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Der Wanderer 133

Zu seinem 25. Geburtstag hat der Perlentaucher eine Liste der am häufigsten in der Literaturkritik besprochenen Titel aus dem Zeitraum 2000–2024 zusammengestellt (PDF). Mindestaufnahmekriterium waren sechs Rezensionen in den Medien, die der Perlentaucher beobachtet. Darunter ist vieles, woran man sich kaum noch entsinnen mag, was die Breite demonstriert, die in der täglichen Feuilletonschau abgedeckt wird. Immer noch und ziemlich zuverlässig. Der albatros gratuliert zum runden Geburtstag!

„Im Angesicht des Todes“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main

Meine Gedanken kehren immer wieder zu dem Video von Ruth Patir zurück: In My father in the cloud hatte sie den Tod ihres Vaters verarbeitet. Sie beschreibt den künstlerischen Prozess, in dem sie ihn teilweise wieder in Bewegung gebracht hatte. Es brauchte mehrere Anläufe, bis Bewegungen, die sie von sich selbst und ihren Verwandten aufgenommen hatte, so digitalisiert und re-visualisiert werden konnten, dass ein Avatar im Video „tanzte“, wie ihr Vater ihrer Erinnerung nach getanzt hätte. Und am Ende kombinierte sie diese Figur mit ihrem eigenen Avatar und ließ die beiden – noch einmal – gemeinsam tanzen, sich durch die elterliche Wohnung bewegen. Bis sie schließlich allein übrig blieb und sich ihr Avatar von ihrem Vater-Avatar symbolisch lösen konnte. Tanzend zu dem Lied Dancing on my own von Robyn.

Es ist jene Ruth Patir, die sich dieses Jahr weigerte (Paywall), ihr Werk (M)otherland im israelischen Pavilion bei der Biennale in Venedig zu zeigen, solange es keinen Waffenstillstand in Gaza gebe und solange die israelischen Geiseln nicht befreit seien. Die Biennale endet am 24. November, und der Pavilion ist weiterhin geschlossen. Sie traut sich was. Ihr Avatar im Video trägt, wie sie selbst, ein T-Shirt mit der Aufschrift: Abuse of power comes as no surprise.

Das Jüdische Museum Frankfurt am Main zeigt die Arbeit My father in the cloud derzeit in der Ausstellung Im Angesicht des Todes, in der künstlerische Positionen zu Sterben, Tod und Hinterbleiben gezeigt werden, eingebettet in viel Hintergründiges über diese Themen aus jüdischer Sicht vor allem.

Darin ist auch ein Exponat zu sehen, das in Zusammenarbeit mit der Israelischen Nationalbibliothek entstanden war. Auf einem „aufgeschlagenen Buch“ werden Seiten aus dem alten, retrodigitalisierten Memorbuch der Frankfurter Jüdischen Gemeinde projiziert und immer wieder weiter „geblättert“. Das Digitalisat ist, soweit ich sehe, nicht online verfügbar. Es werden aber auch historische und neuere Bücher zum Thema im Original gezeigt.

Die Wahl-Frankfurterin Laura J. Padgett hat den neuen jüdischen Friedhof und die Trauerhalle sowie die dortigen Nebenräume fotografiert. Wie auch alles, was wir hier sehen, bei aller Historizität, ganz in der Gegenwart verortet ist: Hell und sachlich und dokumentarisch wird hier erzählt, das ist fern von aller Romantisierung und Verklärung. Manchmal tut es weh, und manchmal tröstet es.

Die Schau ist so vielfältig komponiert und präsentiert, dass man aus dem reichen Material vieles mitnimmt, das sich erst später – in der Erinnerung – sortiert: Gespräche über das Sterben, Gebete der Trauernden, Darstellungen des Todesengels bis hin zu jüdischem Brauchtum rund um den Tod, Gegenstände aus Beerdigungen, Musik der Trauer. Sogar ein deutscher, ein israelischer und ein amerikanischer Organspendeausweis werden gezeigt. Ebenso erzählen Geistliche von Bestattungen während der Corona-Pandemie. Von den Beschränkungen, den Bedrängungen und der Unmöglichkeit zu trauern und sich von dem Toten zu trennen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Ob das alles so sein musste, ob das überhaupt nötig gewesen wäre, bleibt dabei offen. Eine unbeantwortete Frage, die unausgesprochen über dem Video liegt. Ein doppeltes Un.

Aber am Ende geht man hinaus ins herbstliche Frankfurt. Der Main ist in der Nähe. Und manches, was ich hier zum ersten Mal sah oder erfuhr, klingt noch länger in mir nach. Es ist eine Ausstellung, die gut tut, weil sie so vieles zeigt und ausspricht, was sonst vermieden wird. Es ist aber besser, sich mit dem Tod und mit dem Sterben zu beschäftigen. Der November ist die richtige Zeit dafür.

Im Angesicht des Todes. Blicke auf das Lebensende“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Katalog im Verlag Hentrich & Hentrich. Noch bis 6. Juli 2025.

Der Wanderer 130

Zur Frankfurter Buchmesse zeigt das Städel italienische Zeichnungen aus dem 17. Jahrhundert aus eigenem Bestand. Darunter sind sehr schöne Blätter. Ausgenommen ist Venedig, weil es dazu zuletzt 2006 eine Ausstellung gegeben habe. Hätte man aber durchaus ergänzen können, kann mich nicht soweit zurück erinnern.

Der Blick auf Klassiker schult das Sehen. Aufschlussreich fand ich, im Anschluss an den italienischen Barock in die Gegenwartskunst zu gehen, wo Muntean/Rosenblum im Metzler-Foyer fotorealistische Bilder zeigen, die so ganz das Gegenteil der heiligen Familie darstellen. Jugend und Einsamkeit und Leere an Nicht-Orten. Aber auch sie setzen Akzente, arbeiten mit Perspektive und Licht. Die Parallelen hatte ich noch nicht so deutlich bemerkt, als ich die Bilder vor ein paar Wochen zum ersten Mal gesehen hatte.

In Erinnerung bleibt mir ein Werktitel von Muntean/Rosenblum:

We were always in the right place at the wrong time, the wrong place at the right time, always just missing each other, always just a few inches from figuring the whole thing out.

Fantasie und Leidenschaft. Zeichnen von Carracci bis Bernini bis 12. Januar 2025. Muntean/Rosenblum. Mirror of Thoughts bis 1. Dezember 2024 im Städelmuseum Frankfurt am Main.

Der Wanderer 128

In der letzten Zeit habe ich einige Newsletter vermisst, die ich mal abonniert hatte. Vielleicht sortieren meine Spamfilter doch zuviel heraus aus dem Tagesgeschäft? Auch Museen und Buchverlage? Es stellt sich heraus, dass beim Neu-Abonnieren tatsächlich kein Alert angezeigt oder versendet wird. Also war meine Newsletter-Adresse aus dem Verteiler gestrichen worden. Früher gab es in solchen Fällen einen Hinweis per Mail: Bitte neu bestellen. Das wurde wohl abgeschafft.

Der Wanderer 125

Zwei Filme:

Nachdem ich mehrere Jahre gar nicht ins Museum gegangen war, fand ich bei meiner Rückkehr in die Sammlung der Gegenwartskunst im Frankfurter Städel Daniel Richters Horde an einem ganz anderen Platz wieder. Die neue Sammlungsleiterin Svenja Grosser hat das monumentale Bild nach vorne geholt, ins Licht gehängt, man tritt ihm gegenüber. Da stehen sie vor mir, lebensgroß, über-lebensgroß, über-lebens-groß. Und böse. Sind das überhaupt die Bösen, wie man sie kennt? Oder sind sie in einer Uniform? Muss ich Angst haben vor den Menschen in Uniformen? Daniel Richter, der Hamburger Hafenstraße nahestehend, meint wohl: Ja. Oder doch nicht? Anschauen! Man sieht, wie Richter malt, und wie die Bilder, die er vor längerem gemalt hatte, ihren Weg in die Welt hinaus nehmen, wie sie auf den Weg gebracht werden, in Ausstellungen, in den Kunsthandel, zur Galeristin, zu Sammlern. Und Richter erzählt, was er sich beim Malen denkt und gedacht hat. Und man sieht, wie er malt. Mit zwei exotischen Vögeln auf der Schulter, auf dem Kopf, mit lauter Punkmusik steht er vor riesigen Leinwänden in einem riesigen Atelier. Er meint es ernst. Richter rockt.

Der Wanderer 120

Meine intensivere Beschäftigung mit Frankreich und mit der französischen Sprache und Literatur hatte wieder eingesetzt nach dem Besuch in der Daumier-Ausstellung im Städel Ende Februar.

Der Wanderer 114

Nur bei den französischen und Schweizer Websites liest man heute Abend schon etwas darüber. Außerhalb der französischen Welt hatte man ihn längst aus den Augen verloren. Bernard Pivot, der Literaturpapst von der anderen Seite des Rheins, ist heute gestorben. Und mit ihm geht wieder ein Teil der 1980er Jahre unter, mit den großen Literatursendungen, den großen Debatten unter alten weißen Männern. Als das Buch noch prägend war und man gelesen haben musste, um die Gespräche zu verstehen, um Anspielungen nachvollziehen zu können. Lange her, so lange schon. – R.I.P.

Der Wanderer 113

Habe heute den Samstag teilweise vorgezogen. Habe was Gutes gekocht. Habe was Wichtiges gelesen. Habe nachgedacht. Das war schön.

Heute war auch Eröffnungsabend des Salzburger Stiers 2024. Das Radio feiert das Kabarett, und das schon seit 1982 in ununterbrochener Reihe. Ist schon was Größeres, wie man auf der Website des Preises sehen kann, wo die Sendetermine in den Hörfunkprogrammen zusammengestellt sind. Nur Österreich 1 und SRF 1 übertrugen live; morgen Abend sollen noch der MDR und Rai Südtirol zur eigentlichen Preisverleihung hinzustoßen. Den anderen deutschsprachigen Programmen ist dieses ziemlich hochwertige Angebot nur eine Konserve wert. Live-Übertragungen am Abend gibt es in der ARD nur noch manchmal für Fußballspiele, selten für klassische Konzerte, noch seltener für Jazzkonzerte, aber das ist schon sehr selten.

Keine Post. Kein Anruf.

Der Wanderer 112

Während die ARD damit begonnen hat, ihre Kulturwellen und ihre Nachrichtenprogramme kaputtzuschrumpfen, wird beim ORF das Kulturprogramm Österreich 1 sogar leicht ausgebaut. Und während die ARD viele Webchannels eingestellt hat, streamt Radio France mit Concerts Radio France eines der schönsten Internetradios, das ich kenne. Dort laufen rund um die Uhr Mitschnitte von Livekonzerten des hauseigenen Sinfonieorchesters. Schön an- und abmoderiert. Und kein Klein-Klein, sondern am ganzen Stück, vom ersten Takt bis zum Schlussapplaus. Hören, solange es das noch gibt.

Der Wanderer 103

Nebenan beklagt sich Anke Gröner über die viel zu vollen Blockbuster-Ausstellungen, die derzeit noch andauern beziehungsweise gerade zuende gehen. Sie ging trotz allem in Caspar David Friedrich in Hamburg. Und andere mehr.

Ich stand in den letzten Wochen mehrmals vor der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main – und ging nicht hinein zu Feininger. „Links, das ist die Schlange für die Kasse, und rechts ist Online.“

Die vielen Menschen, der Andrang, die beengten Verhältnisse und das Langeschlangestehen (sic) sind so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir unter einer Kunstausstellung vorstelle. Museums- und Ausstellungsbesuche werde ich in Zukunft also anders angehen lassen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, den das nervt und der sich anderweitig orientiert. Die Bedeutung der Sammlungen und der Dauerausstellungen wächst. Das wird dadurch erleichtert, dass ich schon so lange im Kulturbetrieb unterwegs bin, dass ich die Sammlungen in der Nähe ganz gut kenne. Diejenigen in größerer Entfernung werden nun hinzukommen.

Weg von den Events, weg vom Kunstkonsum als organisiertem Ereignis, hin zu selbstbestimmten und, wenn man so will, auch selbst kuratierten Kunsterfahrungen. Und weg von den größeren und großen Hallen, hin zu den kleineren Häusern. Wo Kunst noch möglich ist, ohne Online-Buchung und festgezurrtem Zeitfenster, zwischen mehreren Gruppenreisen und so. Ähnlich wie früher. Muss doch gehen. Irgendwie.

Meine These wäre, dass die im Vergleich zu früheren Zeiten heute übervollen Ausstellungen etwas mit dem zu tun haben, was Stefan Schulz in seinem Buch die Altenrepublik genannt hatte. Die Baby-Boomer haben jetzt genügend Zeit, denn die große Verrentungswelle hat eingesetzt, und so bevölkern sie nun die Ausstellungshäuser und erobern sich den kulturellen Raum, und zwar zu Zeiten, zu denen sie bis dahin – zumindest in dieser Anzahl – dort nicht anwesend sein konnten. Wir werden es beobachten.

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