„Im Angesicht des Todes“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main
Meine Gedanken kehren immer wieder zu dem Video von Ruth Patir zurück: In My father in the cloud hatte sie den Tod ihres Vaters verarbeitet. Sie beschreibt den künstlerischen Prozess, in dem sie ihn teilweise wieder in Bewegung gebracht hatte. Es brauchte mehrere Anläufe, bis Bewegungen, die sie von sich selbst und ihren Verwandten aufgenommen hatte, so digitalisiert und re-visualisiert werden konnten, dass ein Avatar im Video „tanzte“, wie ihr Vater ihrer Erinnerung nach getanzt hätte. Und am Ende kombinierte sie diese Figur mit ihrem eigenen Avatar und ließ die beiden – noch einmal – gemeinsam tanzen, sich durch die elterliche Wohnung bewegen. Bis sie schließlich allein übrig blieb und sich ihr Avatar von ihrem Vater-Avatar symbolisch lösen konnte. Tanzend zu dem Lied Dancing on my own von Robyn.
Es ist jene Ruth Patir, die sich dieses Jahr weigerte (Paywall), ihr Werk (M)otherland im israelischen Pavilion bei der Biennale in Venedig zu zeigen, solange es keinen Waffenstillstand in Gaza gebe und solange die israelischen Geiseln nicht befreit seien. Die Biennale endet am 24. November, und der Pavilion ist weiterhin geschlossen. Sie traut sich was. Ihr Avatar im Video trägt, wie sie selbst, ein T-Shirt mit der Aufschrift: Abuse of power comes as no surprise.
Das Jüdische Museum Frankfurt am Main zeigt die Arbeit My father in the cloud derzeit in der Ausstellung Im Angesicht des Todes, in der künstlerische Positionen zu Sterben, Tod und Hinterbleiben gezeigt werden, eingebettet in viel Hintergründiges über diese Themen aus jüdischer Sicht vor allem.
Darin ist auch ein Exponat zu sehen, das in Zusammenarbeit mit der Israelischen Nationalbibliothek entstanden war. Auf einem „aufgeschlagenen Buch“ werden Seiten aus dem alten, retrodigitalisierten Memorbuch der Frankfurter Jüdischen Gemeinde projiziert und immer wieder weiter „geblättert“. Das Digitalisat ist, soweit ich sehe, nicht online verfügbar. Es werden aber auch historische und neuere Bücher zum Thema im Original gezeigt.
Die Wahl-Frankfurterin Laura J. Padgett hat den neuen jüdischen Friedhof und die Trauerhalle sowie die dortigen Nebenräume fotografiert. Wie auch alles, was wir hier sehen, bei aller Historizität, ganz in der Gegenwart verortet ist: Hell und sachlich und dokumentarisch wird hier erzählt, das ist fern von aller Romantisierung und Verklärung. Manchmal tut es weh, und manchmal tröstet es.
Die Schau ist so vielfältig komponiert und präsentiert, dass man aus dem reichen Material vieles mitnimmt, das sich erst später – in der Erinnerung – sortiert: Gespräche über das Sterben, Gebete der Trauernden, Darstellungen des Todesengels bis hin zu jüdischem Brauchtum rund um den Tod, Gegenstände aus Beerdigungen, Musik der Trauer. Sogar ein deutscher, ein israelischer und ein amerikanischer Organspendeausweis werden gezeigt. Ebenso erzählen Geistliche von Bestattungen während der Corona-Pandemie. Von den Beschränkungen, den Bedrängungen und der Unmöglichkeit zu trauern und sich von dem Toten zu trennen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Ob das alles so sein musste, ob das überhaupt nötig gewesen wäre, bleibt dabei offen. Eine unbeantwortete Frage, die unausgesprochen über dem Video liegt. Ein doppeltes Un.
Aber am Ende geht man hinaus ins herbstliche Frankfurt. Der Main ist in der Nähe. Und manches, was ich hier zum ersten Mal sah oder erfuhr, klingt noch länger in mir nach. Es ist eine Ausstellung, die gut tut, weil sie so vieles zeigt und ausspricht, was sonst vermieden wird. Es ist aber besser, sich mit dem Tod und mit dem Sterben zu beschäftigen. Der November ist die richtige Zeit dafür.
„Im Angesicht des Todes. Blicke auf das Lebensende“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Katalog im Verlag Hentrich & Hentrich. Noch bis 6. Juli 2025.