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Montag, 17. Juni 2019

Literaturkritik in der Abseitsfalle

In ihrem Interview im Börsenblatt hatte Iris Radisch nicht viel zu sagen, als sie von Stefan Hauck auf die Buch-Blogger angesprochen wurde:

Man muss sie ernst nehmen, denn das alte Reich-Ranicki-Imperium der Literaturkritik, das gibt es nicht mehr.

Ende der Durchsage. Es folgt noch eine Beschreibung des Umfelds, in dem sie selbst arbeitet: Die Anzeigeneinnahmen gehen zurück. Die Literaturredakteure müssen selbst ran. Die Freiberufler werden prekär entlohnt:

Es gibt im Journalismus wenig Formate – außer großen Recherchen und Reportagen –, die so zeitaufwendig sind wie die Literaturkritik. Dennoch bekommt ein Kritiker für eine mittellange Kritik nur 350 bis 450 Euro. Daran arbeitet er aber inklusive der Lesezeit mindestens zwei Wochen.

Umgekehrt hat die Bedeutung der Literaturkritik für den Markt immer mehr nachgelassen. Man setzt sich immer weniger mit Themen, Texten und Sprache auseinander, und seit dem Tod von Marcel Reich-Ranicki ist man ziemlich in der Versenkung verschwunden und wird immer weniger wahrgenommen. Ich würde ergänzen: Die Verlage tun ein übriges dazu, indem sie ihre besten Texte hinter die Paywall stellen und für Mondpreise verkaufen wollen. Die Paywall ist die große Abseitsfalle des Internets. Okay, das kann schon mal passieren, aber irgendwann hätten sie es merken müssen in den Redaktionen, welche Mechanismen da am Werk sind.

Zum Beispiel die Buch-Blogger, die man „ernst nehmen muss“. Aber was sonst noch? Vielleicht müsste man sich auch einmal damit auseinandersetzen, warum sie präsent sind, im Gegensatz zu den Feuilletons? Weil sie online auffindbar sind, auch längerfristig, denn jedes Blog ist per se ein Archiv mit Permalinks, während die Verlagswebseiten in immer kürzeren Abständen neu aufgezogen werden, wobei die Weblinks, die auf eine Website gesetzt werden, kaputt gehen. Cool URIs don't change, sagte einst der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee. Diesen Anspruch erfüllen bis heute nur die klassischen Formate des Web 2.0, nämlich Wikis und Blogs.

Wenn Iris Radisch die „die echten literarischen Debatten“ fordert, die es früher einmal gab, liest sich das tatsächlich wie ein romantischer Blick in eine Vergangenheit, die ein für alle Mal perdu ist. Und die Literaturkritik-Debatte im Perlentaucher war 2015.

Heute wird das Bild, das sich das lesende Publikum von Büchern macht, im wesentlichen von Intermediären wie den Suchmaschinen oder den Sozialen Netzwerken bestimmt, von dem, was man halt so findet. Die Feuilletons gibt es noch, aber sie haben genauso an Bedeutung eingebüßt wie alles übrige, was die Zeitungsverlage so hervorbringen. Wie bei jedem schweren Tanker gibt es auch hier einen langen Bremsweg.

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