Noch lange nicht vorbei VII
Was derzeit innenpolitisch geschieht, ist nicht überraschend. Man konnte es erwarten, denn es wiederholt sich im wesentlichen, was jahrelang in Österreich vorausgegangen war. Um das zu bemerken, hätte man die Entwicklung dort verfolgt haben müssen, natürlich. Die wenigsten tun das, aber ich mittlerweile schon, denn es lohnt sich. Es reicht für den Anfang schon ein Blick auf den derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf. Marlene Streeruwitz hat das gerade im Standard kommentiert, und sie schreibt auf ihrer Website dagegen an mit einem Wahlkampfroman, in wöchentlichen Fortsetzungen. Weil der Roman als Kunstform die einzige Möglichkeit ist, abstrakte Verhältnisse wie eine politische Entscheidung auf das Leben zu beziehen und damit den Sonderfall des Allgemeinen herauszuarbeiten.
Ich glaube auch, es ist ernst geworden, es kommt darauf an, und die Ursachen liegen in erster Linie im Widerstand gegen die Modernisierung der Gesellschaft im ganzen – technologisch, ideologisch, sozial. Nicht nur in Europa, übrigens, sondern auch in den USA, wo Hillary Clinton gerade die Wähler von Trump wahrscheinlich ziemlich zutreffend beschrieben hat. Es ist eine Art modernitätsfeindliche, antimoderne Gegenströmung, die zwar eine Minderheit ist, aber eine doch ziemlich umfangreiche, so sehr, daß man nun nicht mehr an ihr vorbeikommt. Die jahrelang in der Schweigespirale war. Es ist die alte Stahlhelmfraktion bzw. deren Nachkommen, es sind Modernisierungsverlierer (wer ist das nicht?) und es sind Leute, die einfach nicht mehr mitkommen, die die immer komplexer werdende Welt nicht mehr verstehen und die nicht anders! rufen, sondern zurück! Die endlich wieder bleiben wollen, wo sie nie gewesen sind und wo kein Weg hin führen kann. Denn es geht ja nur nach vorne, niemals rückwärts.
Mit der Zeit zeigt sich ein Profil der Reaktion.
Und das alles muß man erstmal aushalten können. Siehe Armin Nassehi über die Allensbach-Umfrage zu der zunehmenden Angst unter den 30–59-Jährigen.
Unter zehn Cent pro Artikel
Beim Spiegel hat sich in den letzten Tagen mehr getan als nur ein Facelifting für die alte Tante SpOn – die 1996 mal so aussah. Auf ihre Hauptseite setzen sie jetzt häufiger Beiträge, von denen nur der Teaser frei lesbar ist. Wer mehr haben möchte, muß 39 Cent zahlen. Für eine ganze Woche dieser „Spiegel-Plus“-Beiträge hätte der Verlag gerne 3,90 Euro. Das ist eine Menge Geld, und man denkt an Fefes Beitrag über die Abo-Verträge von FAZ und Süddeutscher Zeitung, die auch ziemlich happig daherkommen. Oder täuscht der Eindruck?
Eher nicht. Beim Chaosradio gab es im vergangenen Mai eine Sendung über Online-Werbung. Ab Minute 01:39:16 werden Gegenmodelle zur Werbefinanzierung diskutiert und den Einnahmen aus der Werbung gegenübergestellt. Die profitablen Portale, also diejenigen, die mehr als eine „schwarze Null schreiben“, nehmen dabei „unter zehn Cent pro Artikel“ pro Leser ein, bezogen auf ihre Einnahmen für die jeweilige Seite, geteilt durch die Zahl der Leser eines Artikels, der mit Werbung versehen war. Die Einnahmen durch das User-Tracking muß man wohl noch dazu rechnen, denn mit diesen Daten bezahlen wir ja ebenfalls und zusätzlich („Du bist das Produkt“).
Daran sieht man, wieviel Luft in solchen Mondpreisen steckt und warum es legitim und notwendig ist, auf Alternativen auszuweichen, um sich zu informieren. Es steckt sogar unverschämt viel Luft in solchen Preisen. Und man kann das überhaupt nur ernsthaft vorstellen, weil die meisten Leute von den Online-Angeboten der Bibliotheken auch im Bereich E-Paper immer noch gar nichts wissen. Auch in der Sendung des Chaosradios kein Wort dazu. Mir mittlerweile unverständlich.
Die Zukunft kann nur eine kollektive Pauschallösung für alle Verlage gemeinsam sein. Wenn ich vierzig Euro zahle (sic!), darf ich erwarten, daß ich Zugriff auf die gesamte deutschsprachige Presse erhalte, und zwar aktuell und Archiv. Zugang und Abrechnung erfolgen über meine Bibliothek über die Nutzungsgebühren. So können auch sozial Bedürftige leicht eine angemessene Vergünstigung erhalten: Information als Grundrecht wäre für sie freizustellen, wie heute schon. Damit wären die privaten Verlage genauso gut bedient wie die Rundfunkanstalten. Man könnte sogar mal wieder eine Kulturflatrate für alles zusammen andenken – wem das nicht anno 2016 zu retro wäre…
Noch lange nicht vorbei VI
Wir haben als einzigen Gewinner: die Angst, sagte Michael Kellner von den Grünen in der Berliner Runde nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Die Sitzordnung ist rechts-links geteilt, zum ersten Mal in dieser Sendung. Aber das eigentliche Thema, das, abgesehen von der Angst, im Raum steht, ist doch das Unverständnis und die Hilflosigkeit angesichts der bundespolitischen Krise, über die die ausländischen Zeitungen breit berichten – zuletzt aus Belgien ein Rückblick auf die Nacht, als Deutschland vor einem Jahr die Kontrolle verlor. Interessant, daß die erheblichen Stimmenzuwächse der AfD bei den sozial Schwachen nicht thematisiert werden. Die Erhöhung des Regelsatzes um nur fünf Euro ab Januar 2017 war eine Woche vor der Wahl bekanntgegeben worden. Die Umverteilung von unten nach unten trieb den Rechten die Wähler zu, spielte in der Berichterstattung der bürgerlichen Medien aber keine Rolle. Heinz Bude sprach im Deutschlandfunk vor einer Woche von einem zunehmenden politischen Repräsentationsdefizit.
Noch lange nicht vorbei V
Bemerkenswert, wie ausführlich die französische Presse derzeit über den Jahrestag der Losung „Wir schaffen das“ berichtet. Le Monde brachte gestern einen Aufmacher mit Angela Merkels offiziellem Kampagnenphoto aus dem Bundestagswahlkampf 2013 (zur Erinnerung: mit beigem Kostüm vor dunkelblauem Hintergrund und Raute). Der Zustandsbeschreibung auf Seite 2 folgt eine Serie in sechs Teilen über Merkels Biographie, die die ganze Woche über noch fortgesetzt wird. Auf der Website nur für Abonnenten zu lesen, man muß also auf andere Lösungen ausweichen oder die Zeitung kaufen.
Über ihre erneute Kandidatur wird derzeit wohl noch verhandelt, und es ist auch schon etwas her, daß man sich ihr biographisch genähert hätte. Unvergessen das Interview das Arno Luik im Sommer 2000 für den Stern mit ihr geführt hatte. Aber die Beiträge der Auslandspresse lesen sich doch in vielem wie ein Nachruf zu Lebzeiten.
Und der Inlandspresse fällt zunehmend auf, daß „Wir schaffen das“ sowohl das Subjekt als auch das Objekt als auch die Tätigkeit völlig offen ließ: Wer schafft was und wie, mit welchen Mitteln? Es ist kein durchdachtes und kluges politisches Konzept, sondern eher das angstvolle Pfeifen im dunklen Keller. Und doch wird man davon ausgehen müssen, daß die große Zahl an Wandernden nicht ohne weiteres abzuwenden waren oder sein werden. So auch Marc Engelhardt vergangenen Sonntagmorgen im Deutschlandfunk: Denn die Menschen verließen ihre Heimat, um für sich persönlich globale Gerechtigkeit herzustellen. Die man ihnen auf Dauer nicht wird vorenthalten können.
Die Festung Europa zerbricht zuerst in Ost und West, dann fällt sie ganz. Völlig egal, übrigens, wer in der Zeit Kanzler war oder sein wird. Um einmal den Blick über die Aufgeregtheiten der Presse hinaus zu weiten.
Auf dem Olymp II
Tilo Jung hat Jens Weinreich in Rio de Janeiro interviewt: …mag sein, daß es einen von tausend gibt, der nicht gedopt ist – alles andere anzunehmen, ist einfach nur naiv und spricht gegen jede Regel und gegen jede Erfahrung… (via Sport and Politics).
Noch lange nicht vorbei IV
Der Qualitätsjournalismus zeigt erneut, was er wirklich zu leisten vermag: Dieses Wochenende gab es Wahlen in Australien. Hat man denn irgendetwas davon gehört? Der Sieben-Tages-Rückblick der Tagesschau zeigt, daß es bisher nur zwei Beiträge dazu gegeben hat, nämlich einmal am 2. Juli, ein weiters mal am 3. Juli morgens um sechs.
Das Interessante am Ausgang: Es gibt einen Gleichstand, und derzeit werden die Briefwahlstimmen erneut ausgezählt. Also genau dieselbe Entwicklung wie bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl, die ja bekanntlich wiederholt werden soll – weil es dabei nicht mit rechten Dingen zuging, wie die Titanic spottet. Und ganz ähnlich wie beim britischen Brexit. Mit der kritischen Reflexion dieser Entwicklung ist man offenbar überfordert. Die Nischenmedien arbeiten vor, etwa Telepolis, aber bisher nicht nach.
Aber das ist doch ein Trend: Es gibt ganz offenbar keine klaren Mehrheiten mehr, in mehreren westlichen Gesellschaften, und das ist keine Krise, sondern ein Zeichen für einen Umschwung, es gibt eine allgemeine Wechselstimmung, aber hierzulande ist noch nicht absehbar, in welche Richtung es nach der großen Koalition weitergeht. Ich bin pessimistisch gestimmt, denn es fehlen die großen politischen Utopien, die vorwärts führen könnten.
Noch lange nicht vorbei III
Der Qualitätsjournalismus zeigt im Augenblick, was er wirklich zu leisten vermag: Erst über den Brexit berichten, danach erst fragen, ob die Abstimmung denn überhaupt verbindlich gewesen sei?
Richtig ist auch Fefes Hinweis: Was denn derzeit so alles in den allgemeinen Nachrichten untergehe angesichts von Brexit, Fußball und auch noch Unwetter. Im Bundestag wurden gleichzeitig eine erneute Hartz-IV-Reform und die Erbschaftssteuer beschlossen – beides monatelang diskutiert, aber weitgehend an der Öffentlichkeit der Massenmedien vorbei. Nur in Blogs und in den Pressemitteilungen der Sozialverbände – hier der Paritätische – war darüber regelmäßig zu lesen.
Im Moment sind paradiesische Zeiten für Burying … Man muss schon massiv runterscrollen, um zu anderen Nachrichten zu kommen. Es ist ja nicht so, daß sich mitten im Sommer nichts täte. Im Gegenteil: Vor der parlamentarischen Sommerpause tut sich sogar besonders viel. Das zu kaschieren, ist eine hohe Kunst und ein großes gesellschaftliches Problem zugleich.
Noch lange nicht vorbei II
Auch Klaus Röhl treibt die Frage um, wie es nach dem Brexit mit Englisch als Sprache in Europa weitergehen mag. Er meint, schon wegen der Mitgliedschaft Irlands und Maltas bleibe das Englische weiterhin offizielle Arbeitssprache der Union, in den Arbeitsgremien, in der Europäischen Kommission und als Gerichtssprache könne es aber intern zu einer Verdrängung durch die romanischen Sprachen kommen. Einen stärkeren Einfluß des Deutschen erwartet er nicht: Die Sprachloyalität der deutschen Eliten ist so schwach, dass sie lieber weiterhin ihre Englischkenntnisse vorzeigen. Er erwartet keinen Einfluß des Brexit auf Englisch als Wissenschaftssprache. Höchstens bei EU-weiten Ausschreibungen könne es zu Veränderungen kommen. Er ist gespannt, wie die Mittel in Zukunft verteilt werden.
Im Verfassungsblog merkt man von dem Wandel jedenfalls noch nichts. Maximilian Steinbeis interviewt Gertrude Lübbe-Wolff denn auch ungeniert auf Englisch. Sie weist darauf hin, daß der Austritt Großbritanniens noch nicht erklärt oder gar vollzogen worden sei. Bisher gebe es nur ein Referendum; das müßte nun politisch und rechtlich umgesetzt werden.
Auffällig ist die weitentwickelte wissenschaftliche Blogosphäre im angelsächsischen Raum, die man aus diesem Anlaß erkunden kann. So verweist Jo Shaw im Gespräch mit dem Verfassungsblog auf einen Beitrag des Edinburgher Kollegen. Dessen Blogroll weist weitere Websites und Blogs nach. Auch bei The Conversation findet man weitere etwas fundiertere Beiträge – journalistisch aufbereitet, natürlich, denn das gehört dort zum Konzept, aber genaugenommen ist es ein redigiertes bzw. kuratiertes Autorenblog. Der deutschsprachige Raum hat insoweit ganz sicherlich Nachholbedarf.
Noch lange nicht vorbei
The revolution will not be televised. – Doch, sie wird live gestreamt. Die BBC öffnete vergangene Nacht sogar den Stream für ihr Fernsehprogramm auf ihrer Website für alle. Und so konnte man am frühen Morgen, als sich schon abzeichnete, daß leave in dem First-past-the-post-Wahlsystem mehr Stimmen erhalten würde als remain, mitverfolgen, wie ein konservativer Abgeordneter erklärte, was da eigentlich passiert sei. Immer mehr Briten hätten sich gefragt, so meinte er, „wofür man eigentlich im letzten Krieg gestorben sei“. Jedenfalls wolle man nicht fremdbestimmt werden, nicht nur nicht aus Brüssel, sondern überhaupt, und schon gar nicht von den Deutschen. Das wollte er am Ende dann doch noch einmal sagen. Es war sein letzter Satz, dann endete das Interview morgens um drei Uhr – seiner Zeit.
Damit ginge demnach auch die Nachkriegszeit endgültig zuende. Daran hatten wir gar nicht mehr gedacht. Der Versuch, Europa zusammenzuschließen und die Grenzen zu überwinden im Wege einer immer engeren Rechtsgemeinschaft, er endet hier nun wirklich. Was sich vergangenes Jahr schon abgezeichnet hatte, als Deutschland und Österreich mit der Aufnahme der Flüchtlinge von den anderen EU-Staaten alleingelassen worden waren. Euer Problem, nicht unseres. Gibt es überhaupt noch ein Wir? Der Versuch, das und anstelle des oder zu setzen, wie Ulrich Beck es 1993 in der Erfindung des Politischen genannt hatte. Offenheit, Liberalität. Durchaus auch die Kultur der Digitalität, wie Felix Stalder den gegenwärtigen Zustand nennt. Das alles endet doch nun in einer Abstimmung, die letztlich doch sehr knapp ausgegangen war: 51,3 zu 48,7 Prozent, das ist keine wirkliche Mehrheit. Das legt eher die Frage nahe, ob zu der 50-Prozent-Grenze bei solchen Voten nicht doch auch ein Mindestabstand der Mehrheit über die Minderheit zu fordern wäre, damit sie legitimerweise über die Minderheit obsiegen könne? Immerhin: Auch die Zeit der deutlichen Mehrheiten ist vorbei, das gilt nicht nur für Großbritannien.
Der nationalistische Rechtsruck überall derzeit ist ein einziger großer Reflex gegen die Moderne, aber auch gegen das Kapital, gegen die neoliberale und globalisierende Strömung, die eben auch damals in den 1990er Jahren eingesetzt hatte.
Die Börse zu betrachten, ist langweilig, immer. Interessant wird dagegen zu beobachten sein, wie sich der Brexit auf die Stellung der englischen Sprache in Europa auswirken wird, ob nun andere Sprachen wichtiger werden, wenn nicht mehr überall ein Engländer mit drinsitzt. Ob die Europäische Union wieder frankophiler, romanischer wird?
Heute vor 83 Jahren fand in Neu-Isenburg eine Bücherverbrennung statt, und es sind Gedenkveranstaltungen angekündigt worden, um sich daran zu erinnern. Am 24. Juni 1933 brannten auf dem Wilhelmsplatz Bücher. Man dachte, es wäre vorüber, aber das ist alles noch lange nicht vorbei.
Gesetzliches Verbot von AdBlockern?
Ziemlich unbemerkt bereiten die Bundes- und die Länderregierungen in Deutschland offenbar ein Verbot von AdBlockern vor. So scheint es zumindest, wenn man den Bericht der „Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz“ liest, der vorgestern veröffentlicht wurde. Deren „AG Kartellrecht/Vielfaltsicherung“ kam auf Seite 21f. zu dem Ergebnis:
„Die AG sieht das Geschäftsmodell von Ad-Blockern als rechtlich und mit Blick auf die Refinanzierung journalistisch-redaktioneller Angebote auch medienpolitisch als problematisch an. Sie hält daher die Prüfung gesetzlicher Regelungen für erforderlich. … Bei der Thematik Ad-Blocker ist eine zeitnahe Prüfung durch den Bund und die Länder erforderlich, ob im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen und damit verbundenen medienpolitischen Risiken ggf. eine gesetzliche Flankierung geboten ist.“
Auffällig ist, daß sich die Kommission nur mit den Interessen der Werbewirtschaft und der Verlage sowie des Rundfunks beschäftigt hat. Es ist nicht ersichtlich, ob auch Datenschützer beteiligt worden sind.
Bei der letzten re:publica hatten Frank Rieger und Thorsten Schröder zudem darauf hingewiesen, daß von Online-Werbung ein erhebliches Sicherheitsrisiko ausgehe. Die Inhalte würden nicht von den Werbetreibenden geprüft und könnten Malware enthalten. Sie empfahlen deshalb die Verwendung von AdBlockern zusätzlich zu sonstigen Vorkehrungen, um das eigene System bei der Nutzung des Internets zu schützen.
Das Hans-Bredow-Institut kam gerade zu dem Ergebnis, daß derzeit ein Viertel der Internetnutzer in Deutschland AdBlocker verwende. Unter den jüngeren Nutzern sei es etwa die Hälfte. Mehr als die Hälfte empfinde Online-Werbung außerdem als „lästig“.
(via Privacy-Handbuch)