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Netzlese 2016-11-29

  • Das Gesetzgebungsverfahren für ein neues Urhebervertragsrecht ist vertagt worden, es wird also dieses Jahr nicht mehr abgeschlossen.

  • Der VGH Baden-Württemberg hat beschlossen, daß der Bürger keinen Anspruch auf Einsicht in die Fachliteratur hat, die in einer Gerichtsbibliothek vorhanden ist. Der Kläger hatte Prozeßkostenhilfe für eine dementsprechende Feststellungsklage begehrt, weil er einen juristischen Kommentar zum Verwaltungsvollstreckungsgesetz in der Bibliothek des Verwaltungsgerichts einsehen wollte. Der Sachverhalt trägt durchweg skurrile Züge: Ein Schriftsatz verschwand spurlos, so daß die Beschwerdefrist verstrich. Eine Abschrift wollte der Kläger aber nicht vorlegen, weil er „Verwechselungsgefahr“ befürchtete. Dann hatte er zwei Richter des erkennenden Senats – erfolglos, natürlich – wegen Befangenheit abgelehnt. Am Ende wird es slapstickhaft, denn der VGH versagt ihm den Zugang zur Gerichtsbibliothek ausgerechnet unter Rückgriff auf das Landesinformationsfreiheitsgesetz Baden-Württemberg, weil juristische Literatur, die im Buchhandel käuflich ist, keine amtliche Informationen seien, zu denen man auf diesem Wege Zugang erlangen könnte. Das ist zwar an sich richtig, das Urteil ist aber vor allem ein Musterbeispiel für den Umgang der Justiz und der Verwaltung mit vermeintlichen Querulanten geworden. Die Urteilsbegründung ist selbst ein Beispiel für ein über das Ziel hinausschießenden Staat, der die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr wahrt. Richtig daher – wenn auch wiederum sprachlich unangemessen – die Anmerkung bei Archivalia: Unzählige Gerichtsbibliotheken sind ohne weiteres für die Öffentlichkeit zugänglich, ohne dass der Geschäftsbetrieb gestört wird. … Was vom Bürger bezahlt wird, muss ihm auch zur Verfügung stehen. (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Oktober 2016 – 1 S 1122/16, JurPC Web-Dok. 173/2016).

  • Der SPD-Wahlkampfberater Frank Stauss hat in seinem Blog die Narrative dekonstruiert, mit denen hierzulande versucht worden ist, den Wahlsieg Donald Trumps zu verarbeiten. Er macht schon seit Monaten auf allen möglichen Kanälen Stimmung für seinen Auftraggeber. Anscheinend auch auf Wikipedia: Sein Wikipedia-Artikel hat 2013 ein Benutzer angelegt, der so heißt wie seine Werbefirma: Butter pr. Er ist bis heute kaum geändert worden. Aber sei's drum – Stauss argumentiert: Nicht Trump habe die Wahl gewonnen, sondern Clinton habe sie verloren, und zwar weil sie die Rainbow-Coalition nicht ausreichend habe mobilisieren können. Das Konzept für Frauen, LGBT, Latinos, African Americans… habe am Ende nicht ausgereicht; es wäre möglich gewesen, diese Wählerschaft für die Demokraten zu gewinnen, aber nicht für die Clintons. – Stammt denn das Rätselspiel um den Spitzenkandidaten der 20-Prozent-Partei, das derzeit in den Nachrichten zelebriert wird, auch von Stauss? Wirklich kritisch wäre es gewesen darüber nachzudenken, wieviele Prozent der Wähler an dem Spektakel in Übersee überhaupt teilgenommen hatten.

  • Jens Milker greift in einem Beitrag auf JuWiss die Frage auf, ob der Betrieb von Social Bots in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit falle. Die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Verfassungsdokmatik hatte schon Adrian Lobe in der Zeit beschrieben: Die Meinungsäußerungsfreiheit im amerikanischen Verfassungsrecht gehe so weit, daß es nicht auf den Grundrechtsträger ankomme – der Programmierer? der Betreiber? der von den Äußerungen des Bots Begünstigte? oder derjenige, der wirtschaftlich von dem Bot profitiert? –, sondern auf die Meinungsäußerung selbst abzustellen sei. Auch Maschinen käme demnach freedom of speech zu. Das ist auch in den USA nicht unbestritten, hierzulande würde man es erst recht nicht so ohne weiteres annehmen, und Milker referiert infolgedessen das bekannte Inventar des Staatsrechts zum Wettbewerb der politischen Parteien und zu Meinungsäußerungen im Wahlkampf – lesenswert, so knapp gefaßt wird man es kaum woanders finden. Mit dem Argument, das ist nicht von uns, das macht der Algorithmus!, war Google schon in der Autocomplete-Entscheidung des Bundesgerichtshofs 2013 gescheitert. Ärgerlich ist, daß Milker kritiklos bleibt, wo es heißt, Täuschungen und Lügen kann man mit Mitteln einer Gegendarstellung im Meinungskampf entgegentreten. Das ist ja gerade die Frage, ob man unter den Bedingungen der in jeder Hinsicht entgrenzten digitalen Öffentlichkeit so etwas noch kann, wenn Wahlkampf von – ggf. im Ausland sitzenden – Trolls und Hackern auf Facebook und Twitter geführt wird, für den normalen Bürger nicht mehr nachvollziehbar, der von seiner Plattform gewöhnt ist, die Filterblase seines Vertrauens vorgespiegelt zu bekommen. Wo soll hier eine Gegendarstellung erfolgen? Sie ist in der Filterblasen-Technik der sozialen Medien ja gerade nicht mehr vorgesehen. Das wäre demnach eine der ersten Vorkehrungen, die der Gesetzgeber sicherstellen müßte, um den Wettbewerb der politischen Meinungen im Wahlkampf sicherzustellen: Einen Gegendarstellungsanspruch, eine widersprechende und korrigierende Nachricht, die an alle ausgeliefert wird, die die monierte Botschaft vorher erhalten hatten. Also das Aushebeln des Geschäftsmodells dieser Plattformen: Daß es keinen Widerspruch mehr geben soll. Unvollstreckbar in den USA, weil das angesichts der Meinungsäußerungsfreiheit gegen die ordre public verstoßen würde. Obwohl das Ende des Widerspruchs gerade der Ausschluß jeglicher Diskussion ist, der sich selbst auf die Meinungsfreiheit berufen sollte? Die Entgrenzung, die mit den amerikanischen Plattformen Wikipedia und Google begonnen hatte, ist 2016 auch in Deutschland bis in den demokratischen Prozeß vorgedrungen. Der Geist ist aus der Flasche. Der Wettbewerb setzt aber aus technischer Sicht vor allem voraus, daß Meinungsäußerungen überhaupt noch transportiert werden und an den Rezipienten gelangen können. Wahrscheinlich kann bis auf weiteres keine Seite auf den Einsatz von Social Bots verzichten, um eine gewisse Waffengleichheit im Wettbewerb herbeizuführen – auch wenn es sich um eine in jeder Hinsicht regelwidrige und unfaire Technik handelt. Und das wird Rückwirkungen auf das Recht haben. Code is law.

Noch lange nicht vorbei IX

Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus scheint es für schwarz-grün nicht mehr sicher zu reichen. Daher erstmals ganz offen die Diskussion über rot-rot-grüne Koalitionen.

Es ist ein Spiel mit verteilten Rollen, und die SPD bezieht Position für die Arbeithaber und überläßt die Arbeitslosen gerne der Linken. Erst haben sie die Löhne gedrückt und den „Niedriglohnsektor“ geschaffen, und jetzt sorgen sie dafür, daß die Regelsätze einen gehörigen Abstand zu diesen Hungerlöhnen aufweisen. So eben die „Sozialministerin“ in einem Beitrag im Deutschlandfunk. Und der Parteivorsitzende am Wahlabend live auf der Bühne. Nach oben buckeln und nach unten treten, das können sie, und dafür werden sie auch gewählt, von derzeit etwa zwanzig Prozent.

Welche Rolle die Grünen dabei spielen werden, hat sich ihr Geschäftsführer in der letzten Berliner Runde ausdrücklich offengehalten. Alles sei im Fluß, man wisse das heute noch nicht, es könne durchaus sein, daß es im Herbst 2017 am Ende dann doch für schwarz-grün reiche. Dann sei alles wieder ganz anders.

Und der Strom der ehemaligen Nichtwähler und der Linken-Wähler zu den ganz Rechten verweist auf einen völligen Ausfall an politischer Bildung.

So ungefähr.

Jörg Kantel hat gerade die Zustimmung zu CETA zum Anlaß genommen, nach 47 Jahren aus der SPD auszutreten – kaum zu glauben, daß er so lange dort Mitglied war! Claudia Klinger schrieb schon im vergangenen April über die gesellschaftliche Dimension hinter alledem. Über die Netzwerke, die mit dem Abbau der Volksparteien mit kaputtgehen.

Die Gesellschaft fragmentiert in 15-bis-20-Prozent-Partikel. Jeder kümmert sich nur noch um seine Klientel, aber niemand fühlt sich mehr fürs Ganze verantwortlich. Rette sich, wer kann.

So war die nicht vermeidbare Aufnahme der Fremden am Ende nur ein Anstoß, ein Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, um egoistische Stimmungen auszulösen und um ein Hauen und Stechen, alle gegen alle, zu triggern.

Und weil die Verteilungskämpfe aus dem ökonomischen Sektor jetzt in den politischen übergreifen, führen sie zu einem immer weitergehenden Auseinanderfallen. Vollkommen selbstreferentiell, als gäbe es die Welt da draußen gar nicht, als wäre sie bestenfalls ein Stichwortgeber. Der Blick über den Tellerrand hinaus fehlt. Vollkommen logisch daher das Nachdenken über das Schließen von Grenzen, die es schon ganz lange nicht mehr gibt und die es auch nicht wieder geben wird.

Klaus Harpprecht ist gestorben, er war ein Redenschreiber von Willy Brandt. Wie lange die Zeit schon her ist. Die „härteren Tage" sind da.

Noch lange nicht vorbei VIII

Der Rechtsruck, der nun auch bei uns angekommen ist, ging ja unter anderem von Österreich aus. Robert Menasse hat heute morgen im Interview im Deutschlandfunk auch für Deutsche verständlich erklärt, wie die Kapitulation des Rechtsstaats durch die großen Koalitionen dort über einen sehr langen Zeitraum hinweg vorbereitet worden war.

Als mir vor ein paar Jahren mal ein Kollege erzählte, wie das in Österreich funktioniert, wollte ich es zuerst gar nicht glauben. Es gibt dort nämlich eine Rechtsquelle, die wir im deutschen Recht nicht kennen, das Verfassungsgesetz. Nach herrschender Meinung ist das ein Gesetz mit Verfassungsrang und gehört damit zum Verfassungsrecht; nach anderer Ansicht ist es einfach nur ein Gesetz, das mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen worden ist, aber eben nur im Range eines einfachen formalen Gesetzes. Solche Verfassungsgesetze wurden in Österreich immer dann erlassen, wenn etwas umstritten war. Sie wurden mit Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen und waren damit der materiellen Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof entzogen. Verfassungsgesetze sind nach österreichischer Auffassung von vornherein verfassungsmäßig, sie können nicht verfassungswidrig sein, denn sie wurden ja mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen. Ihre Verfassungsmäßigkeit wird nicht an der zum Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Verfassungsrecht geprüft. Deshalb wurde auch kaum ein umstrittenes Gesetz in Österreich je vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben, ganz im Unterschied zu Deutschland, wo es ja eher zum Regelfall geworden ist, die abenteuerlichsten Dinge im Parlament zu beschließen, weil sie später sowieso wieder „von Karlsruhe“ aufgehoben werden. Keine Sorge, Karlsruhe wird das wieder richten. „Der Gang nach Karlsruhe“ ist zum geflügelten Wort geworden – an sich ja auch schon ein Skandal. Karrierebewußte Abgeordnete verlassen sich darauf und stimmen schon auch mal dafür, wo es substantielle Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit gibt. So erzählte das zumindest mal der ehemalige SPD-Abgeordnete Tauss, als seine politische Karriere zuende ging und er infolge der nach ihm benannten Affäre aus dem Parlament ausscheiden mußte. Diese Korrektur der Politik durch die Rechtsprechung, das Primat des Rechts über die Politik, kann man also in Österreich umgehen, indem man möglichst große Koalitionen bildet, die Verfassungsgesetze erlassen, um den Rechtsstaat auszuhebeln.

Menasse sieht darin eine Aushöhlung des Rechtsstaats, die sich aktuell auswirke: Die österreichische Verfassung ist systematisch zur Ruine gemacht worden. … Und mit der Begründung dieser Papierruine, die wir haben, macht jetzt das österreichische Verfassungsgericht, das die Wiederholung der Bundespräsidentenwahl lediglich auf formale Fehler bei der Auszählung, nicht auf Fehler im Ergebnis oder auf konkrete Manipulationen gestützt hatte – mit dieser Begründung mache also der Verfassungsgerichtshof die Republik zur Ruine, und das ist unerträglich. Indem sie gegen das Wahlergebnis vorgegangen sei, habe die FPÖ nichts anderes getan als die AfD in Deutschland. Beide Parteien liege daran, dieses System zu zerstören. Sie zerstören eine Republik, sie zerstören demokratische Strukturen im Namen der Demokratie. Und jetzt frage ich Sie: Erinnert Sie das an etwas?

Zumal eine Wahlwiederholung gar nicht möglich sei: Mittlerweile sind nämlich schon jetzt mehr Menschen, die wahlberechtigt waren bei dieser Wahl, gestorben, als der Stimmenunterschied zwischen den Kandidaten war. Es seien aber auch mehr Menschen wahlberechtigt geworden, also ins wahlberechtigte Alter gekommen, als Stimmendifferenz war zwischen diesen beiden Kandidaten, und die wiederum dürfen nicht wählen, weil nur die wählen dürfen bei der Wahlwiederholung, die schon damals wahlberechtigt waren. Das heißt, eine enorme Anzahl von Österreichern darf nicht wählen, muss aber dann sechs Jahre mit diesem Bundespräsidenten leben, und eine enorme Anzahl von Österreichern, die gewählt hat, kann nicht noch einmal wählen, weil sie bereits verstorben sind.

So werden Unregelmäßigkeiten erst geschaffen.

Geh'mer Tauben vergiften im Park?

Noch lange nicht vorbei VI

Wir haben als einzigen Gewinner: die Angst, sagte Michael Kellner von den Grünen in der Berliner Runde nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Die Sitzordnung ist rechts-links geteilt, zum ersten Mal in dieser Sendung. Aber das eigentliche Thema, das, abgesehen von der Angst, im Raum steht, ist doch das Unverständnis und die Hilflosigkeit angesichts der bundespolitischen Krise, über die die ausländischen Zeitungen breit berichten – zuletzt aus Belgien ein Rückblick auf die Nacht, als Deutschland vor einem Jahr die Kontrolle verlor. Interessant, daß die erheblichen Stimmenzuwächse der AfD bei den sozial Schwachen nicht thematisiert werden. Die Erhöhung des Regelsatzes um nur fünf Euro ab Januar 2017 war eine Woche vor der Wahl bekanntgegeben worden. Die Umverteilung von unten nach unten trieb den Rechten die Wähler zu, spielte in der Berichterstattung der bürgerlichen Medien aber keine Rolle. Heinz Bude sprach im Deutschlandfunk vor einer Woche von einem zunehmenden politischen Repräsentationsdefizit.

Noch lange nicht vorbei V

Bemerkenswert, wie ausführlich die französische Presse derzeit über den Jahrestag der Losung „Wir schaffen das“ berichtet. Le Monde brachte gestern einen Aufmacher mit Angela Merkels offiziellem Kampagnenphoto aus dem Bundestagswahlkampf 2013 (zur Erinnerung: mit beigem Kostüm vor dunkelblauem Hintergrund und Raute). Der Zustandsbeschreibung auf Seite 2 folgt eine Serie in sechs Teilen über Merkels Biographie, die die ganze Woche über noch fortgesetzt wird. Auf der Website nur für Abonnenten zu lesen, man muß also auf andere Lösungen ausweichen oder die Zeitung kaufen.

Über ihre erneute Kandidatur wird derzeit wohl noch verhandelt, und es ist auch schon etwas her, daß man sich ihr biographisch genähert hätte. Unvergessen das Interview das Arno Luik im Sommer 2000 für den Stern mit ihr geführt hatte. Aber die Beiträge der Auslandspresse lesen sich doch in vielem wie ein Nachruf zu Lebzeiten.

Und der Inlandspresse fällt zunehmend auf, daß „Wir schaffen das“ sowohl das Subjekt als auch das Objekt als auch die Tätigkeit völlig offen ließ: Wer schafft was und wie, mit welchen Mitteln? Es ist kein durchdachtes und kluges politisches Konzept, sondern eher das angstvolle Pfeifen im dunklen Keller. Und doch wird man davon ausgehen müssen, daß die große Zahl an Wandernden nicht ohne weiteres abzuwenden waren oder sein werden. So auch Marc Engelhardt vergangenen Sonntagmorgen im Deutschlandfunk: Denn die Menschen verließen ihre Heimat, um für sich persönlich globale Gerechtigkeit herzustellen. Die man ihnen auf Dauer nicht wird vorenthalten können.

Die Festung Europa zerbricht zuerst in Ost und West, dann fällt sie ganz. Völlig egal, übrigens, wer in der Zeit Kanzler war oder sein wird. Um einmal den Blick über die Aufgeregtheiten der Presse hinaus zu weiten.

Noch lange nicht vorbei IV

Der Qualitätsjournalismus zeigt erneut, was er wirklich zu leisten vermag: Dieses Wochenende gab es Wahlen in Australien. Hat man denn irgendetwas davon gehört? Der Sieben-Tages-Rückblick der Tagesschau zeigt, daß es bisher nur zwei Beiträge dazu gegeben hat, nämlich einmal am 2. Juli, ein weiters mal am 3. Juli morgens um sechs.

Das Interessante am Ausgang: Es gibt einen Gleichstand, und derzeit werden die Briefwahlstimmen erneut ausgezählt. Also genau dieselbe Entwicklung wie bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl, die ja bekanntlich wiederholt werden soll – weil es dabei nicht mit rechten Dingen zuging, wie die Titanic spottet. Und ganz ähnlich wie beim britischen Brexit. Mit der kritischen Reflexion dieser Entwicklung ist man offenbar überfordert. Die Nischenmedien arbeiten vor, etwa Telepolis, aber bisher nicht nach.

Aber das ist doch ein Trend: Es gibt ganz offenbar keine klaren Mehrheiten mehr, in mehreren westlichen Gesellschaften, und das ist keine Krise, sondern ein Zeichen für einen Umschwung, es gibt eine allgemeine Wechselstimmung, aber hierzulande ist noch nicht absehbar, in welche Richtung es nach der großen Koalition weitergeht. Ich bin pessimistisch gestimmt, denn es fehlen die großen politischen Utopien, die vorwärts führen könnten.

Noch lange nicht vorbei III

Der Qualitätsjournalismus zeigt im Augenblick, was er wirklich zu leisten vermag: Erst über den Brexit berichten, danach erst fragen, ob die Abstimmung denn überhaupt verbindlich gewesen sei?

Richtig ist auch Fefes Hinweis: Was denn derzeit so alles in den allgemeinen Nachrichten untergehe angesichts von Brexit, Fußball und auch noch Unwetter. Im Bundestag wurden gleichzeitig eine erneute Hartz-IV-Reform und die Erbschaftssteuer beschlossen – beides monatelang diskutiert, aber weitgehend an der Öffentlichkeit der Massenmedien vorbei. Nur in Blogs und in den Pressemitteilungen der Sozialverbände – hier der Paritätische – war darüber regelmäßig zu lesen.

Im Moment sind paradiesische Zeiten für Burying … Man muss schon massiv runterscrollen, um zu anderen Nachrichten zu kommen. Es ist ja nicht so, daß sich mitten im Sommer nichts täte. Im Gegenteil: Vor der parlamentarischen Sommerpause tut sich sogar besonders viel. Das zu kaschieren, ist eine hohe Kunst und ein großes gesellschaftliches Problem zugleich.

Noch lange nicht vorbei II

Auch Klaus Röhl treibt die Frage um, wie es nach dem Brexit mit Englisch als Sprache in Europa weitergehen mag. Er meint, schon wegen der Mitgliedschaft Irlands und Maltas bleibe das Englische weiterhin offizielle Arbeitssprache der Union, in den Arbeitsgremien, in der Europäischen Kommission und als Gerichtssprache könne es aber intern zu einer Verdrängung durch die romanischen Sprachen kommen. Einen stärkeren Einfluß des Deutschen erwartet er nicht: Die Sprachloyalität der deutschen Eliten ist so schwach, dass sie lieber weiterhin ihre Englischkenntnisse vorzeigen. Er erwartet keinen Einfluß des Brexit auf Englisch als Wissenschaftssprache. Höchstens bei EU-weiten Ausschreibungen könne es zu Veränderungen kommen. Er ist gespannt, wie die Mittel in Zukunft verteilt werden.

Im Verfassungsblog merkt man von dem Wandel jedenfalls noch nichts. Maximilian Steinbeis interviewt Gertrude Lübbe-Wolff denn auch ungeniert auf Englisch. Sie weist darauf hin, daß der Austritt Großbritanniens noch nicht erklärt oder gar vollzogen worden sei. Bisher gebe es nur ein Referendum; das müßte nun politisch und rechtlich umgesetzt werden.

Auffällig ist die weitentwickelte wissenschaftliche Blogosphäre im angelsächsischen Raum, die man aus diesem Anlaß erkunden kann. So verweist Jo Shaw im Gespräch mit dem Verfassungsblog auf einen Beitrag des Edinburgher Kollegen. Dessen Blogroll weist weitere Websites und Blogs nach. Auch bei The Conversation findet man weitere etwas fundiertere Beiträge – journalistisch aufbereitet, natürlich, denn das gehört dort zum Konzept, aber genaugenommen ist es ein redigiertes bzw. kuratiertes Autorenblog. Der deutschsprachige Raum hat insoweit ganz sicherlich Nachholbedarf.

Noch lange nicht vorbei

The revolution will not be televised. – Doch, sie wird live gestreamt. Die BBC öffnete vergangene Nacht sogar den Stream für ihr Fernsehprogramm auf ihrer Website für alle. Und so konnte man am frühen Morgen, als sich schon abzeichnete, daß leave in dem First-past-the-post-Wahlsystem mehr Stimmen erhalten würde als remain, mitverfolgen, wie ein konservativer Abgeordneter erklärte, was da eigentlich passiert sei. Immer mehr Briten hätten sich gefragt, so meinte er, „wofür man eigentlich im letzten Krieg gestorben sei“. Jedenfalls wolle man nicht fremdbestimmt werden, nicht nur nicht aus Brüssel, sondern überhaupt, und schon gar nicht von den Deutschen. Das wollte er am Ende dann doch noch einmal sagen. Es war sein letzter Satz, dann endete das Interview morgens um drei Uhr – seiner Zeit.

Damit ginge demnach auch die Nachkriegszeit endgültig zuende. Daran hatten wir gar nicht mehr gedacht. Der Versuch, Europa zusammenzuschließen und die Grenzen zu überwinden im Wege einer immer engeren Rechtsgemeinschaft, er endet hier nun wirklich. Was sich vergangenes Jahr schon abgezeichnet hatte, als Deutschland und Österreich mit der Aufnahme der Flüchtlinge von den anderen EU-Staaten alleingelassen worden waren. Euer Problem, nicht unseres. Gibt es überhaupt noch ein Wir? Der Versuch, das und anstelle des oder zu setzen, wie Ulrich Beck es 1993 in der Erfindung des Politischen genannt hatte. Offenheit, Liberalität. Durchaus auch die Kultur der Digitalität, wie Felix Stalder den gegenwärtigen Zustand nennt. Das alles endet doch nun in einer Abstimmung, die letztlich doch sehr knapp ausgegangen war: 51,3 zu 48,7 Prozent, das ist keine wirkliche Mehrheit. Das legt eher die Frage nahe, ob zu der 50-Prozent-Grenze bei solchen Voten nicht doch auch ein Mindestabstand der Mehrheit über die Minderheit zu fordern wäre, damit sie legitimerweise über die Minderheit obsiegen könne? Immerhin: Auch die Zeit der deutlichen Mehrheiten ist vorbei, das gilt nicht nur für Großbritannien.

Der nationalistische Rechtsruck überall derzeit ist ein einziger großer Reflex gegen die Moderne, aber auch gegen das Kapital, gegen die neoliberale und globalisierende Strömung, die eben auch damals in den 1990er Jahren eingesetzt hatte.

Die Börse zu betrachten, ist langweilig, immer. Interessant wird dagegen zu beobachten sein, wie sich der Brexit auf die Stellung der englischen Sprache in Europa auswirken wird, ob nun andere Sprachen wichtiger werden, wenn nicht mehr überall ein Engländer mit drinsitzt. Ob die Europäische Union wieder frankophiler, romanischer wird?

Heute vor 83 Jahren fand in Neu-Isenburg eine Bücherverbrennung statt, und es sind Gedenkveranstaltungen angekündigt worden, um sich daran zu erinnern. Am 24. Juni 1933 brannten auf dem Wilhelmsplatz Bücher. Man dachte, es wäre vorüber, aber das ist alles noch lange nicht vorbei.

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