Der Wanderer 116
Warm.
Warm.
Immer noch kühl, aber warme Sonne.
Es war ein ziemlich warmes Wochenende. Noch nicht heiß, aber schon sehr warm. Sehr schnell war es so warm geworden. Zu schnell. Das Sonnenlicht etwas getrübt vom Sahara-Sand in der Luft. Aber erst heute Morgen ist er auch auf der Balkonbrüstung und auf den Fenstern zu sehen. Die Natur ist noch ganz am Anfang, was den Fühling angeht, aber selbst die Birke, die immer zu den Nachzüglern gehörte, trägt nun ihre ersten neuen Blätter. Noch hellgrün. Noch ganz hellgrün.
Der Herbst tut nochmal so, als wäre er Spätsommer. Das schafft er jetzt nur noch am späten Nachmittag, und wir tun gut daran, die Sonne und ihre immer noch enorme Wärme in die Wohnung und ins Herz herein zu lassen. Morgens sieht man noch die größeren Insekten, die am Balkon an der Wand sitzen, wo sie übernachtet haben. Und auch die Eichhörnchen sieht man jetzt wieder öfter. Ich freue mich auf die Sonne. Wenn der Nebel weggeht, und die leichtwarmen Oktoberstrahlen durch dringen, und sei es auch nur für ein paar Stunden.
Es ist jetzt nicht mehr Spätsommer, sondern schon eher Frühherbst. Am Morgen sehr kühl. Wenn die Sonne aufgeht, wird es dann schnell ziemlich warm. Die Sonne steht auch am Mittag so schräg, dass man die Spinnennetze deutlich sehen kann, an der Ampel sind es gleich zwei, und sie werden offenbar gepflegt, sind also einträglich für die Spinne, die sich durch sie ernährt. Ich stelle mich hinter die Ampel in den Schatten und warte, bis sie auf grün schaltet. Und so schnell, wie die Sonne morgens aufgeht, verschwindet sie am späten Nachmittag auch schon wieder und entzieht der Welt die Wärme, die sie ihr für wenige Stunden nur gab. Wo sind die beiden Schmetterlinge, die heute an meinem Fenster vorbei flogen, jetzt, wo es dunkel wird? Mögen sie beschützt sein!
Erst summt es leise, dann wackelt etwas oben links in mein Blickfeld hinein. Ich schaue vom Bildschirm auf. Ein kleiner Marienkäfer ist hereingekommen und sitzt nun seitlich am Aichberger, genauer gesagt: am Aichberger-Karton, auf der Seite, die dem Schönfelder-Karton zugewandt ist, der daneben auf meiner Fensterbank liegt. Ich halte ihm ein kleines Stück Papier entgegen, der Einkaufszettel für nächste Woche. Der Marienkäfer fällt herunter auf den Rücken und zappelt mit seinen Beinchen, hält sich dann aber schnell wieder an dem Zettel fest. Ich drehe den Zettel um und führe ihn in Richtung Balkontüre. Und dann fliegt der Käfer davon in einem eleganten Bogen schräg nach oben zu Licht und Himmel, wo er herkam, bevor ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Das muss ich gleich aufschreiben, damit es nicht verlorengeht.
Und so ist die Welt auf einmal wieder warm und bunt und laut geworden. Schon die kleinen Blättchen an den Bäumen und an den Sträuchern füllen den Raum und machen ihn schwerer durch-schau-bar. Die Kröten sind schon gewandert, und die Vögel zwitschern, als hätten sie etwas ganz wichtiges zu erzählen, das jetzt keinen Aufschub mehr dulde. Zwischendrin rote, weiße und gelbe Tupfer von Blüten; die ersten fallen schon wieder ab. Und auch die Hummeln sind schon unterwegs und die Wespen – im März/April. Meine Hausspinne krabbelt einen Tick sportlicher als sonst an der Wand entlang und über den Boden weg. Und am Mainufer fängt sich die Sonne.
Black is the colour of my true love's hair. Ein Klassiker von Nina Simone. So tief und traurig wie der endende Sommer, dessen große Fracht schon längst verladen ist. Ein Endspiel aus Sonne und Licht und noch einmal Wärme. Die gelben und braunen Tupfen in der Natur nehmen zu, sie werden größer und kräftiger, bis auch das letzte Grün gegangen sein wird. Eine Jahreszeit der vielen kleinen Abschiede – die letzten Wespen, die letzten wilden Rosen, bald schon die letzten Zwetschgen. Weggehen und gehen lassen. Und immer stirbt ein bißchen Welt mit jedem Tag. Jeder Tag ein bißchen kürzer als der vorhergehende. Bis es wieder aufwärts geht?
Nach dem übermütig-warmen Nachmittag verschwindet die Sonne brüsk hinter den Wolken, und das Zwitschern der Vögel verstummt im kalten Wind.
Der Igel fiel mir auf, als ich die Straße entlang ging. Erst lief er unter das geparkte dunkle Auto, dann aber weiter, darunter hindurch und quer über den Fußweg, direkt auf das niedrige Tor zu. Als ich mich immer mehr näherte, nahm er kurz Maß und lief dann mit voller Geschwindigkeit zu dem Tor, machte sich so schlank es ging und schlüpfte unter dem Tor hindurch, von mir weg. Das dürfte ihm nicht leicht gefallen sein, er kam gerade noch so hindurch und brachte sich vor mir, dem gefährlichen Menschen, in Sicherheit in Richtung Rasen und dann hinüber zur Hecke, unter der er kurz darauf wieder verschwand.