Übergänge IV
Zum Beispiel die Verschiebung von Wahlen und – je nach Bundesland – die Verschiebung der Abiturprüfungen – oder jedenfalls die Diskussion darüber. Institutionen in Politik und Bildung können nicht mehr einfach so weiterarbeiten. Die demokratische Legitimation von Politik und Recht ist nicht mehr lückenlos herstellbar. Schulen und Hochschulen können ihre gesellschaftliche Funktion als Zertifizierungsstellen für Zeugnisse und weitere Abschlüsse nicht mehr erbringen, auf denen wiederum andere gesellschaftliche Systeme (der weitere Bildungssektor, die öffentliche Verwaltung und die Wirtschaft) zurückgreifen. Die Gerichte versuchen noch, die Öffentlichkeit in den mündlichen Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Ob das aber tatsächlich gelingt, muss man im Einzelfall sehen.
Es entsteht ein disruptiver Moment. Entscheidend ist, wie lange er andauert und wie darauf reagiert wird. Systemtheoretisch kann man sagen, strukturelle Kopplungen zerbrechen, das Zusammenspiel gesellschaftlicher Subsysteme funktioniert nicht mehr, ihre Programmierung im einzelnen und insgesamt läuft ins Leere oder stört sich sogar gegenseitig. Ihr Verhältnis zueinander muss neu ausgehandelt und festgelegt werden: Familie vs. Wirtschaft während des für die meisten ganz neuen „Homeoffice“. Hauswirtschaft vs. lokaler Handel vs. Welthandel bei Unterbrechungen der Lieferketten infolge von Grenz- und Geschäftsschließungen.
Un long moment ist nicht notwendigerweise etwas Schlechtes, er kann – als ein Raum der Stille und der Neuorientierung – auch zum Nachdenken und zum Neu-Ansetzen genutzt werden. Das ist aber kein Selbstläufer. Für Neu-Orientierung muss man sorgen, sie entsteht nicht von selbst durch jede beliebige Unterbrechung des bisherigen Betriebs.
Neu bei alledem ist der Anlass. Die Natur tritt hervor und stellt sich in den Weg, entzieht uns den Boden, auf den wir angewiesen sind für alles Weitere. Das Anthropozän ist noch nicht zuende, wie manche meinen, aber es ist brüchig geworden und wankt. – „Was weiß ich von Bäumen?“
Und das gerade angesichts der völlig beiseite gewischten Klimadebatte. Kein Wort mehr über Fridays for future. Wie kurzlebig waren die Kampagne, die Bilder und die Narrative, die die Medien davon übertrugen. Die streikenden Schüler vs. die Durchführung von Abiturprüfungen angesichts des grassierenden Infekts. Es ist nicht gerade die Pest, aber es sind natürlich keine regulären Bedingungen, wenn eine staatliche Prüfung in einer größeren Gruppe abgenommen wird, während ansonsten ein flächendeckendes Kontaktverbot gilt. Die Begründung des hessischen Kultusministers dazu war in einem Interview sinngemäß: Nun haben wir damit angefangen, nun machen wir es auch zuende. Auf dass der Jahrgang sein Abitur bekomme. Als wäre das Abi 2020 eine Art Notabitur wie in Kriegszeiten. Sonderopfer werden gefordert, und sie werden offenbar auch erbracht: Es hätten sich zu wenige um ein Jahr zurückstellen lassen, deshalb hätten sie mit den Prüfungen weitergemacht, hieß es. Keine Spur von Rebellion mehr. Sie gefährden ihre Gesundheit, statt ihre Abiturprüfung – unter diesen Umständen – um gerade mal ein Jahr zu verschieben.