15 Jahre Wikipedia
Die Statistik zeigt das große Ganze, aber jede/r hat ja auch seine ganz persönliche Wikipedia-Geschichte: Der Eintritt in das Projekt, der Werdegang und der Ausstieg sind sehr persönliche Anlässe, die man nicht allgemein, sondern nur individuell betrachten kann. Alles war anders, als ich mich zum ersten Mal bei Wikipedia beteiligte: Der damalige Bestand an Inhalten, die Stimmung und die Reaktion der Community, auf die ich traf, und auch meine Wahrnehmung und meine Lebenssituation und mein Umgang mit dem Netz waren anders als heute. Gerade mit den positiven Rückmeldungen tun wir alten Hasen uns mittlerweile sehr schwer, wie mir scheint, sowohl untereinander als auch im Verhältnis zu Neulingen. Die Orden sind ziemlich in die Jahre gekommen und werden nur spärlich benutzt. Und die lobende Ansprache ist überhaupt nicht eingeübt; so kann sie im Alltag denn auch nur selten glücken. Viel häufiger wird deshalb Neues verhindert als es zu verbessern. Jede Korrektur einer Bearbeitung bedeutet eben auch eine weitere Belastung angesichts der ohnehin schon angespannten Personaldecke. Von der Begrüßung bis zur Korrektur – nichts kommt wirklich von Herzen, und ein/e Anfänger/in trifft auf Schritt und Tritt in jeder Hinsicht auf eine Umgebung, die es so seit über zehn Jahren an keiner Stelle mehr im Web gibt. Und natürlich übernimmt sich das Sorgenkind Wikipedia maßlos: Die Grenzen der Wartung sind seit Jahren schon erreicht. Die Aktualität leidet und macht die Plattform im ganzen schon mittelfristig unattraktiv. Das Informationsumfeld hat auch nachgezogen: Zum einen gab es eine nachholende Digitalisierung bei den Bibliotheken und sonstigen Anbietern, zum anderen erscheinen viele Informationen heute zuerst digital oder werden zumindest vorwiegend digital genutzt. Mobile Endgeräte erfordern andere Formate – technisch wie redaktionell – als Desktop-Rechner, die von den meisten Autoren weiterhin bevorzugt werden. Das Wiki ist zugleich Stärke und Erblast des Projekts. Wenn man heute mit Wikipedia noch einmal beginnen würde: Würde sich eine Community dann in einem Wiki zusammenfinden? Das Wiki war das Mittel der Wahl vor fünfzehn Jahren, und MediaWiki wurde speziell für die Arbeit an Wikipedia auf- und ausgebaut. Aber heute hätte man andere Prioritäten und würde diese zielstrebig ansteuern: Mobile Nutzung, eher kurze Texte und Multimedia-Inhalte dominieren, gerade bei den jüngeren Usern. Während bei uns der Stub verpönt ist und Wikimedia Argentinien gerade seinen Zehnminüter zum Geburtstag selbstverständlich auf YouTube und auch auf Vimeo bereitstellte, weil Wikimedia Commons immer noch kein mp3/mp4 kann (und wahrscheinlich niemals können wird). Und in diesem Umfeld machen wir trotzig weiter und kommen zunehmend weniger gut hinter den Entwicklungen her. Erosionserscheinungen werden auch für den Außenstehenden immer deutlicher sichtbar. Die Wissenschaft hat den Weg zum Autor in der Regel nicht gefunden, und die Netzgemeinde läßt die Artikel zur Netzpolitik, die scharenweise Blogs und soziale Netzwerke füllt, links liegen, um nur zwei Punkte zu nennen. Wissen ist eben sehr viel mehr als nur die Enzyklopädie. Unser Kollege Barnos führt an der Stelle immer gerne den Mythos des Sisyphos an und erinnert an das Glück, das es bereite, den ewig zurückrollenden Stein immer wieder aufzugreifen und erneut nach oben zu rollen. Es gibt aber ganz sicher noch mehr Wege, zu Wissen zu gelangen, will sagen: noch mehr Berge und noch mehr Steine, die zu wälzen gingen und die dies wert wären, sowohl für die Autoren als auch für die Leser, und Alternativen sind heute, anders als zu der Zeit, zu der ich hinzugestoßen war, Legion im Netz. Die Konkurrenz ist weder verschwunden noch schliefe sie. Wir müssen vor allem darauf achten, in Bewegung zu bleiben, an keiner Stelle zu erstarren, veränderbar zu bleiben und auf Anstöße von allen Seiten zu achten und diese aufzugreifen, indem wir darauf reagieren. Ansprechbar zu bleiben und zu antworten. Lebendig zu bleiben. He not busy being born is busy dying.