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Die Schrift wird zum Leben V

Ich schreibe nicht für ein Publikum. Ich schreibe für mich, und dabei bleibt es auch.“ – Hanns Dieter Hüsch ist vor zehn Jahren gestorben, er wäre heute 90 Jahre alt geworden. Auch er war genaugenommen ein Blogger.

Übergänge

Wir haben die Produktionsmittel, die man heute braucht, um „senden“ zu können – Blogs, Wikis, soziale Netzwerke; sie stehen allgemein zur Verfügung, auch sie werden geteilt, nicht nur die Inhalte. Wir sind gut ausgebildet, haben Erfahrung und sind überdurchschnittlich gut informiert. Was bei den Massenmedien die „Reichweite“ war, ist heute die „Vernetzung“. Blogger sind daher „Journalisten“. Die fehlende professionelle Ausbildung wird leicht durch ein Training on the job ersetzt. Der politische Kampagnen-Journalismus, der nur ein Transmissionsriemen für die Spindoktoren war, schwindet. Dadurch verändert sich die Öffentlichkeit. Das macht auch Spaß, aber es ist kein Spaß, sondern es ist schon ziemlich ernst. Es passiert jetzt. Wer weiterhin nach röhrenden Hirschen sucht, findet sie in den kommerziellen Blogs und Plattformen und bei denen, die sich noch kommerzialisieren lassen, aber der aufgeklärte Teil der Öffentlichkeit entfernt sich immer mehr davon und läßt die anderen ihres Wegs ziehen. Deshalb merken die Massenmedien, daß sie immer mehr im Abseits stehen. Sie versammeln immer weniger Leser, Zuhörer, Zuschauer, ihre Attraktivität hat nachgelassen. Die Öffentlichkeit fragmentiert und reflektiert dadurch die Vielfalt der Gesellschaft, die sich in ihr zeigt und ausdrückt.

Wie im Traum

Es gibt Sätze, die man so bald nicht vergißt. Dieser gehört dazu: „Du hast eine Schrift wie ein EKG.“ Mitten zwischen Photos, die Straßenszenen zeigen wie im Traum, so wahr.

Die Schrift wird zum Leben IV

Man soll ja auch die Gegenseite hören. Wenn es ums Bloggen geht, also die Journalisten. Jene, die, wie etwa Katharine Viner (via Text & Blog), sich mit den neuen Bedingungen der Öffentlichkeit im Web arrangieren mögen. Oder jene, die wie Wolf Schneider und Paul-Josef Raue sowohl die Probleme der eigenen Zunft im Verhältnis zu den Bloggern als auch die Schwächen der alten Massenmedien in drei Seiten auf den Punkt bringen (Voransicht bei Google Books, „Was Journalisten von Bloggern lernen können“, Printausgabe: S. 45–47).

Auch sie haben durchaus Zweifel, ob das Bild vom Blogger als Amateur und dem Journalisten als Profi der Wirklichkeit gerecht wird. Häufiger sei doch wohl der Fall, zitieren sie Daland Segler, daß der Blogger, allgemein: der Leser der Experte sei, während in der Redaktion ein Allrounder sitze, dessen Stärke in der Vermittlung liege, weniger in der fachlichen Expertise. Aber dann kommt am Ende des Abschnitts doch wieder der Schlenker zurück zur alten Welt der journalistischen Gatekeeper, die bestimmen, was reinkommt und was draußenbleibt: Das Web 2.0 sei für die Bürger viel zu unübersichtlich, Journalisten würden gebraucht, „um Ordnung zu schaffen“, wer keine Zeitungen lese und nicht fernsehe, sei am Ende „völlig uninformiert“.

Dann also doch lieber wieder zurück zu Katharine Viner? „Not original reporting or verification, journalists or bloggers, journalists or activists, journalists or readers. The future of journalism, with humility, is all of the above.“ Das liest sich aber doch auch wieder wie eine Art Gatekeeper 2.0. Weil sie über den Content nachdenkt, über das Angebot, das sie verkauft, während im Web der Leser über seine Auswahl den Inhalt, den er zur Kenntnis nimmt, selbst steuert. Das Web funktioniert über die Nachfrage. Der Rezipient ist also der eigentliche Gatekeeper. Immer schon. Abgesehen von den „Intermediären“, also vor allem den Suchmaschinen. Aber die gilt es auszuschalten durch eine stark untereinander verlinkte Blogosphäre. Durch das Verfolgen des so entstehenden Hypertexts bildet sich der Leser seine Meinung. Und Viners Entwurf wirkt insoweit eher wie der Versuch, in diesen Text und in diesen Kontext, aus dem sie zunehmend ausgeschlossen ist, doch wieder Eingang zu finden, nicht im Abseits stehen zu bleiben, im Niemandsland der unverkäuflichen Nachrichten.

Selbststeuerung, Morozov, Antville und MetaGer

Ein ostersonntäglicher Blick in den Feedreader: Joachim Bauer sagt in einem Interview, das der Deutschlandfunk heute morgen gesendet hatte, wer sich im Leben an längerfristigen Zielen orientiert, sei gesünder und werde leichter wieder gesund. Er redet der Compliance das Wort, aber auch den Selbstheilungskräften. Die „Selbststeuerung“ des Patienten sei zu stärken. Es komme für den Behandlungserfolg sehr viel stärker als bisher angenommen auf ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis an. Im Hintergrund steht das Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Kontinuum, das mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite hin ausschlägt, aber nie vollständig auf einer Seite steht.

Ich bringe das auch in Verbindung mit meinen Online-Gewohnheiten und denke an die bewußte Auswahl der Tools und Plattformen, die ich nutze, denn diese ist stets langfristig angelegt. Aber da ist Evgeny Morozov bei Futurezone heute anderer Ansicht: Wer meine, auf Google verzichten zu können, rede „Blödsinn“, sagt er. Die Meinung beruhe „auf der religiösen, protestantischen Annahme, dass wir uns alle ethisch zu verhalten haben. Das führt zu einer sehr eingeschränkten Vorstellung davon, was Macht ist. Wenn ich meine Zeit effizient nutzen, meine Arbeit erledigen und nicht als Idiot oder technikfeindlicher Freak gelten will, gibt es keine Alternative zu Google. Der Zeitdruck wird vom ökonomischen und sozialen System ausgeübt. Menschen, die mehrere Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, werden nicht plötzlich Geld für minderwertige Technik ausgeben wollen, weil das aus ethischer Sicht Sinn macht.“

Der Gedanke geht ziemlich durcheinander. Schon der Ausgangspunkt, der die Auswahl von Tools in die protestantische Ethik einordnet, stimmt gar nicht. Es ist eher eine Frage der Achtsamkeit sowie der Selbstwirksamkeit. Beides kann zufriedener und damit auch in dem eingangs angesprochenen Sinne gesünder machen. Es ist auch nicht richtig, daß Alternativen zu Google eine „minderwertige Technik“ böten. Im Gegenteil habe ich über MetaGer viele Inhalte erst gefunden, die mir Google – „dank“ Filterbubble? – gar nicht mehr angezeigt hatte. Das gilt insbesondere für Themen aus dem Gesundheitswesen, aber auch für Nachrichten. Insoweit war das Googlen mit Google also sowohl ineffizient als auch nicht datensparsam und hat mir somit klar geschadet.

Auch die Auswahl der Bloggerplattform gehört übrigens in diesen Zusammenhang: WordPress.com oder Antville? Wenn man die jüngsten Eskapaden und die offizielle Reaktion der Mitarbeiterin, die bei Automattic als „Happiness Engineer“ tätig ist, angesichts von gut 3000 öffentlichen Petenten innerhalb weniger Tage sieht: Im Zweifel blogge ich lieber bei Antville.

Ich nehme die Vorgänge um den Post Editor bei WordPress.com zum Anlaß, mich von dort zu verabschieden und meine schneeschmelze nur noch zum Dokumentieren ausgewählter Beiträge zu verwenden, wie schon zu Anfang. Mein laufendes Blog wird albatros.antville.org sein. Damit greife ich eine Linie auf, die ich im Januar 2013 begonnen hatte. Dies auch als ein Zeichen dafür, daß die Selbstfindung und -vergewisserung, der die schneeschmelze gedient hat, in eine neue Phase übergeht.

Übrigens wurden sowohl Antville als auch MetaGer gerade einem Update unterzogen. Es ist schön, daß beide Plattformen gemeinnützig und aktiv weiterentwickelt werden und daß man hier noch direkten Kontakt zu den Entwicklern hat. Bei MetaGer wurde so im Laufe des letzten Jahres unter anderem eine Wiki- und eine Blog-Suche integriert. Auch eine eigene Nachrichtensuche gibt es wieder.

Die Schrift wird zum Leben III

John Danaher zählte schon im September 2014 sieben Gründe auf, weshalb er als Wissenschaftler blogge.

Man bleibe dadurch am Schreiben. Man komme dadurch leicht in einen Zustand des Flow. Es helfe ihm als Wissenschaftler, sein Fach wirklich zu verstehen (das Argument ist eine Spielart des Lernen durch Lehren, LdL). Bloggen habe ihm auch dabei geholfen, seine Veröffentlichungen vorzubereiten. Er sei durch das Bloggen aber auch mehr oder weniger zufällig auf Themen aufmerksam geworden, die er durch systematische Studien so nicht gefunden hätte. Es helfe ihm, online Kontakt zu knüpfen. Und, last, but not least, helfe es ihm auch bei der Lehre – eine Variation des früher zu LdL Gesagten.

Der Bildungsblogger Stephen Downes kommentiert diese Argumente heute zustimmend. Downes bloggt täglich, auch als Newsletter OLDaily zu lesen.

Auch sie, zwei Blogger.

Die Schrift wird zum Leben II

Der Perlentaucher verlinkt heute einen Text von Arno Widmann über Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter, 1810–11“. Widmann schreibt: „Wer heute auf die ‚Berliner Abendblätter‘ zurückschaut, der sieht, dass sie ein Blog waren – vor der Erfindung, ja vor der Möglichkeit des Blogs. Kleist war freilich klug genug zu wissen, dass sein Blog nur erfolgreich sein konnte, wenn er ihn öffnete für Trivialitäten. Er wusste, dass nicht alles zu einem Artikel geformt werden muss. Die bloße Aufzählung von Ereignissen, der wortgetreue Abdruck eines Verhörs beflügelt die Fantasie eines Lesers manchmal mächtiger als die flammendste Rede. Kleist hat in den Berliner Abendblättern erbarmungslos nachgedruckt aus anderen Zeitungen, er hat jeden Tag eine kleine Welt zusammengestellt aus den Welten, die ihm zugänglich waren. Das reizte ihn, das machte ihm Spaß.“ Wie uns ja auch, deshalb dies lange Zitat. Auch Kleist, also, ein Blogger. Natürlich. Widmann findet ein Faksimile auf archive.org – man wähle PDF, die EPUB-Version läßt sich mit Calibre leider nicht öffnen.

Die Schrift wird zum Leben

Das Blog ist kein bloßes Tagebuch, denke ich beim Blättern in Sloterdijks „Zeilen und Tage“. Mit dem Tagebuch teilt es die Kurzlebigkeit: Wer greift schon auf ein Blog über den Kalender zu und sucht Beiträge aus einem bestimmten Monat vor x Jahren heraus? Man kann das machen, aber wer macht es? Und doch: Sloterdijk war auf seine Weise ein Blogger, wie auch Max Frisch in seinen Tagebüchern gebloggt hatte. Irgendwie, ja. Und früher schon Tucholsky, natürlich. Und Kafka? Kafka auch? – Beckett? Eher weniger. Aber Arno Schmidt – ganz sicher. Und Heine. Aber das Schreiben im Netz? Man schreibt am Ende nur für sich. Wer es liest, wenn überhaupt, kann dahingestellt bleiben. Ist nicht notwendig. Man schreibt Notizbücher voll und Blogs und Wikis, und dieser Strom aus Notaten und Gesängen und Empörung und Leiden und Hoffnung füllt am Ende die Welt. Die des Autors und die des Lesers, erst ein bißchen und dann immer mehr. Sie wird zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit wird zum Leben. Die Schrift wird zum Leben. Und das Leben wird wirklich durch das Schreiben. Auch durch das Bloggen.

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