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Montag, 29. Februar 2016

Entdeckung hinter dem Haus VI

Einer der interessanteren Züge in der Debatte ist der Hinweis auf den Konflikt Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik. Man las das zuerst bei Rüdiger Safranski im November 2015, damals noch ziemlich fahrig und krude formuliert: Man sieht sich selbst als Rettungsanker aller Vertriebenen und Verlorenen, man praktiziert Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik. Safranski dachte da wohl weniger ans Grundgesetz als an die Philosophie: Gesinnungsethisch ist der Satz von Merkel: Es gibt für die Aufnahme der Flüchtlinge keine Obergrenze, verantwortungsethisch wäre es, zu sagen: Es gibt für ein einzelnes Land wie Deutschland eine Obergrenze. Die deutsche Politik ist vorgeprescht.

Und heute etwas besser ausgearbeitet in einem Interview mit Korad Ott im Deutschlandfunk: Als im Sommer der Zustrom größer und immer größer wurde, habe ich mich von Menschen umgeben gesehen, die Gesinnungsethik vertreten haben. Nicht nur an meinem Lehrstuhl, auch in meiner Familie, auch in meiner Partei, auch in meiner Kirche. Ich habe mich dann motiviert oder vielleicht sogar genötigt gesehen zu sagen: So einfach ist das nicht. … Wir brauchen momentan sehr viel Urteilskraft, sehr viel Nüchternheit und sehr viel Vernunft. Merkel sei im Sommer 2015 gesinnungsethisch losgaloppiert. … Jetzt versucht sie Pläne zu schmieden für eine stärker verantwortungsethische Position. Eine fundamentale christliche Position grenze die säkularen Mitbürger aus. Ott setze als alter Habermas-Schüler immer auf den Diskurs.

Siehe da, fast dreißig Jahre nach meinem Abitur taucht die alte Debatte sehr aktuell wieder auf. Und das Konzept taugt tatsächlich dazu, sie theoretisch greifbar zu machen, denn natürlich ist der monatelange Diskurs in seinem Kern ein Ausgrenzungsdiskurs, gerade auch hinsichtlich der Diskutanten untereinander. Deshalb können nur Argumente allgemein tragfähig sein, die gerade dies vermeiden. – Otts Beitrag ist bei Reclam erschienen.

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