leben. Als die Sonne schien, als würde das niemals enden. Als der Ginster blühte. Als die Bäume wieder grün wurden. Als es noch kalt war, aber die Sonne wurde immer wärmer.
Und jetzt ist es wieder Mai, und ich laufe müde durch die Stadt. Aber anders als damals.
Der Laden dort hat schon seit einem Jahr geschlossen. Jetzt haben sie Zeitungspapier hinter das Schaufenster geklebt. Haben sie es überhaupt geklebt, oder warum sieht man keine Spuren von Klebstoff an der Fensterscheibe?
Vor einem Jahr hatte die Sonne auch so geschienen, aber dieses Jahr gibt es immer wieder Regen. Und abends heizt man, sonst ist es zu kühl ohne die Heizung. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt. Und es regnet immer wieder. Immer noch die Winterjacke, wenn auch ohne Fleece.
Merkst du, tagsüber sind viel mehr jüngere Leute unterwegs, die wären früher alle in Büros gewesen. Untergebracht und weggeschlossen, gleichwohl offen. Heute gehen sie spazieren, wenn die Sonne scheint, auch unter der Woche. Gehen sie zum Bäcker, zum Einkaufen, wenn sie Pausen machen von der digitalen Bohème, die sie jetzt Homeoffice nennen, damit es nicht so auffällt. Eine Bohème mit Sozialversicherung. Mit Wumms, haben sie gesagt. Mit Wumms aus der Krise, haben sie gesagt. Dass die sich nicht schämen.
Der Bäcker da drüben hat schon länger geschlossen. Es lohnt sich nicht mehr, weil sie keinen Kaffee to go mehr verkaufen morgens. So früh ist kaum noch einer unterwegs morgens. Sie machen sich den Kaffee jetzt selbst daheim, bevor sie sich an ihre Computer setzen. Vom Bett ins Wohnzimmer an den Schreibtisch an den Computer, dazwischen liegt das Bad, liegt die Küche, der Kaffee, das Frühstück, der Wasserkocher, der Kühlschrank und die Waschmaschine. Und abends wieder retour.
Es ist Ende Mai, und der Wind ist kalt. Die Impfreaktion mache einen müde, sagen sie. Mache Kopfweh, sagen sie. Der Briefträger auf dem Fahrrad biegt um die Ecke. Sein Korb ist voller Zeitschriften und Büchersendungen. Es wird viel gelesen, sagt die Frau an der Abo-Hotline. Sie hätten so viele Anrufe. Alle sind zuhause, man hat Zeit, es wird telefoniert, das Festnetz, die digitale Bohème hat Zeit zuhause.
Der Friseur da drüben darf wieder aufmachen. Die Haare werden kürzer. Die Maskenpflicht. Die Testpflicht. Die Pflicht ruft.
Manche füttern noch die Vögel. Es ist kalt. Es ist Ende Mai. Die Blaumeisen sind verschwunden, wir haben nur noch Sperlinge und Kohlmeisen und Amseln und Tauben. Und Tauben. Und Tauben.
Wenigstens haben sie die Werbung mit den Osterhasen weggemacht. Die Osterhasen, die sie im Einkaufszentrum verschenken wollten, zu Ostern. Vor einem Jahr. Sie hing bis kurz vor Weihnachten. Und jetzt ist Pfingsten. Das zweite Pfingsten schon, seit alles begann. Aber ich denke immer noch an die goldenen Osterhasen auf den Werbeplakaten.
Die Eisdiele hat wieder aufgemacht. Die Leute stehen im eiskalten Wind in der Sonne und warten darauf, dass sie eine Kugel Eis in einer Waffel bekommen können. Sie halten Abstand zueinander, auf dem Boden in der Fußgängerzone sind Markierungen angebracht worden. Alle tragen Masken, denn hier besteht Maskenpflicht von acht bis zweiundzwanzig Uhr. Die Eisverkäuferin trägt auch eine Maske. Man sieht nicht, ob sie lächelt, wenn sie die gefüllten Waffeln reicht.
Gegenüber der Trödelladen mit dem Schild im Schaufenster: Wenn Sie etwas kaufen möchten, rufen Sie mich an! Die Tür ist abgeschlossen. Ich will nichts kaufen. Es ist kalt. Ich denke an die leere Fensterscheibe und das Zeitungspapier und den Klebstoff. Ich bin müde. Sie sagen, das sei von dem Impfstoff. Das Impfen mache die Leute so müde. Es mache auch Fieber, aber ich habe kein Fieber. Es ist kalt. Der Wind.
Die ersten Blumen brechen durch. Der Frühling ist schon fast vorbei, aber alle tragen immer noch ihre Wintersachen. Im Rewe gibts Erdbeeren aus Holland. Und die Buchhandlung hat jetzt wieder geöffnet, aber nur auf Abruf. Da drüben wird getestet. Gleich zum Mitnehmen. Die Leute warten auf ihr Ergebnis. Es gibt eine Schlange, aber keiner hat es eilig, alle haben Zeit.
Bei der Sparkasse darf man einfach so hineingehen. Vor einem Jahr, als das alles anfing, hatten sie noch einen Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang stehen, der ist jetzt nicht mehr da. Man kann gleich reingehen, wie früher. Alle sind maskiert. Früher wäre man verdächtig gewesen, wenn man maskiert in die Sparkasse gegangen wäre. Heute muss man das tun. Der Elektroladen daneben hat geschlossen. Ein Schild für den Paketboten hängt an der Tür: Wir bauen um, wir sind da, bitte klingeln! Es sieht nur so aus, als wäre alles zu. In Wahrheit ist alles ganz anders.
Müde laufe ich durch die Stadt. Sie sagen, das sei die Impfreaktion. Das gehe bald vorbei. Es dauere nicht mehr lange. The times, they are a'changing, lief vorhin im Radio.
Ich denke an die vielen Ausstellungen. Die ungesehenen Ausstellungen. Die ungesehenen Bilder, Skulpturen. Die ungehörten Konzerte. Die ungesehenen Theateraufführungen. Die nicht ausgeliehenen Bücher. Die Wintersachen aus dem letzten Jahr, die immer noch in den geschlossenen Läden liegen, hängen, stehen. In den Läden, die sie kurz vor Weihnachten zugemacht hatten. Das Geschäft da drüben hatten sie vor einem Monaten geräumt. Auch dort jetzt: Zeitungspapier.
Die Blätter an den Sträuchern sind ganz frisch. Man sieht, wie sich die kleinen, frischen Blättchen auffalten. Wie sie sich zum ersten Mal strecken, wie schön das ist, die frischen kleinen Blättchen an den kahlen Zweigen im kalten hellen Frühlingslicht. Im kalten Wind am frühen Nachmittag.
Es ist Ende Mai. Alle sind maskiert. Ich bin die ganze Zeit über müde. Es passt nicht. Aber ich habe kein Fieber.