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Ohne Kontext

Richard Sennett entwickelt seine Thesen vom „alten“ und dem „neuen“ Kapitalismus fort und beschreibt das in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 7. April 2015 anhand von Biobauern. Als Aussteiger (in den 1980er Jahren war das mal eine häufig gehörte Bezeichnung und ein echter Weg) fühlten auch sie sich auf kurzfristige Ziele festgelegt, obwohl sie das Gegenteil gesucht hätten. Auch für ihre Arbeit gebe es keinen Kontext mehr, keine „soziale Matrix, innerhalb derer sie sinnvoll erschien.“ An einen Ausweg innerhalb des kapitalistischen Systems glaube er, Sennett, nicht, er „habe eigentlich nur noch die Hoffnung auf den Kollaps des Systems. Es ist ja 2008 immerhin schon einmal kollabiert.“

Das Klagen über die Entfremdung ist alt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß es jemals so laut gewesen wäre, solange ich persönlich zurückdenken kann.

(via Denkstil)

Die Schrift wird zum Leben IV

Man soll ja auch die Gegenseite hören. Wenn es ums Bloggen geht, also die Journalisten. Jene, die, wie etwa Katharine Viner (via Text & Blog), sich mit den neuen Bedingungen der Öffentlichkeit im Web arrangieren mögen. Oder jene, die wie Wolf Schneider und Paul-Josef Raue sowohl die Probleme der eigenen Zunft im Verhältnis zu den Bloggern als auch die Schwächen der alten Massenmedien in drei Seiten auf den Punkt bringen (Voransicht bei Google Books, „Was Journalisten von Bloggern lernen können“, Printausgabe: S. 45–47).

Auch sie haben durchaus Zweifel, ob das Bild vom Blogger als Amateur und dem Journalisten als Profi der Wirklichkeit gerecht wird. Häufiger sei doch wohl der Fall, zitieren sie Daland Segler, daß der Blogger, allgemein: der Leser der Experte sei, während in der Redaktion ein Allrounder sitze, dessen Stärke in der Vermittlung liege, weniger in der fachlichen Expertise. Aber dann kommt am Ende des Abschnitts doch wieder der Schlenker zurück zur alten Welt der journalistischen Gatekeeper, die bestimmen, was reinkommt und was draußenbleibt: Das Web 2.0 sei für die Bürger viel zu unübersichtlich, Journalisten würden gebraucht, „um Ordnung zu schaffen“, wer keine Zeitungen lese und nicht fernsehe, sei am Ende „völlig uninformiert“.

Dann also doch lieber wieder zurück zu Katharine Viner? „Not original reporting or verification, journalists or bloggers, journalists or activists, journalists or readers. The future of journalism, with humility, is all of the above.“ Das liest sich aber doch auch wieder wie eine Art Gatekeeper 2.0. Weil sie über den Content nachdenkt, über das Angebot, das sie verkauft, während im Web der Leser über seine Auswahl den Inhalt, den er zur Kenntnis nimmt, selbst steuert. Das Web funktioniert über die Nachfrage. Der Rezipient ist also der eigentliche Gatekeeper. Immer schon. Abgesehen von den „Intermediären“, also vor allem den Suchmaschinen. Aber die gilt es auszuschalten durch eine stark untereinander verlinkte Blogosphäre. Durch das Verfolgen des so entstehenden Hypertexts bildet sich der Leser seine Meinung. Und Viners Entwurf wirkt insoweit eher wie der Versuch, in diesen Text und in diesen Kontext, aus dem sie zunehmend ausgeschlossen ist, doch wieder Eingang zu finden, nicht im Abseits stehen zu bleiben, im Niemandsland der unverkäuflichen Nachrichten.

Selbststeuerung, Morozov, Antville und MetaGer

Ein ostersonntäglicher Blick in den Feedreader: Joachim Bauer sagt in einem Interview, das der Deutschlandfunk heute morgen gesendet hatte, wer sich im Leben an längerfristigen Zielen orientiert, sei gesünder und werde leichter wieder gesund. Er redet der Compliance das Wort, aber auch den Selbstheilungskräften. Die „Selbststeuerung“ des Patienten sei zu stärken. Es komme für den Behandlungserfolg sehr viel stärker als bisher angenommen auf ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis an. Im Hintergrund steht das Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Kontinuum, das mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite hin ausschlägt, aber nie vollständig auf einer Seite steht.

Ich bringe das auch in Verbindung mit meinen Online-Gewohnheiten und denke an die bewußte Auswahl der Tools und Plattformen, die ich nutze, denn diese ist stets langfristig angelegt. Aber da ist Evgeny Morozov bei Futurezone heute anderer Ansicht: Wer meine, auf Google verzichten zu können, rede „Blödsinn“, sagt er. Die Meinung beruhe „auf der religiösen, protestantischen Annahme, dass wir uns alle ethisch zu verhalten haben. Das führt zu einer sehr eingeschränkten Vorstellung davon, was Macht ist. Wenn ich meine Zeit effizient nutzen, meine Arbeit erledigen und nicht als Idiot oder technikfeindlicher Freak gelten will, gibt es keine Alternative zu Google. Der Zeitdruck wird vom ökonomischen und sozialen System ausgeübt. Menschen, die mehrere Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, werden nicht plötzlich Geld für minderwertige Technik ausgeben wollen, weil das aus ethischer Sicht Sinn macht.“

Der Gedanke geht ziemlich durcheinander. Schon der Ausgangspunkt, der die Auswahl von Tools in die protestantische Ethik einordnet, stimmt gar nicht. Es ist eher eine Frage der Achtsamkeit sowie der Selbstwirksamkeit. Beides kann zufriedener und damit auch in dem eingangs angesprochenen Sinne gesünder machen. Es ist auch nicht richtig, daß Alternativen zu Google eine „minderwertige Technik“ böten. Im Gegenteil habe ich über MetaGer viele Inhalte erst gefunden, die mir Google – „dank“ Filterbubble? – gar nicht mehr angezeigt hatte. Das gilt insbesondere für Themen aus dem Gesundheitswesen, aber auch für Nachrichten. Insoweit war das Googlen mit Google also sowohl ineffizient als auch nicht datensparsam und hat mir somit klar geschadet.

Auch die Auswahl der Bloggerplattform gehört übrigens in diesen Zusammenhang: WordPress.com oder Antville? Wenn man die jüngsten Eskapaden und die offizielle Reaktion der Mitarbeiterin, die bei Automattic als „Happiness Engineer“ tätig ist, angesichts von gut 3000 öffentlichen Petenten innerhalb weniger Tage sieht: Im Zweifel blogge ich lieber bei Antville.

Ich nehme die Vorgänge um den Post Editor bei WordPress.com zum Anlaß, mich von dort zu verabschieden und meine schneeschmelze nur noch zum Dokumentieren ausgewählter Beiträge zu verwenden, wie schon zu Anfang. Mein laufendes Blog wird albatros.antville.org sein. Damit greife ich eine Linie auf, die ich im Januar 2013 begonnen hatte. Dies auch als ein Zeichen dafür, daß die Selbstfindung und -vergewisserung, der die schneeschmelze gedient hat, in eine neue Phase übergeht.

Übrigens wurden sowohl Antville als auch MetaGer gerade einem Update unterzogen. Es ist schön, daß beide Plattformen gemeinnützig und aktiv weiterentwickelt werden und daß man hier noch direkten Kontakt zu den Entwicklern hat. Bei MetaGer wurde so im Laufe des letzten Jahres unter anderem eine Wiki- und eine Blog-Suche integriert. Auch eine eigene Nachrichtensuche gibt es wieder.

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