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Samstag, 25. April 2020

Übergänge X

Zum Beispiel weil immer wieder die Rede davon ist, dass sich durch die derzeitigen Verhältnisse auf Dauer etwas verändern werde. In den Massenmedien bekannt geworden ist die Debatte um den etwas blauäugigen Beitrag von Matthias Horx, dem Bazon Brock widersprochen hat: Aus der Geschichte habe noch niemand „einfach mal so“ etwas gelernt, und Optimisten seien „Volksverdummer“, meinte er ketzerisch.

Disruptive Momente bieten eine gute Projektionsfläche für alle möglichen Wünsche nach Veränderung. Die einen sehen derzeit das Bedingungslose Grundeinkommen heranziehen, tax the rich, das Comeback des Staates am Ende der neoliberalen Zeit sei gekommen. Rechte Reflexe hinken dem hinterher und wirken noch hilfloser als sonst. Solche Debatten haben vor allem die Funktion, von der großen Verunsicherung, die derzeit besteht, abzulenken und das jeweilige Lager zu beruhigen, weil sie Hoffnung geben, es gehe am Ende alles gut aus. Sie können auch den Blick auf die tatsächlichen Entwicklungen verstellen. In diesem Sinne sind sie Gegenaufklärung, es sind bloße Fluchtphantasien.

Die große Verunsicherung zeigt sich im Verlust von Vertrauen in eine Umgebung, in der man sich zwar nicht vollkommen gefahrlos, aber doch mit hinreichender Kompetenz einigermaßen bequem bewegen konnte. Man kam zurecht. Heute trauen sich manche Leute nicht einmal ohne Gummihandschuhe und Gesichtsmaske in den nächsten Supermarkt zu gehen. Die U-Bahn-Fahrt wird zur gefährlichen Expedition, bei der bisher unbekannte Gefahren drohen. Die leergekauften Supermärkte bleiben im Gedächtnis und treffen auf tieferliegende Erinnerungen an Notzeiten, die generationenübergreifend weitergegeben worden sind. Vertrautes schwindet, und Vertrauen schwindet.

Dem entspricht, dass alle Entscheidungen derzeit unter einer besonders großer Unsicherheit getroffen werden. Entscheidungen unter Unsicherheit hat es schon immer gegeben, aber nicht so eine große Unsicherheit wie in diesen Wochen. Es sind Unsicherheiten, gegen die man sich nicht versichern kann. Millionen Menschen sind auf das „Corona-Paket“ des Staates angewiesen, und die Zeitungen schreiben, von den 50 Milliarden Euro seien schon neun ausgegeben. Die Umverteilungsmaschine läuft also, aber sie erreicht gerade diejenigen ganz unten gar nicht. Wenn billige Produkte ausverkauft sind und wochenlang nicht mehr geliefert werden, steigen natürlich die Lebenshaltungskosten, und dabei handelt es sich dann auch nicht mehr um eine „kurzzeitige Spitze“, die der einzelne noch auffangen könnte und nach der Rechtsprechung auch selbst aufbringen müsste. Dass es unter diesen Umständen keine groß angelegte Diskussion um die unverzügliche Erhöhung des Regelbedarfs zur Grundsicherung gibt, zeigt, dass die Massenmedien, aber auch die Netzgemeinde sich wenig für die wirkliche soziale Bedürftigkeit interessieren. Die Umverteilung erfolgt von unten in die Mitte, wieder einmal.

Bei realistischer Betrachtung ergibt sich möglicherweise ein Spielraum für Veränderungen bei einigen praktischen Abläufen. Telefon- und Videokonferenzen ersetzen persönliche Begegnungen. Was wir schon ungefähr 20 Jahre lang als Netizens und Webworker gemacht haben – Hangouts, Chats und Skypos, Blogs und kollaboratives Schreiben in Wikis, Etherpads und Google Docs – die Distinktionsmerkmale der Digitalen Bohème, nennen sie jetzt „Homeoffice“. Wer ihm erfolgreich entfloh, findet sich unversehens dorthin zurückversetzt. In den Betrieben und in der öffentlichen Verwaltung werden dafür jetzt Infrastruktur und Kapazitäten aufgebaut, die mithin nicht mehr so bald verschwinden werden, auch wenn dieses oder jenes Virus wieder herdenmäßig gesehen beherrschbar sein wird. Und wenn die Technik einmal vorhanden ist, wird sie erfahrungsgemäß auch genutzt. Inwieweit sie ältere Medien oder Praktiken ersetzt oder verdrängen wird, bleibt freilich abzuwarten.

Spannend bleibt zu beobachten, wie das Schwinden des Dritten Orts im Sinne von Ray Oldenburg – die Bibliotheken, die Gastronomie, die Friseursalons, die Sportstätten, aber auch die Kirchen und dergleichen – sich gesellschaftlich auswirken wird. Die Virtualisierung dieser Orte wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren. Es braucht Empathie, und die entsteht nicht am Bildschirm. Und Dienstleistungen brauchen ebenfalls einen bestimmten Rahmen.

Gleichwohl ist ein Knacks entstanden, den man am Ende nur unvollständig mit digitalen Mitteln wird heilen können, so sehr sich die Nerds auch bemühen werden. Das ist die eigentliche Stelle, an der auszuloten sein wird, wieviel Luft für Neues vorhanden wäre oder ob es nach alledem nicht doch eher wieder zur Restauration gekommen sein wird. Ob man restaurativ denken wird oder ob es auch den Mut zu einem neuen, zu einem transformativen Denken geben wird. Das durchaus auch auf dem aufbaut, was wir in den vergangenen 20 Jahren als Netizens und als Webworker gemacht und damit vorbereitet haben. Denn unsere Generation sitzt heute in den IT-Abteilungen und richtet die gut ausgereifte Technik in den Betrieben und in den öffentlichen Verwaltungen ein. Während die Gesellschaft im übrigen weiterhin auf die kommerziellen Datenkraken angewiesen ist. Aber das ist ein anderes Thema und soll zu einer anderen Zeit besprochen werden.

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