Der konservative Reflex VIII
Die großen politischen Parteien fungieren nicht mehr als Agenturen zur Auswahl des Personals für Staat und Verwaltung. Auf En Marche ! und La France insoumise folgt jetzt wahrscheinlich ein Wiedergänger des linken Flügels der PS, die vor der Spaltung stehe, schreibt Rudolf Balmer heute in der taz. Das wäre dann aber schon die zweite Spaltung der Sozialisten, denn auch Macron kam ja daher. Also insgesamt eine Dreiteilung. Es heißt, die Wendehälse seien schon auf dem Weg. Wenig überraschend. Wie sich die Bilder gleichen.
Der konservative Reflex VII
Die Berichterstattung über den Wahlsieg von Emmanuel Macron bei den französischen Präsidentschaftswahlen ist undifferenziert und geht an den tiefgreifenden Problemen weitgehend vorbei.
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Freilich ist es zu begrüßen, wenn die Rechtsextremisten gestoppt werden. Aber sie waren diesmal so weit gekommen wie niemals zuvor.
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Die großen politischen Parteien fungieren nicht mehr als Agenturen zur Auswahl des Personals für Staat und Verwaltung. Zwar wurde in den „Elitehochschulen“ immer schon eine Vorauswahl getroffen, am Ende mußte man aber stets zusätzlich den Weg über die Partei gehen, um an die Spitze zu kommen. An deren Stelle trat diesmal eine „Bewegung“, die der Kandidat privat aufgezogen hatte, weil ihm die Sozialisten zu links waren, und der nun eine Art deep state gegenüber steht, den der neu gewählte Präsident jetzt erst einmal zur Durchsetzung seines Programms gewinnen muß. Das erinnert an den Aufstieg Trumps in den USA und ist insgesamt eher ein Krisenzeichen der Demokratie.
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Darauf verweisen auch die geringste Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang seit 1969 und 12 % ungültige Stimmen.
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Macron ist kein „Sozialliberaler“, wie es in den Nachrichten des Deutschlandfunks immer wieder heißt, sondern ein Neoliberaler. Seine sozialpolitischen „Reformen“, die mit der Agenda 2010 verglichen worden waren, hatten 2016 – erst ein Jahr ist das her – zu monatelangen Aufständen geführt. Da wird noch einiges auf Frankreich zukommen.
Der konservative Reflex VI
Nach der ersten Runde in der französischen Présidentielle kam es zu Protesten gegen beide Gewinner. Dabei geht es schon nicht mehr um eine Entscheidung für das kleinere Übel. Wenn im Fall der USA noch die Hoffnung besteht, der deep state werde das Schlimmste verhindern, scheint es das in Frankreich nicht zu geben. Und Johanna Bussemer meint: Viele Linke werden unter Umständen ‚blanc‘, d. h. weiß und damit offiziell ungültig wählen. Denn für sie ist es in etwa so, als müssten wir deutschen Linken uns zwischen FDP-Lindner und AFD-Gauland entscheiden. Damit zeigt sich abermals eine Tragödie die tief im Herzen der 5. Republik verankert ist. Denn so gut in der Theorie der Ansatz sein mag, dass der Präsident oder die Präsidentin von der Bevölkerung direkt gewählt wird, so sehr zeigt sich in der Praxis, dass in der Stichwahl die meisten Wählenden eine Entscheidung gegen einen bestimmten Ausgang der Wahl treffen müssen und nicht für eine gewünschte Politik. – Das Gegenteil ist genauso falsch, sagte einst Antje Schrupp.
40 Jahre Radio Dreyeckland
In der neuen Ausgabe der iz3w gibt es einen Schwerpunkt zu Aktivismus in Freien Radios. Der Anlaß: Radio Dreyeckland aus Freiburg wird 40 Jahre alt. Freie Texte auf der Website der Zeitschrift:
- Editorial: Dazwischenfunken.
- „Nichts als die Wirklichkeit“. Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen.
- „Mühsam und zugleich großartig“: Radio Dreyeckland feiert dieses Jahr 40-jähriges Jubliäum. iz3w sprach mit fünf Aktiven über ihre Erfahrungen mit solidarischem Radiomachen und die Frage, wie die internationalistische Bewegung Radio Dreyeckland über vier Jahrzehnte mitgeprägt hat – im praktischen Alltag des Radiomachens und in der Themensetzung.
Herwarth Walden: Betrieb
Es wird gewählt. Das deutsche Volk politisiert sich. Immer und nur, wenn gewählt wird. Da dieses Volksvergnügen seltener stattfindet als der Karneval, sind Vorbereitung und Stimmung um so größer. Namentlich die Intellektuellen machen von sich reden und reden. Sonst außerhalb der Karnevalszeit sind sie grundsätzlich unpolitisch. Grundsatz ist bekanntlich das Zeichen des Charakters. Von dem der große Dichter Paul Scheerbart die klare Erklärung gab: Charakter ist nur Eigensinn. Aber die Intellektuellen haben Charakter. Während des Karnevals. Unter Intellektuellen versteht man die klassenlose Klasse der Menschen, die andern den Geist einreden wollen, den sie nicht haben. Sie beschäftigen sich während dieses Schlafzustandes mit den freien Berufen. Das sind die Berufe, die viel Geld kosten, aber keins einbringen, wenn man keins hat. Dafür ist die Beschäftigung interessant. Das Leben Gottes, das Liebesleben Goethes, die Suche nach Bazillen, die Rechtsfindung im Unrecht, die Ausgrabung alter Steintöpfe, die Beschilderung der Natur nebst sämtlichen Lebewesen. Das sind so Berufe an sich, jetzt aber heißt es wählen. Alle sind Professoren. Kandidaten sind aufgestellt oder stellen sich auf und alle Professoren können prüfen. Sie wissen genau soviel von ihnen wie die Professoren, die es auch außerhalb des Karnevals sind. Man liest von ihnen, man hört von ihnen, sie werden von Künstlern oder Fotografen verunbildet. Kurz, man macht sich seine Meinung. Der eine Kandidat versprach und der andere verspricht. Gibt es eine schönere Zeit zu träumen, als Karneval oder Wahl? Vergangenheit und Zukunft werden lebendig. Zum Karneval gehört die Mode von gestern oder von morgen. Nur nicht die schale Gegenwart. Gestern und morgen sind die ewigen Parolen. Parolen müssen sein. Ein letzter militärischer Schimmer. Fahnen und Musik. Karneval.
Aus: Herwarth Walden. Betrieb. In: Der Sturm 21, Nr. 3, 1932, S. 65f, 65. [1]
Der neue Gesandte VI
Und man fragt sich doch, warum das Ergebnis der jüngsten Wahl nicht als das bezeichnet wird, was es doch eigentlich war – wenn die linkeren Parteien jeweils Stimmen verloren und die rechten welche hinzugewonnen haben: Ein Rechtsruck.
Der neue Gesandte V
Aber man kann es ja mal mit einem anderen probieren, schrieb Stephan Lessenich gestern in der Süddeutschen Zeitung. Natürlich, das ist möglich. Sie sind alle austauschbar. Oder man stellt sich zumindest vor, sie wären es. Der eine so gut wie der andere. Und wenn das eine Fahrrad nicht mehr fährt, dann nehme ich eben das andere. Bloß daß ich es bin, der in die Pedale treten muß, beidesmal. Der eine statt der anderen – aus Angst vor wirklicher Veränderung und um weiter leugnen zu können, daß es doch nicht so weitergehen könne wie früher. Alles soll wieder so sein wie damals. Und so reichen sie ihm die Hand, von allen Seiten, auch von der linksgelegenen Seite, wo es heißt, man müsse sich jetzt darauf einstellen. Es könnte weitergehen, ohne daß es wirklich anders wird – auch für sie ein großes Versprechen. Und man müsse dabei sein, wenn es dazu käme. Unbedingt.
Der neue Gesandte IV
Friedrich Küppersbusch, der seit einer Weile auf Soundcloud podcastet (RSS), hat in seiner Kolumne bei der taz bemerkt, daß die Gegenseite in die Falle getappt sei und das unbegleitete Flüchtlingskind „Agenda“ mit Freuden adoptiere. Er merkt aber auch: „Make Sozialpolitik great again“ krankt an dem „again“.
A propos great: Auf derselben Website liest man, das Kindergeld für EU-Ausländer solle an das Preisniveau im Herkunftsland gekoppelt werden. Harald Thomé zitiert in seinem heutigen Newsletter Beck aktuell: Betroffen davon wären – in dieser Reinenfolge – vor allem Polen, Rumänen, Kroaten und Bulgaren – wenn die dortigen Behörden überhaupt bei gleichzeitigem hiesigem Bezug noch Leistungen auszahlen. Die große Koalition ist sich Beck Online zufolge einig. Die EU-Kommission habe das Vorhaben abgelehnt. Damit könnten maximal 159 Millionen Euro jährlich eingespart werden, bei einem Einnahmenüberschuß von zuletzt 23,7 Milliarden Euro.
Der neue Gesandte III
Während die Linke bemerkt hat, daß ihr die Felle davonschwimmen, erklärt Stefan Sell gewohnt eloquent bei Makroskop, warum die sozialpolitische Diskussion der letzten Tage abwegig ist:
Während zu Beginn der 1990er Jahre noch 80 Prozent der Arbeitslosen Anspruch auf Arbeitslosengeld aus der Arbeitslosenversicherung hatten, ist es heute umgekehrt: 70 Prozent sind von vornherein auf Hartz-IV-Leistungen.
Mit anderen Worten: Sie zahlen, soweit sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren oder sind, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, aus der sie niemals Leistungen beziehen werden bzw. aus der sie niemals ausreichende Leistungen erhalten können. Sie sind zu kurz beschäftigt, und sie erhalten zu niedrige Löhne, so daß sie aus dem Grundsicherungsniveau niemals herauskommen können. Ihre Ansprüche scheitern also schon bei den Zugangsvoraussetzungen zu einer höheren sozialen Sicherung. Und um sie geht es in der aktuellen Debatte deshalb ja auch gar nicht. Für sie soll sich nichts ändern, denn diskutiert wird nur über die Bezugsdauer derjenigen, die in der Arbeitslosenversicherung sind. Es geht um diejenigen, die sowieso schon drin sind überall und ganz lange. Denn die Älteren haben die Mehrheit bei dieser Bundestagswahl, und sie werden sie entscheiden.
Sell hält dem entgegen, die derzeitigen Vorschläge seien keine Abkehr von der Agenda-Politik, wonach Deutschland den besten Niedriglohnsektor in Europa bekommen sollte – und bekommen hat. Sie stellen die Systemfrage nicht, deshalb führen sie auch nicht weiter, sondern sorgen – unter reger Beteiligung der parteipolitisch besetzten Massenmedien – zu einem Schaukampf, der noch lange so weiter gehen wird und der ausschließlich das Ziel hat, von den tatsächlichen Verhältnissen abzulenken, denn wenn diese bewußt würden, wäre ziemlich schnell klar, daß der Kaiser nackt ist.
Auf diese Weise wird das Repräsentationsdefizit eher verschärft als ihm abzuhelfen. Die Spirale nach unten, in die Krise hinein, wird nicht aufgehalten, im Gegenteil, es geht immer weiter hinein, statt nach wirklichen Lösungen zu suchen.
Der neue Gesandte II
Der Diskurs über die Reform der Reform von 2005 wird von oben geführt. Die bürgerlichen Medien steigen ein. Es geht nicht um Aufstieg, sondern darum, daß der Abstieg schon nicht kommen werde, weil es eine Lebensleistung gebe, die dem wirksam entgegenstehe. Peinlich nur, wenn herauskommt, daß man sich selbst nicht dran hielte. Leeren Versprechungen folgen noch leerere. Kein wirkliches Angebot, weder für die Ausgeschlossenen noch für diejenigen, die eines suchen, das sie vor dem Ausgeschlossenwerden schützen täte oder ihnen irgendwie sonst weiterhülfe.