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Zwanzig Jahre Wikipedia: Dokumentarfilm auf Arte

Das transnationale Medium Arte beschreibt in einem Dokumentarfilm, der am 5. Januar 2021 im linearen Programm läuft lief, das transnationale Projekt Wikipedia und nimmt dabei eine Position ein, die derjenigen der Wikimedia Foundation beim Blick auf ihre Operationen nicht unähnlich sein dürfte.

Aus den Interviews wurde nicht deutlich, welche der Wikipedianer, die dort gezeigt wurden, denn nun eigentlich je miteinander auf Wikipedia zu tun bekommen hätten. Immerhin zwei aus der deutschsprachigen Wikipedia waren darunter, aber die anderen sprachen jeweils nur über ihre eigene Sprachversion, und diese finden nicht zueinander.

Auf dieser globusdrehenden Metaebene verschwindet auch die Unzufriedenheit der Community an den Verhältnissen vollständig.

Was bleibt, ist ein Dilemma: Wikipedia als mächtiger information hub und zugleich als verletzlicher Gigant in einer Umwelt von Fake News. Viel genutzt, aber bis heute nicht alternativlos.

Die Rolle der Bibliotheken und vor allem der Verlage im Markt der Informationen fehlte ganz. Die Ökonomie der Inhalte, aus denen die Wikipedianer schöpfen, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf Literatur stützen.

Es ist kein kritischer Film.

Lorenza Castella, Jascha Hannover: Das Wikipedia Versprechen. 20 Jahre Wissen für alle? WDR. Deutschland. 2020. Verfügbar in der Arte-Mediathek bis 4. April 2021.

6. Januar 2020: Das Video des Films habe ich nachträglich in den vorstehenden Beitrag eingebettet, nachdem es auf YouTube eingestellt worden war.

Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2019

Nachdem ich letztes Jahr nicht dabei war, diesmal also wieder einmal die Buchmesse. Was hat sich verändert im Vergleich zu früher, wo liegen die Trends?

Die Frankfurter Buchmesse schrumpft. Als ich zum ersten Mal dorthin kam (dazu hatte ich damals noch nicht gebloggt, meine Eindrücke gehen nur bis ins Jahr 2009 zurück), erstreckte sie sich fast über das ganze Messegelände. Die Halle 8, früher ganz in angelsächsischer Hand, war dann schon 2015 aufgegeben worden. Vergangenes Jahr zog das Blaue Sofa von dem Durchgang zwischen Halle 5 und 6 weg und belegt seitdem einen erheblichen Teil der Halle 3.1. Dort war früher der Deutschlandfunk in einer kleinen Insel beheimatet, heute ist es eine Bühne wie bei den großen Zeitungen geworden. Nächstes Jahr sollen dann die Sanierungsarbeiten an den Hallen 5 und 6 weitergehen, und dann reicht bei der geringen Nachfrage die ganz kleine Halle 1, die während meiner Zeit noch nie genutzt worden war, für die Auslagerung völlig aus. Wenn das so weitergeht, hat die ganze Buchmesse in wenigen Jahren bequem in einer Hutschachtel Platz.

Wie wirkt sich das aus? Wo weiland aus- und einladende regelrechte Stand-Landschaften platzgreifend zu sehen waren, traut man seinen Augen nicht. Springer Nature auf etwa einem Drittel der Fläche von früher, DeGruyter noch kleiner. Juris war gar nicht erst da. Google übrigens auch nicht (nach über zehn Jahren, erst für Google Books, dann für Google Play). Aber Scientology – die Geschäfte gehen offenbar gut. Die Bildungsverlage in Halle 4.2 waren nur noch ein Schatten dessen, was es da mal gab. Wikipedia kam dieses Jahr auch nicht mehr, jedenfalls nicht mit einem Stand, Wikipedianer waren natürlich vor Ort, wie man an den hochgeladenen Bildern auf Wikimedia Commons sehen kann. O'Reilly war durchaus da, man denkt an die Buchreihen, schön ausgestattet, aber nur das Online-Learning war gekommen, und nur O'Reilly U.K. „Thank you, I will hand on your card to a colleage.“ Zurück zu Springer Nature: „Reicht Ihnen die Fläche?“ – „Ja, doch.“ Nicht nur weniger Tische für Vertragspartner, auch weniger Standpersonal wird gebraucht. Und es wird auch weniger verschenkt. Keine Papiertüten mehr, sondern nur noch Stoffbeutel. Bleistifte, Kugelschreiber und Blöcke kriegt man am besten beim Rundfunk.

Überhaupt füllen Hörfunk- und Fernsehsender nicht nur frei gebliebene Flächen aus, wo früher Buchverlage ihre Ware feilboten. Sie sorgen auch dafür, dass die Daheimgebliebenen ein Bild von der Messe zu sehen und zu hören bekommen, das mit dem tatsächlichen Geschehen vor Ort nur noch wenig zu tun hat, denn man könnte meinen, es sei alles wie früher, immer noch der Büchermarkt im Deutschlandfunk live von der Frankfurter Buchmesse – ist es aber nicht. Die früher mittleren Stände sind heute kleine, manchmal ganz kleine. Und Langenscheidt und Pons gibts an einem halb gelben, halb grünen Stand zu sehen. Patchwork. Von zwei früher einmal konkurrierenden Verlagen sind nur noch zwei Marken geblieben, die beide Klett gehören und deren zukünftiges Profil ungewiss ist.

Interessant, dass der Internet-Radiosender detektor.fm sich zu seinem zehnjährigen Bestehen auf den eigenen Roll-ups als „Podcast-Radio“ bezeichnet. Vom Podcast wieder zurück zum Livestream? Antizyklisch denken, in Zeiten, in denen der Podcast boomt? Scheint so, verspricht aber auf Nachfrage auch bessere Auffindbarkeit der meist höherwertigen Beiträge im linearen Programm. Am besten laufe der Brand-Eins-Podcast mit einer gerade sechsstelligen Zahl an Abonnenten. Merke: Blogs und Podcasts sind Nische. Aber diese Nische ist so groß, dass mancher Kultursender versunsichert aufblicken dürfte.

Die Gastland-Halle von Norwegen war etwas merkwürdig. Weißer Plastikboden, als wäre es Schnee. Zu zwei Seiten, links und rechts vom Eingang her gesehen, durch riesige Spiegel scheinbar ins Unendliche erweitert, und zentral an der hinteren Wand eine etwas zu große Bühne, auf der Interviews geführt werden. Dazwischen immer wieder kleine Bücher-Inseln, als wären es Kostproben, aber die Stimmung ist viel zu unkonzentriert, als dass man diese Häppchen zu sich nehmen könnte. Man flottiert zwischen diesen Inseln und geht am Ende ungefähr so hinaus, wie man hereingekommen war. Immerhin: An der Theke mit Infomaterial gibt es einen kleinen, aber schön gestalteten Prospekt der norwegischen Nationalbibliothek.

Die Frankfurter Bloggerin und Journalistin Andrea Diener erzählte einmal in einem Podcast von einer Redaktionssitzung bei der FAZ, bei der Marcel Reich-Ranicki über die Buchmesse gesagt haben soll: „Das ist eine Verkaufsveranstaltung, damit habe ich nichts zu tun!“ Deshalb sei sie dann am Ende dorthin geschickt worden. Nachdem die Buchmesse-Zeitung eingestellt worden war, bloggte sie seit 2014 bei der FAZ über die Messe, aber das schenkt sich die Zeitung dieses Jahr zum ersten Mal. Das Buchmesse-Blog der FAZ gibt es nicht mehr. Vielleicht auch das ein Zeichen – für die Rolle von Blogs, die Rolle der kommerziellen Blogs der Zeitungsverlage oder für die Buchmesse? Diese alte Welt, die gerade vor unseren Augen untergeht?

„Tizian und die Renaissance in Venedig“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Tizian und die Renaissance in Venedig ist eine geballte Ladung Kunstgeschichte auf zwei Etagen. Die Ausstellung ist in Schwerpunkte gegliedert und erzählt die Neuansätze bei der Darstellung und der Funktion der Landschaft in der seinerzeitigen Malerei, der Darstellung von Frauen und Männern im Porträt sowie die Umsetzung antiker und biblischer Stoffe im Bild. Die Schau endet mit einem Überblick über die Rezeption der venetianischen Renaissance bis in die Gegenwart – darunter ein unerwartetes Wiedersehen mit zwei Bildern von Thomas Struth aus der Becher-Klasse (2017 an gleicher Stelle zu sehen), auf denen die museale Verarbeitung reflektiert wird. Bilder im Bild sind darauf zu sehen, darunter auch die Madonna mit dem Kaninchen aus dem Louvre, die im ersten Teil gezeigt wird.

Durchgehend sind Beispiele für bedeutsame Buchausgaben zu sehen, die die Bilder gut ergänzen. Die alten Bücher wirken besonders eindrucksvoll, weil sie die Typografie und die gestalterische und handwerkliche Kunst aus der Anfangszeit des Buchdrucks demonstrieren. Sehr schöne und hervorragend erhaltene Feder-, Kreide- und Pastellzeichnungen, teils weiß gehöht auf farbigem Papier, teils Studien, ergänzen die Gemälde, oft aus der grafischen Sammlung des Städel.

Es ist keine reine Tizian-Schau, sondern, wie der Titel sagt, ein Blick auf Tizian und Umfeld im Venedig um 1500, als die Malerei Farb- und Luftperspektive lernte, weiter Entferntes daher meist sehr blau, aber nicht mehr so flach wie noch kurze Zeit vorher bei den Italienern ausgeführt. Einen guten Eindruck von der Präsentation gibt dieses Werbefilmchen:

Der Weg durch das Haus zur Sonderausstellung führt übrigens durch eine weitgehend neu gehängte klassische Moderne, die ebenfalls sehenswert ist, weil sich dadurch neue Zusammenhänge erschließen und teils auch Werke aus dem Depot geholt wurden, die es absolut verdient haben. Außerdem ist Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht noch bis 17. März zu sehen. Selten war das Städel an einem Freitagnachmittag so gut besucht wie gestern.

Tizian und die Renaissance in Venedig. Städel Museum, Frankfurt am Main. Kurator: Bastian Eclerc (Sammlungsleiter italienische, französische und spanische Malerei vor 1800, Städel Museum). Wissenschaftliche Beratung: Hans Aurenhammer (Goethe-Universität, Frankfurt am Main). Katalog und Begleitheft im Museum zu erwerben. Audioguide zur Miete. App für Android und iOS kostenlos. Digitorial. – Bis 26. Mai 2019.

„Moderne am Main 1919–1933“ im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

In der Ausstellung „Moderne am Main 1919–1933“, die vergangene Woche im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main zum Baushausjahr eröffnet worden ist, ist auch viel Neue Typografie und Vorarbeiten bzw. künstlerisches Umfeld zu sehen – wer also Gelegenheit hat, nach Frankfurt zu kommen, möge sich die Schau nicht entgehen lassen. Der kleinformatige, aber dicke Katalog ist auch schön gemacht und mit informativen Texten versehen. Leider muss man viel Wissen mitbringen, um die Zusammenhänge zwischen den Ausstellungsstücken und dem Hintergrund herzustellen, in der Ausstellung gibt es nur kurze Wandtexte, und der Katalog liegt leider auch nicht aus – ich habe das beim Gehen angeprangert, und das Museum verspricht Besserung. Wir haben etwas gewikipediat, um unsere Lücken zu füllen, und das ging gut.

Moderne am Main 1919–1933. Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main. Kuratiert von Grit Weber, Annika Sellmann, Klaus Klemp und Matthias Wagner K. Bis 14. April 2019. Katalog: 29 Euro.

Wildnis in Frankfurt und Mondrian in Wiesbaden

Die „Wildnis“, die derzeit in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main gezeigt wird, ist ein gutes Beispiel dafür, was ein Kurator bitte nicht machen sollte: Wer mit der Tür ins Haus fällt und gleich im ersten Raum Thomas Struth, Gerhard Richter und Henri Rous­seau (und zwar in dieser Reihenfolge) verbrät, kann sich kaum noch steigern. Hundert Bilder, Skulpturen, Assemblagen und Videos, und es kommt kaum noch wirklich Überzeugendes mehr nach.

Die Künstlichkeit der Kunst – geschenkt – wer hätte das nicht schon gewusst, dass die Bilder „in der Werkstatt“ entstehen. Okay, am Ende kommt es dunkelrot, und wo kommt eigentlich der viele Nebel her? Aber will man das wirklich wissen?

Die Wildnis, die hier gezeigt wird, setzt um die Mitte des 19. Jahrhhunderts ein, und es ist zunächst einmal eine dokumentierte Natur. Es gab ja gerade erst eine gewisse Irritation über das Format der Reportage, und als hätten sie sich abgesprochen: Auch hier wird das Hochgebirge gefaket, und die untergehende Sonne strahlt rot, als käme sie direkt aus dem Abklingbecken der Kunstgeschichte.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, aber hier ist es einfach zuviel. Man denke sechs Jahre zurück, da gabs sowas schon mal in der Schirn, die „letzten Bilder“, die ziemlich zusammenhanglos und assoziativ gelockert nebeneinander an der Wand hingen. Nichts verband sie, als dass es eben mehr oder weniger zufällig die letzten ihrer Art waren. Ganz ähnlich hier: Irgendwas mit Natur. Die längste Kegelbahn der Welt ist nicht leicht zu bespielen, aber etwas mehr Raum gelassen, und Helmut Middendorfs Electric Night käme zur Wirkung; hier aber: wie in einer Ecke abgestellt, wo gerade noch dafür Platz war. Die beiden Werke von Jean Dubuffet bleiben im Gedächtnis.

Ein gutes Gegenbeispiel für eine größtenteils geglückte Dramaturgie ist dagegen die Ausstellung zu Piet Mondria(a)n, die derzeit im Museum Wiesbaden zu sehen ist. Fast der ganze Mondrian ist in, wenn ich mich noch richtig erinnere, sieben oder acht Räumen zu sehen. Von der frühen Landschaftsmalerei zu den bekannten Kompositionen mit Rechteckmuster in den Primärfarben rot, gelb und blau – der Museumsshop verkauft dazu die passenden Brillenputztücher und Servietten, falls man das mag.

Nur bitte nicht auf die Idee kommen, die Bilder wären chronologisch gehängt – das sind sie nicht. So entgeht einem das Hin- und Herschwingen zwischen figurativen und abstrakten Malweisen zwischen These, Antithese und Synthese, auch bei den Materialien, über Jahrzehnte hinweg.

Und es hätte nicht so enden müssen. Das rote Quadrat im letzten Raum war nicht zwingend oder unvermeidlich. Es wirkt eher wie eine Form, die auf etwas wartet, das dann noch folgt.

Wildnis. Kuratorinnen: Esther Schlicht und Johanna Laub. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main. Bis 3. Februar 2019. – Digitorial.

Piet Mondrian. Natur und Konstruktion. Kurator: Roman Zieglgänsberger. Museum Wiesbaden. Partner: Gemeente Museum, Den Haag. Bis 17. Februar 2019.

Keine Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2018

Nach mehreren Jahren konnte ich die Messe dieses Jahr leider nicht besuchen. Aber man verfolgt natürlich schon, was man so vorfindet im Netz, die „Narrative“ von den sechs Millionen verlorenen Buchkäufern über die letzten etwa fünf Jahre hinweg und von dem fehlenden Verlegernachwuchs und so weiter.

Die Verlagsbranche sucht nach ihrer Postwachstums-Strategie. Wenn man der New York Times glaubt, ist das ein Gemischtwarenladen, eine Buchhandlung im Hessischen ersetzt den Bäcker und den Metzger im Ort und reagiert damit auf den Umsatzrückgang bei den Büchern.

In Publishers Weekly kam die Nachlese schon am Freitagabend: Alles im grünen Bereich, stable for a fourth-straight year—a sign that the fair has found solid footing again after attendance declines in the recession-challenged years following the 2009 event. Ja, da war was, wenn es jetzt noch weiter geschrumpft wäre, wäre bald kaum noch was übrig, was den ganzen Bohei noch rechtfertigen könnte.

Während andere linke Verlage auf der Buchmesse waren, hielt sich Konkret dem teuren Trubel fern – und rang wegen einem Titelbild mit dem Presse-Grosso – anscheinend erfolgreich. Erfahrungen, die sonst nur Titanic trafen – aber das ist schon eine Weile her. Sonneborn aktualisiert derweil lieber einen Auftritt, den es Anfang der 1970er Jahre auf der Messe gab, als zuletzt jemand mit einer alten Uniform in Frankfurt unterwegs war. Das Originalfoto war bis heute in der Ausstellung mit Aufnahmen von Inge Werth aus der Zeit um 1968 im Frankfurter Museum Giersch zu sehen.

Und First Monday brachte rechtzeitig eine Themenausgabe zum digitalen Lesen – sehr zu empfehlen, im Anschluss an die Diskussion vom letzten Jahr.

Mal schauen, worum es im kommenden Jahr gehen wird.

William Kentridge, „O Sentimental Machine“ im Liebieghaus, Frankfurt am Main

In der Mitte des dunklen Raums steht eine phantastische Maschine. Ein großer, unentwegt atmender „Elefant“ als Holz und Metall, der vor sich hin arbeitet, ohne Pause, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Ziel, aus sich heraus und für sich. Große Hebel, schiebende Flügel. Es dreht sich und es hebt sich etwas. Und trotz der Bewegung ruht er doch in sich. Ich glaube, es liegt an dem warmen Material Holz. Rundherum nicht weniger phantastische Filmszenen aus fünf Projektoren, die teils auf Holzplatten, teils auf die Reliefs im Rom-Saal des Liebieghauses leuchten und Szenen zeigen, Fragmente aus der Kunst, aus der Wissenschaft, Szenen einer Ehe, die Prozession einer politischen Bewegung. Und Metronomen, immer wieder. Vieles wird vorbeigetragen. Das ganze zu nicht weniger phantastischer Musik. Sie ist das schwächste Element von allen und kann sich nur deshalb gegen die Optik behaupten, weil sie über vier mächtige Lautsprecher gespielt wird, die in den Ecken ziemlich an der Decke platziert sind, vermehrt um vier Megafone, die frei im Raum verteilt sind und über die immer wieder gesungene, deklamierte oder gemurmelte Texte zu hören sind. Die Zuschauer können sich frei im Raum bewegen oder sich auf ein paar um den „Elefant“ verteilte Stühle – einfache Holzstühle und Drehstühle – setzen. Man muss sich immer wieder hin und her drehen, man bleibt in Bewegung, ist Teil der Bewegung, der Dynamik.

The refusal of time von William Kentridge, das zurzeit im Liebieghaus zu sehen ist, ist ein wahres Spektakel. Es dauert eine halbe Stunde, aber man meint, es wäre ein ganzes Leben. Ich habe schon lange nicht mehr in so kurzer Zeit so viel Zeit erlebt. Der „Elefant“ relativiert die Zeit und macht sie bewusst. Und es ist nur eines von 80 Werken in der Ausstellung, aber es ist bei weitem dasjenige, das mich am meisten angeregt hat. In der gestern neu eröffneten Kunsthalle Mannheim sei es auch zu sehen. Es gibt also mehrere davon. Wie beruhigend.

In diesem Interview im Louisiana Channel erzählte Kentridge 2017 – ebenfalls eine halbe Stunde lang – über das Werk, das zuerst 2012 bei der documenta 13 gezeigt worden war:

William Kentridge. O Sentimental Machine. Bis 26. August 2018 im Liebieghaus, Frankfurt am Main. Kuratoren: Vinzenz Brinkmann und Kristin Schrader. Katalog im Kerber Verlag, im Museum 39,90 Euro.

„Frank Auerbach und Lucian Freud. Gesichter“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Es ist eine kleine Ausstellung von meist sehr eindrücklichen Radierungen und Zeichnungen. Die Blätter werden in einem betont ruhigen Umfeld gezeigt, gedämpftes Licht – der Raum temperiert durch eine ziemlich kühle Klimaanlage. Lucian Freud und Frank Auerbach teilen die Emigration als Kinder aus Nazi-Deutschland nach Großbritannien. Sie waren befreundet, die gegenseitige Beeinflussung fühlt man förmlich, aber auch die jeweils eigene Handschrift. Ein Blickfang ist das Selbstbildnis Auerbachs in Graphit auf Velin: Überdimensionaler Kopf in groben Zügen, schwarze und graue Linien, grob und unruhig und doch plastisch und lebendig im guten Sinne. Freud dagegen: detailreich, und alles andere als modelhafte Modelle aus irritierendem Blickwinkel. Was beide Künstler eint ist, dass sie uns das genaue Hinsehen lehren, die Suche nach dem, was hinter der Linie liegt und was die gar nicht leicht skizzierten und in die Druckplatte geritzten Striche auf Dauer miteinander verbindet. Eine absolut sehenswerte Ausstellung. Zum Schluss ein Blick auf die handwerkliche Seite der Radierung. Leider fehlt Francis Bacon, der dritte der „Londoner Schule“, derzeit in der Gegenwartskunst.

Frank Auerbach und Lucian Freud. Gesichter. Kuratorin: Regina Freyberger. Städel Museum, Frankfurt am Main. Bis 12. August 2018. Katalog: 15 Euro. – Einführung von Regina Freyberger im Städel-Blog: „Wie ein Ungeheuer, das in die Welt hinausstolziert“.

„Basquiat: Boom For Real“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main

Die Schirn empfängt mit großen Bildern, mit Wänden voller Text, auf Mauern und auf Bretter und auf Leinwände geschrieben, geschmiert, gesprüht in den 1980er Jahren in New York. Als hierzulande über die Graffiti des Sprayers von Zürich diskutiert wurde: Darf man das, zivilrechtlich, strafrechtlich, und ist das Kunst?

Es war eine enorm politische Zeit damals: Post-68, Umweltbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, stell' dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin, die sogenannte geistig-moralische Wende in Deutschland-West, in den USA und in Großbritannien vor allem, das Volkszählungsurteil, der NATO-Doppelbeschluss, AIDS, das Privatfernsehen und das Kabelfernsehen, ein Atomkraftwerk in der Ukraine, und am Ende ein Börsenkrach, ein explodiertes Space Shuttle und das Ende des Kalten Kriegs. Eine Ahnung der bevorstehenden transnationalen Verflechtung wurde sichtbar am Horizont. Von alledem ist diese deutsch-britische Ausstellung ganz weit entfernt, so weit, weiter geht es nicht mehr. Ahistorisch und hermetisch wird eine New Yorker Künstlerszene in Clubs und sonstiger Bohème vorgeführt, die sich selbst genug ist und die sich um sich selber dreht, als gäbe es die Welt da draußen gar nicht. Oder nur als Drogenlieferant. Ich glotz' TV.

Jean-Michel Basquiat schrieb Tagebuch und begann zu kritzeln – und immer mehr zu malen. Er war modern, denn – und hier überschneiden sich unsere und seine Welt einmal – er bediente sich moderner Technik (Farbkopierer, Polaroid) und er nutzte moderne Technik zu seiner Inspiration bei der Arbeit (Fernsehen, Videorekorder). Kein Internet, natürlich, obwohl es das damals ja auch schon gab. Der Hip-Hop aus den New Yorker Ghettos, und immer wieder der Jazz. Und Texte. Pop-Texte. Eine merkwürdig krude und derbe Typografie, die man schwer vergisst. Wiederholungen. Taggen und rappen. Ein Remix aus Popkultur, der über elektronische Medien verbreitet wird und der seitdem nicht mehr aufgehört hat. Geschwindigkeit und leuchtende Bildschirme und Musik. Und bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.

Man muss das nicht mögen. Es ist ist einfach da. Und es ist unerbittlich und laut und hart und schwer erträglich. Und es geht nicht mehr weg.

Die Schirn, nach den Worten von Jean-Christophe Ammann „die längste Kegelbahn der Welt“, ist für diese Ausstellung nochmal länger gemacht worden. Wie ein dunkler, warmer Darm voller Musik und Bewegung mäandert sich der Weg zwischen den eng gestellten Wänden von Eingang bis zum Ende der Schau, wo dann noch ein Film läuft, alles sehr akut und heute, am ersten Tag, gedrängt voller Menschen, die diese millionenschwere Show sehen wollten. Es soll sich um die teuerste Ausstellung handeln, die die Schirn jemals hatte versichern lassen, und das geht natürlich nicht ganz geräuschlos vonstatten: Man darf keine Taschen mit in die Ausstellung nehmen, und die Garderobe ist so belastet, dass Absperrbänder den Weg weisen und auch die Schließfächer nicht allgemein zur Verfügung stehen, sondern von den Garderobièren belegt werden. So die Auflagen. Die spinnen, die Amis, um nochmal einen Begriff aus den 1980ern aufzugreifen.

Die Bilder sind übrigens erstaunlich schlecht. Sie sind handwerklich schlecht gemacht, sie lassen jeden Ausdruck vermissen, und sie sind ganz schlicht scheußlich – wie die 1980er Jahre eben waren, ein Jahrzehnt, das reaktionär war wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann. Damals begann der große Reichtum der wenigen, des einen Prozents, maximal, das sich heute diese Bilder für Millionen Dollar ersteigert. Dekadent und peinlich war das und ist es heute immer noch. Der lange Sommer der Bourgeoisie.

Darf man das, und ist das Kunst?

Man muss das nicht mögen. Es ist ist einfach da. Und es ist unerbittlich und laut und hart und schwer erträglich. Und es geht nicht mehr weg.

Geht nicht mehr weg, wie einem das Krönchen nicht aus dem Sinn geht, das im Spätwerk auftaucht, in verschiedenen Größen, mal schwarz auf braun, mal weiß auf schwarz. Oder der kleine Origami-Elefant beim Saxophon.

Und ist das Kunst? Man muss das nicht mögen. Es ist ist einfach da.

Mir hat es nicht gefallen.

Basquiat. Boom For Real“. Bis 27. Mai 2018 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Eine Ausstellung des Barbican Centre, London, in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Kuratiert von Dr. Dieter Buchhart und Eleanor Nairne, Barbican Art Gallery, London. Katalog im Prestel-Verlag, München. Digitorial und Pressetext.

Die Onleihe, die E-Papers, das DRM und der Schwarze Peter

Merkwürdig ruhig geworden ist es in den Biblioblogs zum Thema Onleihe. Dabei geht es schon seit über einem Monat ziemlich hoch her, und wenn ich nichts Besseres zu tun gehabt hätte, wäre ich, nachdem ich sie von Anfang an kritisch begleitet hatte, selbstverständlich auch bei den ersten gewesen, die die Probleme mit der EKZ-Tochter Divibib zum Thema gemacht hätte. Aber das kann man ja noch noch in Ruhe nachholen, denn so schnell läuft sie uns nicht weg. Was ist also passiert?

Man kann guten Gewissens sagen, dass die Onleihe jetzt endgültig kaputt ist, und zwar ausgerechnet kurz vor dem Weihnachtsfest, wenn also ganz viele Benutzer endlich die Zeit haben, sich einmal umzuschauen, vielleicht auch mal mit neuen Geräten etwas Neues auszuprobieren und im Angebot zu stöbern und wenn die digitalen Lösungen besonders wichtig werden, weil die Präsenzangebote wegen der Feiertagsschließung vielerorts nicht zugänglich sind.

Die Divibib behauptet – bisher ohne Quellenangabe –, Adobe habe angekündigt, die Weiterentwicklung des DRM bei seinem Adobe Reader einzustellen. In vorauseilendem Gehorsam – anderer Version: weit und weise vorausschauend – stelle man deshalb schon heute die Bereitstellung von PDFs für die E-Papers in der Onleihe um. Jedenfalls aber bis März 2018 komplett. Dort gab es bisher PDFs, die man im Reader öffnen konnte. Neuerdings kann man nur noch PDFs herunterladen, die in dem E-Book-Programm Adobe Digital Editions zu öffnen sind.

So weit, so gut, könnte man denken. Nimmt man halt ein anderes Programm, und gut ists. So ist es aber nicht.

Es fängt damit an, dass die PDFs, die die Presseverlage derzeit freigeben, in der aktuellen Version 4.5.7 von Adobe Digital Editions (ADE) nicht zu öffnen sind. E-Books gehen (meist?), aber E-Papers nicht. ADE zeigt nur leere Seiten an. Im Fall der FAZ sieht das dann so aus:

Ansicht der FAZ aus der Onleihe in ADE 4.5.7 am 15. Dezember 2017

Deshalb empfiehlt die Onleihe per Dauereinblendung in ihrem User-Forum offiziell ein Downgrade auf Version 4.5.6 – trotz der damit verbundenen Sicherheitslücken, die man sich mit einer veralteten Version auf sein System holen würde und die, wie es bei Exploits eben so üblich ist, auch schon ausgenutzt werden, weil sie entsprechend bekannt gemacht worden sind. Wer das nicht wagt, kann bis auf weiteres keine E-Papers mehr über die Onleihe lesen. Dieses Problem betrifft alle Benutzer auf allen Plattformen.

Banner im User-Forum der Onleihe in diesen Tagen

Wenn man das denn Lesen nennen will. Denn das Navigieren in einem ADE-PDF ist etwas ganz anderes als bei einem Reader-PDF. Adobe Digital Editions ist offensichtlich nicht dafür ausgelegt, mit so großen grafisch gestalteten Seiten zu arbeiten. Das Scrollen funktioniert nur wie in Zeitlupe, ist für den täglichen Gebrauch zur flüssigen Zeitungslektüre daher unbrauchbar. Es liegt auch nicht am eigenen System: Eine 30 MB große PDF-Datei belegt auf meinem Rechner mit ADE genau 33 MB Arbeitsspeicher. ADE ist einfach eine Schnecke, weil das Programm ja vor allem dazu dient, Bleiwüsten im Format EPUB darzustellen, was etwas ganz anderes ist.

Auf dem Mac kommt hinzu, dass ADE hier schon seit 2014 nicht mehr ordentlich funktioniert. Die ACSM-Datei wird noch heruntergeladen und ADE wird geöffnet. Nach dem Download der Zieldatei hängt sich Adobe Digital Editions aber zuverlässig auf und legt sich dann schlafen wie ein Eichhörnchen, das zur Winterruhe gefunden hat. Bis man es über das Apfel-Menü abschießt. Die EPUB- oder die PDF-Datei findet man dann im Digital-Editions-Verzeichnis. Man kann sie in der Regel in ADE öffnen und in dessen Bibliothek importieren – sofern es kein E-Papier ist, das funktioniert – siehe oben – nur mit älteren Versionen. Die letzte Version, die man auf dem Mac nutzen kann, ist derzeit, wie man liest, wohl ADE 4.0.3 aus dem Februar 2015. Die Situation hat sich damit nochmals erheblich verschlechtert – wobei die FAQ der Onleihe zu dem Thema „Onleihe auf dem Mac“ für sich genommen schon immer legendär zu nennen war. Schon heute darf sie als ein Klassiker der Netzkultur gelten.

Die Onleihe bietet zur Jahreswende 2017/18 also ein wirklich desolates Bild. Nur wer sich in ein Software-Museum zurückzieht, kann darüber noch E-Papers lesen. Die Probleme bei den E-Books seien nicht ganz so schlimm – aber das weiß man ja immer erst, wenn man versucht, eine bestimmte Datei zu öffnen. Man muss abwarten, was einen dann erwartet und von Fall zu Fall schauen, ob es geht und was damit geht.

Dementsprechend ist der Unmut der Benutzer im User-Forum der Onleihe. Dort geht es schon wochenlang hoch her. Die Moderatoren und die sonstigen Support-Kräfte kommen kaum hinterher. Ehrlicherweise sollte man sagen, dass die Ausleihe von E-Papers faktisch eingestellt worden sei, schreibt dort ein User:

„Nach all den vielen Beiträgen muss man doch den Schluss ziehen, dass keine ePapers mehr für Normalnutzer, die nicht in die Trickkiste greifen können oder wollen, angeboten werden. Das gilt zumindest für die großformatigen Tageszeitungen. Ein vernünftiges Lesen ist nicht mehr möglich, egal mit welcher Hardware, mit welchem Betriebssystem und mit welchem Leseprogramm.“

Andere posten Links zu den veralteten ADE-Versionen und Anleitungen, die angeblich noch gehen. Ungeübte Benutzer fragen etwas schüchtern, woran es denn liege, dass man die Onleihe nicht mehr nutzen könne. Der Sohn habe doch alles so formidabel eingerichtet, und jetzt klappt es nicht?

Und auch die Bibliotheken reagieren langsam. Eine teilte einem Benutzer mit:

„…der Onleiheverbund der onleiheSaar hat sich entschlossen, die Zeitungen abzubestellen, da die Divibib eine problemlose Nutzung nicht gewährleistet.“

Ob es stimmt, dass das DRM für den Adobe Reader tatsächlich nicht mehr weiterentwickelt wird, steht übrigens zumindest derzeit in den Sternen. Zu googeln ist dazu nichts. Und die Onleihe hat dazu auch in ihrem schon immer ziemlich unübersichtlichen und merkwürdig rau moderierten User-Forum keinen Beleg genannt.

Was wir hier sehen, war jedenfalls voraussehbar. Das DRM, das schon den Plattenlabels vor Jahren um die Ohren flog und das zunehmend auch bei den E-Books abgeschafft worden ist, ist endgültig am Ende, die Download-Lösungen werden durch Streaming mit Flatrates ersetzt. Dieser Trend war schon vor Jahren aus den USA bekannt, und es rächt sich nun, dass die öffentlichen Bibliotheken auf diesen Dino gesetzt haben. Hier wurde viel Geld verbraten, sehr viel Steuergeld, das auch an Adobe fließt, das schon viele Jahre lang seelenruhig bleibt und offenbar keinen ordentlichen Service mehr angeboten hat. Von rechtlichem Druck auf die großen Konzerne hat man jedenfalls nichts gehört. Offiziell wird der Schwarze Peter zwischen den Verlagen, die ein DRM fordern würden, Adobe und, soweit betroffen, auch Apple, hin und her geschoben. Leidtragende der verkorksten Lage sind die Benutzer/innen, die nun jedenfalls bei der digitalen Zeitungslektüre in die Röhre schauen.

Gut beraten war, wer auf Lösungen wie beispielsweise das Pressearchiv Genios oder auf den PressReader via Munzinger gesetzt hatte, die schlicht im Webbrowser laufen (es gibt noch andere). Was man sich natürlich erst einmal leisten können muss, denn das ist schon etwas teurer am Markt. Hier sind die Bibliotheken im Rhein-Main-Gebiet – mit Ausnahme von Darmstadt – übrigens leider vergleichsweise schlecht aufgestellt – schlechter als in vielen anderen Gegenden Deutschlands, wo der digitale Sektor sehr viel größer aufgebaut worden ist, so dass nun schnell Alternativen zur Onleihe verfügbar sind, auf die man jetzt, wo sie gebraucht werden, direkt verweisen kann. Im Forum waren immerhin schon Vergleiche zu BER gezogen worden…

Man kann, wie eingangs schon gesagt, mit gutem Gewissen davon ausgehen, dass die Adobe-DRM-Lösung endgültig kaputt ist und dass man insoweit auch zumindest teilweise kapituliert hat. Und der Ausblick auf ein eigenes Onleihe-DRM, das immer mal wieder erwähnt wurde, erscheint heute noch eher trüb, denn das grinst nicht gerade um die Ecke.

Frustrierte Benutzer werden sich abwenden und sich anderweitig orientieren. Vielleicht ist das den Verlagen auch ganz recht, die ja ihre Digitalangebote derzeit zunehmend in den Markt drücken wollen und dafür die freien Meldungen auf den Zeitungs-Websites auch eher vernachlässigen.

Wenn demnächst mal wieder von der sogenannten Digitalen Agenda die Rede ist, sollte man ruhig einmal auf das DRM-Debakel und das Right to E-Read zu sprechen kommen. Es wäre sicherlich ein guter Maßstab für die Frage, wie weit die Digitalisierung in der Informations- und Wissensgesellschaft überhaupt schon vorangekommen ist – oder eben nicht.

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