Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2017
Von der Sicherheit war viel die Rede im Vorfeld dieser Buchmesse. Bis hin zu der Empfehlung, keine Rücksäcke und keine Rollkoffer mitzubringen, denn alles werde gefilzt werden am Eingang, was zu langen Schlangen an demselben führen könne. Die Aufforderung hat nicht viel Eindruck gemacht, offenbar, denn natürlich kommen alle, wie immer, mit ihrem Gepäck – wie denn auch sonst soll man das stundenlange Herumlaufen in den trotz Wegwerfteppich so unwirtlichen Hallen noch ertragen, wo ein halber Liter Leitungswasser im Wegwerfpack für drei Euro verkauft wird.
Überhaupt: Der Andrang an Besuchern. Mit dem ist es nicht so weit her wie gewünscht. Bei mittäglichen Gang von Halle 4 in Halle 3 waren wir doch recht einsam auf dem schnieken Laufband unterwegs. Es war so leer wie noch nie auf der Messe, und ich komme seit etwa zehn Jahren hierher.
Eine Branche im Abbau ist zu besichtigen. Der Umsatz konnte nur durch Preiserhöhungen aufgefangen werden; der Rückgang ist also bereinigt durchaus vorhanden, möchte man den Branchenjournalisten zuraunen. Eine Branche, die sich in die Eventisierung flüchtet, so war zu lesen, um ihren gesellschaftlichen Bedeutungsverlust zu kontern. Das gelingt, und die Bücher, die in den großen Verlagen produziert werden und dann durch die Verwertungskette Buchhandel, Bibliothek und Antiquariat durchgereicht werden, sind immer noch gern genutzte Aufhänger, an denen sich der Journalismus abarbeitet, um damit ganze Kulturteile zu füllen mit Kritiken und Autoreninterviews, das ganze Jahr über. Die Digitalisierung fand statt – und doch nicht, jedenfalls nicht so, wie es vorhergesagt worden war. Das E-Book ist bis heute eine Randerscheinung geblieben. Der allergrößte Teil des Marktes besteht weiterhin aus gedruckten Büchern, und so hat es auch eine gewisse Berechtigung, dass das Mainzer Gutenberg-Museum wieder seinen Namensgeber an der Druckerpresse auffährt, wo es immer noch zugeht wie vor fünfhundert Jahren.
Aber dem Buch an sich brechen die Leser weg, sagte die Ex-FAZ-Journalistin und Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg gerade in einem Interview im Handelsblatt. Es ist also nicht nur eine Frage des Absatzes, der Einnahmen oder des Umsatzes oder wie man es sonst betriebswirtschaftlich bezeichnen möge, es ist ein tiefgreifender und kaum wieder umkehrbarer Medienwandel, der dazu geführt hat, dass Bücher weitaus weniger beachtet werden, während Fernsehserien aus dem amerikanischen Pay-TV auch schon mal in der U-Bahn besprochen und zitiert werden – wenn man die Ohren für sowas offen hält.
Andererseits die schwierige wirtschaftliche Lage vor allem der kleinen Verleger, die Christoph Links in den Frankfurter Heften zusammengefasst hat.
Der Medienwandel wird greifbar. Er ist hier zu besichtigen, Jahr für Jahr.
Es ist ein bisschen wie bei den Pressekonferenzen in den Museen, wo durch die Zusammenlegung der Redaktionen über die Jahre immer weniger Journalisten kamen, so dass sie schließlich auch die Blogger einluden – nicht weil sie verstanden hätte, was diese tun, aber weil die renommierten Häuser gerne eine ansehnliche Zahl an Schreibern um sich scharen, wenn sie sie rufen. Im Fall der Buchmesse sind es die Verlagsfusionen, die mittlerweile doch auffallen. Wo weiland doch immer wieder mittelständische inhabergeführte Verlagshäuser zwischen den großen Playern auftauchten, sehen wir heute sogenannte Gruppen, also beispielsweise die Westermann Gruppe, die eine Handvoll Schulbuchverlage als Marken verwaltet und deren Produkte feilbietet. Im naturwissenschaftlichen Bereich fällt die Übernahme des Schattauer Verlags durch den ebenfalls in Stuttgart ansässigen Thieme Verlag auf. Wieder einer weniger.
Und alles so englisch heute hier, auch wo man es gar nicht erwartet hätte. In der Wissenschafts- und Bibliotheks-Halle, okay, da mag es angehen. Aber auch in den anderen Hallen wurden die Aussteller bunt gemischt, und es kann schon mal vorkommen, dass man von der Seite in amerikanischem Englisch wie selbstverständlich gefragt wird, ob man sich für Kinderbücher interessiere?
Auch der Bildungsbereich, kaum wiederzuerkennen, so klein, so international. Schon vergangenes Jahr war viel Luft zwischen den Ständen, dieses Jahr ist es eher noch ein bißchen mehr geworden.
Der Brockhaus, der vor zwei Jahren rein online wiederauferstanden war und der im letzten Jahr den Eintritt ins Schulbuchgeschäft verkündet hatte, fehlt diesmal vollständig. Die Messe wird offenbar nicht benötigt, um die Zielgruppe zu erreichen. Und man verspricht sich davon anscheinend keinen zusätzlichen Nutzen mehr. Viele öffentliche Bibliotheken bieten den Zugriff auf die Enzyklopädie mittlerweile an. Das neu hinzugekommene Kinder- und Jugendlexikon und die Kurse für Schüler zum Selbstlernen werden dagegen noch selten hinzugekauft. Zu teuer für die meisten Bibliotheken, in unserer Gegend kam deshalb leider kein Konsortium zustande.
Dafür ist Wikipedia dieses Jahr vor Ort, in Halle 4.2 am Stand A58, ziemlich hinten am Rande platziert, aber gut zu finden dank großem Wikipedia-Ball, der auf diese Wand projiziert wird, wo sich die Hallengänge kreuzen. Deutsche und französische Wikipedianer haben sich hier versammelt, um, passend zum Gastland Frankreich, an Artikeln zur Deutschland und Frankreich zu basteln. Ein portables Fotostudio bietet Gelegenheit, Autoren und weitere Prominente zu fotografieren, um deren Artikel zu bebildern.
Wer fehlte noch? Größere Zeitungen, den Spiegel und den Freitag habe ich nicht bemerkt, aber vielleicht habe ich sie übersehen.
Dafür viel Politik. Der Rechtsruck in der Gesellschaft macht sich bemerkbar, und die Buchmesse reagiert darauf. Sie gibt der Neuen Rechten durchaus ein Forum, indem sie sie ausstellen läßt, aber sie platziert den Stand der Jungen Welt neben den der Jungen Freiheit, und der Antaios Verlag ist schräg gegenüber von der Amadeo Antonio Stiftung. Die Bürger wehren sich dagegen, dass die Rechte auf diese Weise ein Forum für ihre Positionen und für ihre Texte bekommt. Buchmesse gegen Rechts sammelt Unterschriften für eine weltoffene Buchmesse und gegen eine Bühne für rechte Propaganda, und am Orbanism Space lagen Lesezeichen für Respekt und für Gutmenschen aus mit dem Hashtag #verlagegegenrechts. Can Dündar war anwesend unter Applaus, als heute mittag der Raif-Badawi-Preis der Friedrich–Naumann-Stiftung Ahmet Şık verliehen wurde, einer der vielen Journalisten, die derzeit in der Türkei in Haft sind. Dazu passend auch das neue Buch von Naomi Klein, die bezogen auf die Entwicklungen in den USA, zu Maßnahmen gegen die Politik Donald Trumps aufruft. Dagegen kaum Politiker auf der Messe.
Zum Abschluss aber noch einmal ein Blick auf die Diskussion über das digitale Lesen. Auch sie auf Englisch, natürlich. How does reading work? A debate on the impact of digital on reading hieß das Panel, das am Nachmittag in Halle 3.1 an Stand B33 im Kulturstadion im Bildungsbereich stattfand. Zwei Wissenschaftler – Anezka Kuzmicova von der Universität Stockholm und Adriaan van der Weel von der Universität Leiden –, Jens Nymand Christensen, ein Mitarbeiter der EU-Kommission, und der Moderator Ruediger Wischenbart unterhielten sich über Probleme, Desiderate und Forschungsergebnisse zum Thema Lesekompetenz und ganz besonders zum Einsatz von gedruckten Schulbüchern im Vergleich zu digitalen Lehrbüchern. Die Ergebnisse, um die es dabei ging, waren vor kurzem auf einer Tagung in Vilnius vorgestellt worden; am Montag dieser Woche hatte die FAZ darüber berichtet – der Beitrag ist hier zu lesen, und auch in El Pais wurde darüber berichtet.
Dabei war die Kehrseite des oben angesprochenen Wegbrechens der Leserschaft zu bemerken: Die Lesefähigkeit nimmt in der EU spürbar ab, und das dürfte nach Ansicht des Podiums zumindest auch mit dem Wandel von Print zu Online zu tun haben. Betroffen sind vor allem die schlechter gestellten Schichten, Lesen zu können ist also in allererster Linie eine soziale Frage, aber nicht nur. Und Lesen können heißt Denken können. Erst das vertiefte Lesen helfe, grundlegende Kompetenzen zu entwickeln, die für das Verstehen von Narrativen und weiteren komplexen Zusammenhängen unabdingbar seien. Ein Nebeneffekt sei, dass man beim deep reading die Konzentrationsfähigkeit entwickle und erhalte. Man war sich aber einig, dass man bei der Frage, wie sich Print- und Onlinemedien auf das Lernen auswirkten, allemal Neuland betrete, was vor allem den Lehrern zu schaffen mache, weniger den Schülern.
Man empfahl vor allem, für das grundlegende Lernen gedrucktes Material zu verwenden und erst zum weiteren Arbeiten digitale Medien und Geräte einzusetzen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen verhinderten audiovisuelle Inhalte, dass sich die Vorstellungskraft herausbilden könne. Zum anderen seien Bildschirme sehr stark mit Unterhaltung und Zerstreuung und weniger mit Konzentration konnotiert, so dass auch bei nüchterner Aufbereitung des Materials bestimmte Erwartungen angestoßen würden, die die Wahrnehmung negativ beeinflussen könnten. Man war sich auch darüber einig, dass es sinnvoll sei, dass Schüler lernten, von Hand zu schreiben – die Diskussion darüber, ob Blockschrift oder gar Maschinenschrift vorzugswürdig wäre oder ob gar Diktiersysteme ausreichten, wurde gestreift, aber im Ergebnis abgelehnt. Pragmatisch sei es sinnvoll, bis auf weiteres den Gebrauch von Tablets durch Kinder und Schüler zu beschränken. Uneinigkeit bestand in Bezug auf die Gamification des Lernens; während einerseits im Spiel ein sehr niedrigschwelliger Zugang zu allen denkbaren Inhalten liege, wurde dem entgegengehalten, dass sie einer vertieften Beschäftigung mit Themen gerade entgegenständen.
Soweit zur Digitalisierung der Schule. Auf die abschließende Frage aus dem Publikum, wie ältere, die mit Printmaterial aufgewachsen waren, den negativen Auswirkungen des digitalen Lesens entgegenwirken könnten, war sich Adriaan van der Weel sehr sicher. Schon Nicholas Carr hatte in seinem Buch und in dem gleichnamigen Aufsatz im Atlantic Is Google making us stupid? vor etwa zehn Jahren am Ende sich wieder dem Strom der Texte und des übrigen digitalen Contents hingegeben, mit den bekannten Folgen des Verlusts der Aufmerksamkeit und der Konzentrationsfähigkeit. Dagegen helfe nur eines: Read books!
Literatur: N.N. 2017. Zwischen Diskursmedium und Kundenschwund. buchreport. 10. Oktober. www.buchreport.de (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Müller, Anja Tuma und Felicitas von Lovenberg. 2017. Das Buch ist schöner als ein paar Bits. Handelsblatt, 9. Oktober, Abschn. Unternehmen & Märkte. – Links, Christoph. 2017. Gegenwind für die Buchbranche Problematische Gesetzesentscheidungen und globale Herausforderungen. Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte. 1. September. www.frankfurter-hefte.de (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Jacobs, Michael. 2017. Messe-Flucht: Für viele Mainzer Verlage rechnet sich die Frankfurter Buchmesse nicht mehr. Allgemeine Zeitung. 7. Oktober. www.allgemeine-zeitung.de (zugegriffen: 7. Oktober 2017). – Dupré, Johanna. 2017. Lesestoff aus der Apotheke: Digitalisierung verändert die Buchbranche grundlegend. Allgemeine Zeitung. 7. Oktober. www.allgemeine-zeitung.de (zugegriffen: 7. Oktober 2017). – N.N. 2015. Als Wissensservice im Netz: Der Brockhaus kehrt zurück. Börsenblatt. 15. Oktober. www.boersenblatt.net (zugegriffen: 10. Oktober 2017). – Roesler-Graichen, Michael. 2016. Interview mit Hubert Kjellberg, Brockhaus NE: „Das Ergebnis unserer Arbeit ist kein Buch mehr“. Börsenblatt. 12. August. www.boersenblatt.net (zugegriffen: 10. Oktober 2017). – N.N. 2017. Wikipedia:Frankfurter Buchmesse 2017. Wikipedia. 7. Oktober. de.wikipedia.org (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Klein, Naomi. 2017. Gegen Trump: wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen. Übers. von Gabriele Gockel. Frankfurt am Main: S. Fischer. – Küchemann, Fridtjof. 2017. Ist das nun mutig oder dumm? Buch oder Tablet: Wie wir einen Text verstehen, hängt auch vom Medium ab. Was bedeutet das für das künftige Lesen und Lernen? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Oktober, Abschn. Feuilleton. - Carbajosa, Ana. 2015. ¿Recuerdas cuando leíamos de corrido? EL PAÍS. 24. Mai. politica.elpais.com (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – N.N. 2017. E-READ COST. 11. Oktober. ereadcost.eu (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Carr, Nicholas. 2008. Is Google Making Us Stupid? What the Internet is doing to our brains. The Atlantic, August. www.theatlantic.com (zugegriffen: 13. April 2017).