Meine Gedanken kehren immer wieder zu dem Video von Ruth Patir zurück: In My father in the cloud hatte sie den Tod ihres Vaters verarbeitet. Sie beschreibt den künstlerischen Prozess, in dem sie ihn teilweise wieder in Bewegung gebracht hatte. Es brauchte mehrere Anläufe, bis Bewegungen, die sie von sich selbst und ihren Verwandten aufgenommen hatte, so digitalisiert und re-visualisiert werden konnten, dass ein Avatar im Video „tanzte“, wie ihr Vater ihrer Erinnerung nach getanzt hätte. Und am Ende kombinierte sie diese Figur mit ihrem eigenen Avatar und ließ die beiden – noch einmal – gemeinsam tanzen, sich durch die elterliche Wohnung bewegen. Bis sie schließlich allein übrig blieb und sich ihr Avatar von ihrem Vater-Avatar symbolisch lösen konnte. Tanzend zu dem Lied Dancing on my own von Robyn.
Es ist jene Ruth Patir, die sich dieses Jahr weigerte (Paywall), ihr Werk (M)otherland im israelischen Pavilion bei der Biennale in Venedig zu zeigen, solange es keinen Waffenstillstand in Gaza gebe und solange die israelischen Geiseln nicht befreit seien. Die Biennale endet am 24. November, und der Pavilion ist weiterhin geschlossen. Sie traut sich was. Ihr Avatar im Video trägt, wie sie selbst, ein T-Shirt mit der Aufschrift: Abuse of power comes as no surprise.
Das Jüdische Museum Frankfurt am Main zeigt die Arbeit My father in the cloud derzeit in der Ausstellung Im Angesicht des Todes, in der künstlerische Positionen zu Sterben, Tod und Hinterbleiben gezeigt werden, eingebettet in viel Hintergründiges über diese Themen aus jüdischer Sicht vor allem.
Darin ist auch ein Exponat zu sehen, das in Zusammenarbeit mit der Israelischen Nationalbibliothek entstanden war. Auf einem „aufgeschlagenen Buch“ werden Seiten aus dem alten, retrodigitalisierten Memorbuch der Frankfurter Jüdischen Gemeinde projiziert und immer wieder weiter „geblättert“. Das Digitalisat ist, soweit ich sehe, nicht online verfügbar. Es werden aber auch historische und neuere Bücher zum Thema im Original gezeigt.
Die Wahl-Frankfurterin Laura J. Padgett hat den neuen jüdischen Friedhof und die Trauerhalle sowie die dortigen Nebenräume fotografiert. Wie auch alles, was wir hier sehen, bei aller Historizität, ganz in der Gegenwart verortet ist: Hell und sachlich und dokumentarisch wird hier erzählt, das ist fern von aller Romantisierung und Verklärung. Manchmal tut es weh, und manchmal tröstet es.
Die Schau ist so vielfältig komponiert und präsentiert, dass man aus dem reichen Material vieles mitnimmt, das sich erst später – in der Erinnerung – sortiert: Gespräche über das Sterben, Gebete der Trauernden, Darstellungen des Todesengels bis hin zu jüdischem Brauchtum rund um den Tod, Gegenstände aus Beerdigungen, Musik der Trauer. Sogar ein deutscher, ein israelischer und ein amerikanischer Organspendeausweis werden gezeigt. Ebenso erzählen Geistliche von Bestattungen während der Corona-Pandemie. Von den Beschränkungen, den Bedrängungen und der Unmöglichkeit zu trauern und sich von dem Toten zu trennen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Ob das alles so sein musste, ob das überhaupt nötig gewesen wäre, bleibt dabei offen. Eine unbeantwortete Frage, die unausgesprochen über dem Video liegt. Ein doppeltes Un.
Aber am Ende geht man hinaus ins herbstliche Frankfurt. Der Main ist in der Nähe. Und manches, was ich hier zum ersten Mal sah oder erfuhr, klingt noch länger in mir nach. Es ist eine Ausstellung, die gut tut, weil sie so vieles zeigt und ausspricht, was sonst vermieden wird. Es ist aber besser, sich mit dem Tod und mit dem Sterben zu beschäftigen. Der November ist die richtige Zeit dafür.
Die Frankfurter Buchmesse war für mich eigentlich schon immer ein Fixpunkt im Herbst, um den herum ich mir ein paar Tage freihielt. Mittlerweile verstehe ich auch, warum mir das Gewusel in den Messehallen nicht so liegt, es ist in jeder Hinsicht für mich einfach too much, aber die Bücher ziehen mich eben immer wieder dorthin, das Verlagswesen, die Büchermenschen, und auch: Kultur und Information als Ware, et les incontournables, bien sûr. Und die Trends, die man dort sehr gedrängt beobachten kann, wenn man längerfristig am Ball bleibt und immer wieder kommt. So also diesmal auf ein Neues. Nach mehreren Jahren Pause, erst coronabedingt, dann beruflich bedingt und auch gesundheitlich bedingt. Eine sehr komprimierte, gezielte Stippvisite in den Messehallen hatte ich mir vorgenommen. Und das ist mir auch gelungen.
Von der Stadt her kam ich also diesmal mit der U-Bahn, nicht mit der S-Bahn. Kein Gedränge wie früher. Keine Schlangen am Eingang. Sogar der Sicherheits-Check ist teilweise automatisiert worden. Ich erhalte grünes Licht und darf direkt hinein.
Die Messekarte kommt zwiefach gefaltet in einen hellbraunen papierenen Rahmen, der an einem dunkelblauen Lanyard hängt. Keine Plasikhüllen mehr. Die Buchmesse ist ja so grün geworden. Die Pressemappe spricht von Nachhaltigkeit. Auch am börsenverein-roten Teppich haben sie gespart. Früher waren alle Hallen vollständig damit ausgelegt, und nach fünf Tagen wurde er dann komplett weggeworfen. Diesmal haben sie nur die Hauptwege damit markiert. Gut so, das reicht völlig und ist eine Reminiszenz an früher, die sicher auch bald verzichtbar erscheinen wird. Drumherum ist blanker schwarzer Betonboden: Weiche Gummisohlen waren also eine gute Wahl für dieses Gelände.
Ich beginne mit dem Ehrengast. Italien wird derzeit von Rechtsextremisten regiert, dementsprechend ist der Buchmesse-Auftritt geraten. Er ist freilich umstritten, weil kritische Autorinnen und Autoren ferngehalten wurden. Antonio Scurati verglich die Indoor-Piazza (FAZ) auf einem Podium mit einem Beerdigungsinstitut. Im ganzen ist sie aber ähnlich beliebig und seltsam wie die meisten Ehrengast-Pavillons, die man in den letzten Jahren in Frankfurt so sah.
Also weiter zu Halle 3.1, die Bildung. Wer gerne gedruckte Bücher sieht und in ihnen blättert, ist hier und ebenso in den anderen Hallen mit den großen deutschen Verlagen richtig. Denn später, vor allem in Halle 5.0, aber auch in der Wissenschaft (4.0) merkt man, dass wenig Gedrucktes nach Frankfurt geschickt wurde.
Der Thieme-Verlag erklärt auf einem Wandtext, er wolle damit verdeutlichen, dass man den digitalen Wandel voranbringe. Wo früher hunderte Bücher standen, kommt man heute mit etwa einem Dutzend aus. Und der Rest sind Daten.
Die Stände haben sich insgesamt verändert. Sie sind wieder ein bisschen größer geworden als bei meinem letzten Besuch, aber sie sind doch alles in allem sehr sparsam ausgestattet mittlerweile. Ein paar kleine Tischchen, am Empfang liegen eine Handvoll Kugelschreiber oder Bleistifte bereit. Und das reicht ja auch völlig. Die Materialschlacht früherer Zeiten ist vorbei. Man glaubt den Verlagen, dass es die Bücher gibt, sie müssen nicht mehr hergezeigt werden, um ihre Existenz zu beteuern. Das Geschäft läuft überall gut und unauffällig. Aber es läuft eben auch an anderen Orten, die Gespräche zeigen es deutlich. Ärgerlich ist da schon eher, dass man auch am Haupt-Fachbesuchertag kaum verbindliche Auskünfte bekommt. Aushilfspersonal überschneidet sich mit Mauerpolitik und einer strengen Tür. Dabei beiße ich doch gar nicht. Ich bin nur bibliophil. Tell me more.
Man ist eher hier, um Präsenz zu zeigen. Am deutlichsten ist das vielleicht bei den französischen Verlagen. Ich stehe vor dem Stand der Gallimard-Gruppe. Man merkt es kaum, so zurückgenommen ist das Design. Die Bücher sind auf den Regalen hinten fast schon versteckt, damit sie bloß keiner anfasst beim Vorbeigehen. Neuerscheinungen? Darüber informiert man sich besser bei der « Grande Librairie » direkt in der Mediathek von france.tv oder bei « Le masque et la plume » auf France Inter. Ein Messebesuch lohnt sich dafür nicht mehr so richtig. Das war mal anders. Hier ist viel von dem Flair der romanischen Halle, wie ich sie immer nannte, verloren gegangen. Auch nur wenige Aussteller aus Südamerika. Argentinien, Chile. Ehrengast Italien, freilich.
Stände von Bibliotheken? Fehlanzeige. Klar. Was haben Bibliotheken auch mit Büchern zu tun.
Stände vom Rundfunk? Der Deutschlandfunk talkt wie eh und je in 3.1 live vor Publikum. Ich erfahre, dass die drei Programme Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova sage und schreib 54 Cent pro Monat Rundfunkbeitrag kosten. Unvorstellbar. An machen Tagen höre ich nichts anderes. Kultursender sind für mich unverzichbar, und ich frage mich, wofür der Rest meiner Rundfunkbeiträge ausgegeben wird, die ich übrigens gerne zahle.
Das Blaue Sofa ist endgültig von der Messe verschwunden und findet jetzt nur noch in der Deutschen Nationalbibliothek statt im Rahmen von Open Books, während die Literaturbühne von ARD, ZDF und 3sat ein ziemlich angenehmer Platz geworden ist, verglichen mit dem alten Standort zwischen den Hallen 5 und 6 draußen aufm Gang. Man kann den Gesprächen überraschend gut folgen, und zumindest bei den beiden Slots mit Armin Nassehi und Nora Bossong gab es auch etwas zum Zuhören und Mitnehmen. Auf Bossongs Roman „Reichskanzlerplatz“ bin ich gespannt.
Ich habe sie wiedererkannt, die Frankfurter Buchmesse, und es war schön, mal wieder dabei sein zu können. Gerne wieder nächstes Jahr. Wenn sie auch immer kleiner wird. Was aber vor allem daran liegt, dass sich das Geschäft mit den Büchern verändert hat. Inflationsbereinigt geht der Umsatz in der Buchbranche bergab, in Deutschland und Europa. Neuerscheinungen bei Sachbuch und Wissenschaft haben die 30-Euro-Marke geknackt, das E-Book liegt knapp darunter.
Mein Soundtrack in diesen Tagen war übrigens May Ninth von Khruangbin auf single repeat, stundenlang. Alles wird sehr, sehr gut.
Und da war noch was: In Maren Kames' „Hasenprosa“ gibt es mehrere Sätze, die wirklich rocken. Lesen! Lesen! Lesen!
Zur Frankfurter Buchmesse zeigt das Städel italienische Zeichnungen aus dem 17. Jahrhundert aus eigenem Bestand. Darunter sind sehr schöne Blätter. Ausgenommen ist Venedig, weil es dazu zuletzt 2006 eine Ausstellung gegeben habe. Hätte man aber durchaus ergänzen können, kann mich nicht soweit zurück erinnern.
Der Blick auf Klassiker schult das Sehen. Aufschlussreich fand ich, im Anschluss an den italienischen Barock in die Gegenwartskunst zu gehen, wo Muntean/Rosenblum im Metzler-Foyer fotorealistische Bilder zeigen, die so ganz das Gegenteil der heiligen Familie darstellen. Jugend und Einsamkeit und Leere an Nicht-Orten. Aber auch sie setzen Akzente, arbeiten mit Perspektive und Licht. Die Parallelen hatte ich noch nicht so deutlich bemerkt, als ich die Bilder vor ein paar Wochen zum ersten Mal gesehen hatte.
In Erinnerung bleibt mir ein Werktitel von Muntean/Rosenblum:
We were always in the right place at the wrong time, the wrong place at the right time, always just missing each other, always just a few inches from figuring the whole thing out.
Nebenan beklagt sich Anke Gröner über die viel zu vollen Blockbuster-Ausstellungen, die derzeit noch andauern beziehungsweise gerade zuende gehen. Sie ging trotz allem in Caspar David Friedrich in Hamburg. Und andere mehr.
Ich stand in den letzten Wochen mehrmals vor der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main – und ging nicht hinein zu Feininger. „Links, das ist die Schlange für die Kasse, und rechts ist Online.“
Die vielen Menschen, der Andrang, die beengten Verhältnisse und das Langeschlangestehen (sic) sind so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir unter einer Kunstausstellung vorstelle. Museums- und Ausstellungsbesuche werde ich in Zukunft also anders angehen lassen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, den das nervt und der sich anderweitig orientiert. Die Bedeutung der Sammlungen und der Dauerausstellungen wächst. Das wird dadurch erleichtert, dass ich schon so lange im Kulturbetrieb unterwegs bin, dass ich die Sammlungen in der Nähe ganz gut kenne. Diejenigen in größerer Entfernung werden nun hinzukommen.
Weg von den Events, weg vom Kunstkonsum als organisiertem Ereignis, hin zu selbstbestimmten und, wenn man so will, auch selbst kuratierten Kunsterfahrungen. Und weg von den größeren und großen Hallen, hin zu den kleineren Häusern. Wo Kunst noch möglich ist, ohne Online-Buchung und festgezurrtem Zeitfenster, zwischen mehreren Gruppenreisen und so. Ähnlich wie früher. Muss doch gehen. Irgendwie.
Meine These wäre, dass die im Vergleich zu früheren Zeiten heute übervollen Ausstellungen etwas mit dem zu tun haben, was Stefan Schulz in seinem Buch die Altenrepublik genannt hatte. Die Baby-Boomer haben jetzt genügend Zeit, denn die große Verrentungswelle hat eingesetzt, und so bevölkern sie nun die Ausstellungshäuser und erobern sich den kulturellen Raum, und zwar zu Zeiten, zu denen sie bis dahin – zumindest in dieser Anzahl – dort nicht anwesend sein konnten. Wir werden es beobachten.
2023 geht zuende. Es ist Zeit für einen Blick zurück.
So wenig Weihnachten war selten wie in diesem Jahr. Kaum ein Geschäft
in der großen Einkaufsstraße hat sein Schaufenster entsprechend
dekoriert. Wenn sie nicht mal mehr saisonal dekorieren, wie soll dann
der Gedanke an saisonales Einkaufen entstehen?
Wir sehen vor uns: Eine verwundete Gesellschaft. Freilich begann es in
einem umfassenderen Sinne schon viel früher. Aber im engeren Sinne
betrachten wir die letzten etwa vier Jahre. Irgendwie. Es ist kaum
möglich zu erfassen, was in der Zeit alles kaputt gegangen ist, kaputt
gemacht wurde. Strukturen, die aufzubauen viele Jahre oder sogar
Jahrzehnte gedauert hatte, wurden innerhalb von Wochen und Tagen für
immer beschädigt oder für immer zerstört, so scheint es. Auch wenn es
viele Versuche dazu gab und gibt, es fällt doch schwer, sich davon zu
erholen. Es betrifft Menschen ebenso wie gesellschaftliche Ordnungen:
Organisationen, Institutionen, Netzwerke. Ganz schwer einzuschätzen,
wie es weitergehen wird.
Überall neues Personal, das die Verhältnisse „vor Corona“ nicht mehr
kennt. In der Bibliothek, in der Klinik, in der Arztpraxis, im Laden.
Anything left?
Derzeit wird in den größeren Städten nachgeholt, was in der letzten
Zeit auf dem Land vorausgegangen war: Schließung von Bankfilialen und
Geschäften und Geschäftsstellen. Was bleibt, sind Automaten, wenn
überhaupt. Und Webseiten. Und ständig ändert sich etwas. Deshalb
veraltet das Wissen über Alltägliches immer schneller.
2023 war auch das Jahr, in dem das textbasierte Usenet kaputt ging.
Über das Interface zu Google Groups kam massenweise Spam herein, mit
KI generiert, und machte die Newsgroups unlesbar. Zuerst wurden Google
Groups vollständig ausgefiltert. Dann zog sich Google vollständig aus
dem Usenet zurück. Das einst von DejaNews gekaufte historische
Usenet-Archiv bleibe erhalten – offen bleibt, wie lange. Aber es werde
nicht mehr fortgeführt. Hier bräuchte es also ein privates Projekt. Es
wird sich sicherlich etwas ergeben. Die Newsgroups sind aber deutlich
getroffen, denn auch den Benutzern war es nicht mehr möglich gewesen,
sich per Killfile gegen den Spam, in solchen Mengen und in dieser
Qualität variiert, zu schützen. Und ein doch recht großer Teil der
Regulars postete über viele Jahre über Google Groups. Es bleibt
abzuwarten, wie es nun weitergehen wird.
Übergänge gab es auch bei den Mailinglisten. Einige starben, einige
wurden bei neuen Providern weitergeführt, erneutes Anmelden reichte
aus. Im Hintergrund war auch hier Google, diesmal mit seiner Mail. Wer
einen so großen Teil der Lemminge mit seinem Dienst bedient, bestimmt
am Ende die Regeln, nach denen alle E-Mails transportiert, adressiert,
empfangen werden. So eine große Macht auf ein ganzes Medium, auf
Märkte und auf Protokolle, die gar nicht mehr zum eigenen Beritt
zählen, gehört freilich verboten, ist es aber nicht, wie wir wissen.
Derweil ist die Google-Suche endgültig unbrauchbar geworden. Bing
liefert immerhin noch Nachweise zu Nachrichten auf Websites. Und
ansonsten: MetaGer rulez. Wenn ich überhaupt noch Web-Suchmaschinen
benutze.
2023 war auch das Jahr, in dem Twitter starb und Mastodon und das
Fediverse aufstieg. Vielleicht war es auch ein Umbruch für die Blogs.
Felix Schaumburg sagte in Bildung – Zukunft – Technik – BTZ108:
Wenige bloggen noch regelmäßig, aber trotzdem gibts die Blogs, und es
ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass wenn mal irgendwie was ist,
man das dann auch wieder nutzen könnte. Und ich glaube, in dem Sinne
gehen Blogs nicht weg, auch wenn sie nicht mehr groß sind, also
dominant als Medium.
Und in derselben Folge sagte: Guido Brombach: „Ich bin
social-media-müde.“ Und er muss es ja wissen.
Wo bleibt das Positive? Ganz sicher hier: 2023 war auch das Jahr, in
dem die 70. Ausgabe meiner vierteljährlichen Kolumne Neue
Pakete auf CTAN erschienen ist. Die erste Folge kam in der
Mitgliederzeitschrift der Deutschsprachigen Anwendervereinigung TeX
(DANTE), in der TeXnischen Komödie (DTK), in Ausgabe 2/2005. Und
wenn nichts dazwischenkommt, setze ich die Reihe gerne fort.
Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.
Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.
Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?
Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.
Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)
Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:
Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!
Der Handwerker kniet auf dem Boden und schlägt mit dem Hammer auf eine lange Holzlatte ein, die vor ihm liegt. Kreissägen kreischen durch das Erdgeschoss, und es riecht nach Farbe.
Nach mehr als einem Jahr bin ich in eines der größeren Kaufhäuser gegangen. Letztes Jahr war Ausverkauf. Also wirklich Aus-ver-kauf. Sie haben auch heute keine zu früher vergleichbare Auswahl bei den Produkten. Alles ist geschrumpft, und es gibt viel Platz zwischen den Regalen und den Warentischen. Auch kaum Personal.
Ich suche nach der Kasse. Das Schild, das den Weg weist, zeigt ins Nichts. Die Kasse ist leider nicht besetzt. Sie können entweder nach unten gehen zu den Süßwaren oder ein Stockwerk höher, da hinten ist die Rolltreppe. Nein, die geht nicht, die ist außer Betrieb. Also nach unten. Eine lange Schlange. Es dauert ewig. Also doch nach oben. Umweg: Es gibt noch eine andere Rolltreppe. Eine kürzere Schlange. Möchten Sie eine Plastiktüte für zehn Cent? Nein, danke, ich habe einen Baumwollbeutel dabei. Die Plastiktüte war früher ein stolzer und moderner Werbeträger, heute ist sie ein teures Teil, das keiner mehr haben will. Nicht wirklich.
Zur Projektplanung setze ich seit vielen Jahren auf analoges Werkzeug: Einen schönen Taschenkalender und ein farblich dazu passendes Clairfontaine-Heft. Der Kalender ist bestellt. Das Heft gabs nicht kariert. Also linierte Kladden vom selben Hersteller. Hatte ich zum letzten Mal 2016. Als das alles begann. Und lange vor dem ganzen Rest. Also genaugenommen ein gutes Zeichen.
Auch die Bauarbeiten in den Geschäften könnte man positiv sehen, es wird investiert. Aber mit fremdem Geld, das man ohne weiteres verbrennen kann, ohne dass es weh täte, wenn es später abgeschrieben würde.
Auch auf der Straße: Bauarbeiten. Dauerregen auf die Baustelle.
Das Bild, das die Geschäfte und die große Einkaufsstraße bieten, wirkt wie eine Metapher für die verwundete Gesellschaft im ganzen. Sie lässt mich fassungslos zurück.
Der Weg führt am Fluss entlang, hinein in die Stadt. Die Sonne scheint, und es ist so warm, dass es fast schon wieder zuviel an Wärme ist, so schnell war der Übergang vom kalten Spätfrühling zum Sommerbeginn.
Ein Jahr, in dem so viel passiert war. Ein Jahr, in dem auch so wenig passiert war. Eine Wohnung kann groß sein, und dann auch wieder so klein.
Und jetzt nach mehr als einem halben Jahr zurück in die Stadt hinein, am Fluss entlang. Den Weg, den ich fast ein Vierteljahr lang immer wieder gegangen war.
Die Gänse am Ufer, wie vor vier Jahren, als das alles begann. Als ich wieder fliegen lernte, als ich mit anderen um die Wette ins helle Licht lief, und der Körper viel schneller war als die Seele, die erst nachkommen musste. Also innehalten und abwarten. Und weiter. Und immer weiter. Aufstehen. Aufstehen. Aufstehen.
Am Fluss entlang hinein in die Stadt. Wo sehr viel weniger passiert als damals. Beruhigung, Entschleunigung. Die große Bremse, die alles anhielt.
Eine Gruppe junger Leute, die auf dem Rasen am Ufer sitzen und sich auf Englisch unterhalten. Werden es genug Antikörper sein, wenn es darauf ankommen sollte? Die Gänse am Ufer. Die Gänse auf dem Rasen.
Eine Gruppe junger Mütter bei der Gymnastik am Fluss. Sie bilden einen Kreis, und die Kleinen in der Mitte. Und dort ist die Brücke, über die ich so oft schon gegangen war. Kaum Touristen, wo man früher so viele verschiedene Sprachen hörte.
Das Café, in dem ich so viele Stunden verbracht hatte, gibt es nicht mehr. Ausgeräumt. Stühle und Tische sind verschwunden, für immer, wie es scheint. Seelenlose Gassen, fast menschenleer. Ein Disneyland in Fachwerk. Da drüben ist der Dom. Ein älteres Paar läuft über den Platz, telefoniert gemeinsam mit lautgestelltem Handy auf Italienisch als verstände es keiner um sie herum. Sie ist auffällig blondiert, und sie hält das Gerät vor sich als wäre sie sechzig Jahre jünger, mindestens.
Nur die Sonne ist wie früher. Und werden die Antikörper dann reichen? Auch in diesem Café war ich oft. Früher immer gut besucht. Heute kaum Gäste. Der Kellner trägt Maske. Kenne ich ihn? Er langweilt sich. Er nickt. Er geht wieder hinein. Zwei Besucher sitzen draußen an Tischen in der Sonne.
Weiter zum Museum. Es hat geschlossen. Auch gegenüber. Auch der Laden, wo es die Wolldecken gibt, ist noch da, aber geschlossen. Sie hatten immer kleine Elefantenfiguren aus buntem Filz im Angebot. Heute aber nicht.
Weiter über die Straße. Links bei Tchibo läuft der Verkauf. Man wird die Behandlung bald wiederholen müssen, sonst verliert sich der Nutzen und es reicht nicht mehr. Ob das überhaupt geht?
Weiter auf der anderen Straßenseite. Die Apotheke mit einem Schild an der Tür: Today no testing. Der Handyladen: Als wäre nichts gewesen. Der Second-Hand-Laden daneben dito. Offene Türen, aber keine Kunden in den Läden.
Jetzt kommt die große Fußgängerzone. Ich schaue mich um, um mich des Orts zu versichern: Ich bin jetzt mitten in der Stadt, wo früher ganz viel eingekauft wurde. Die großen Läden haben wieder geöffnet. Die kleinen auch. Es ist ein bisschen wie bei der Müttergymnastik: Die Großen drumherum und die Kleinen in der Mitte. Riesige Schilder, auf denen ebenso riesige Rabatte angekündigt werden. Die Sparkasse. Mit Sicherheitsmann am Eingang. Hier haben sie ihn also noch. Und der große Platz, heute ohne Markt. Fahrradfahrer kreuzen meinen Weg. Ich bleibe stehen, ich weiche aus. Ob man es überhaupt wird wiederholen können, wenn es nötig sein wird? Die Rolltreppe nach unten.
Die Geschäfte unter der Erde, auf dem Weg zur S-Bahn. In allem und in allen strahlt die Angst. Warten am Bahnsteig. Viel zu lang dauert es. Es ist viel zu eng hier für die vielen Menschen. Die nächste Bahn nehme ich ganz bestimmt. Die Türen gehen auf, der Zug leert sich, ich gehe hinein, die Türen schließen sich, der Zug fährt an, fährt, fährt, fährt mit mir weg. Durch den Tunnel. Weg aus dieser fremden und leeren Welt ohne Wärme, da ist nur die Hitze am Mittag. Ich traue mich kaum zu atmen. Das ist eine Verbindung, die mich zurück zu der Wohnung bringt, aus der ich aufgebrochen war am Morgen. Mit ihr fliege ich zurück in mein vorübergehendes Leben. Die Tür geht auf, ich verlasse den Zug. Die Maske weiter aufbehalten, bis man den Bahnhof ganz verlassen hat. Ob es ausreichen wird? Und weiter nachhause.
Müde laufe ich durch die Stadt. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt, dass die Wärme der Sonne dagegen nicht ankommt. Die Winterjacke ist noch zu warm, aber die Sommerjacke zu dünn. Es passt nicht.
Als ich hier das letzte Mal vorbeikam, blühte noch der Ginster. Jetzt sind die Sträucher grün geworden. Aber die Werbung an der Litfaßsäule ist immer noch die gleiche. Vom Februar. Vom Februar vor einem Jahr. Vor einem Jahr, als das alles begann. Als die Geschäfte zum ersten Mal geschlossen wurden. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die digitale Bohème flächendeckend wurde und Homeoffice hieß, jetzt, wo sie bieder geworden war und für alle.
Zuhause bleiben und in den Computer tippen und alles über Video, wie früher in meinem alten Leben auch schon, aber für die anderen war das ganz neu. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die Sonne schien, als ginge es um ihr Leben. Als die Sonne schien, als würde das niemals enden. Als der Ginster blühte. Als die Bäume wieder grün wurden. Als es noch kalt war, aber die Sonne wurde immer wärmer.
Und jetzt ist es wieder Mai, und ich laufe müde durch die Stadt. Aber anders als damals.
Der Laden dort hat schon seit einem Jahr geschlossen. Jetzt haben sie Zeitungspapier hinter das Schaufenster geklebt. Haben sie es überhaupt geklebt, oder warum sieht man keine Spuren von Klebstoff an der Fensterscheibe?
Vor einem Jahr hatte die Sonne auch so geschienen, aber dieses Jahr gibt es immer wieder Regen. Und abends heizt man, sonst ist es zu kühl ohne die Heizung. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt. Und es regnet immer wieder. Immer noch die Winterjacke, wenn auch ohne Fleece.
Merkst du, tagsüber sind viel mehr jüngere Leute unterwegs, die wären früher alle in Büros gewesen. Untergebracht und weggeschlossen, gleichwohl offen. Heute gehen sie spazieren, wenn die Sonne scheint, auch unter der Woche. Gehen sie zum Bäcker, zum Einkaufen, wenn sie Pausen machen von der digitalen Bohème, die sie jetzt Homeoffice nennen, damit es nicht so auffällt. Eine Bohème mit Sozialversicherung. Mit Wumms, haben sie gesagt. Mit Wumms aus der Krise, haben sie gesagt. Dass die sich nicht schämen.
Der Bäcker da drüben hat schon länger geschlossen. Es lohnt sich nicht mehr, weil sie keinen Kaffee to go mehr verkaufen morgens. So früh ist kaum noch einer unterwegs morgens. Sie machen sich den Kaffee jetzt selbst daheim, bevor sie sich an ihre Computer setzen. Vom Bett ins Wohnzimmer an den Schreibtisch an den Computer, dazwischen liegt das Bad, liegt die Küche, der Kaffee, das Frühstück, der Wasserkocher, der Kühlschrank und die Waschmaschine. Und abends wieder retour.
Es ist Ende Mai, und der Wind ist kalt. Die Impfreaktion mache einen müde, sagen sie. Mache Kopfweh, sagen sie. Der Briefträger auf dem Fahrrad biegt um die Ecke. Sein Korb ist voller Zeitschriften und Büchersendungen. Es wird viel gelesen, sagt die Frau an der Abo-Hotline. Sie hätten so viele Anrufe. Alle sind zuhause, man hat Zeit, es wird telefoniert, das Festnetz, die digitale Bohème hat Zeit zuhause.
Der Friseur da drüben darf wieder aufmachen. Die Haare werden kürzer. Die Maskenpflicht. Die Testpflicht. Die Pflicht ruft.
Manche füttern noch die Vögel. Es ist kalt. Es ist Ende Mai. Die Blaumeisen sind verschwunden, wir haben nur noch Sperlinge und Kohlmeisen und Amseln und Tauben. Und Tauben. Und Tauben.
Wenigstens haben sie die Werbung mit den Osterhasen weggemacht. Die Osterhasen, die sie im Einkaufszentrum verschenken wollten, zu Ostern. Vor einem Jahr. Sie hing bis kurz vor Weihnachten. Und jetzt ist Pfingsten. Das zweite Pfingsten schon, seit alles begann. Aber ich denke immer noch an die goldenen Osterhasen auf den Werbeplakaten.
Die Eisdiele hat wieder aufgemacht. Die Leute stehen im eiskalten Wind in der Sonne und warten darauf, dass sie eine Kugel Eis in einer Waffel bekommen können. Sie halten Abstand zueinander, auf dem Boden in der Fußgängerzone sind Markierungen angebracht worden. Alle tragen Masken, denn hier besteht Maskenpflicht von acht bis zweiundzwanzig Uhr. Die Eisverkäuferin trägt auch eine Maske. Man sieht nicht, ob sie lächelt, wenn sie die gefüllten Waffeln reicht.
Gegenüber der Trödelladen mit dem Schild im Schaufenster: Wenn Sie etwas kaufen möchten, rufen Sie mich an! Die Tür ist abgeschlossen. Ich will nichts kaufen. Es ist kalt. Ich denke an die leere Fensterscheibe und das Zeitungspapier und den Klebstoff. Ich bin müde. Sie sagen, das sei von dem Impfstoff. Das Impfen mache die Leute so müde. Es mache auch Fieber, aber ich habe kein Fieber. Es ist kalt. Der Wind.
Die ersten Blumen brechen durch. Der Frühling ist schon fast vorbei, aber alle tragen immer noch ihre Wintersachen. Im Rewe gibts Erdbeeren aus Holland. Und die Buchhandlung hat jetzt wieder geöffnet, aber nur auf Abruf. Da drüben wird getestet. Gleich zum Mitnehmen. Die Leute warten auf ihr Ergebnis. Es gibt eine Schlange, aber keiner hat es eilig, alle haben Zeit.
Bei der Sparkasse darf man einfach so hineingehen. Vor einem Jahr, als das alles anfing, hatten sie noch einen Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang stehen, der ist jetzt nicht mehr da. Man kann gleich reingehen, wie früher. Alle sind maskiert. Früher wäre man verdächtig gewesen, wenn man maskiert in die Sparkasse gegangen wäre. Heute muss man das tun. Der Elektroladen daneben hat geschlossen. Ein Schild für den Paketboten hängt an der Tür: Wir bauen um, wir sind da, bitte klingeln! Es sieht nur so aus, als wäre alles zu. In Wahrheit ist alles ganz anders.
Müde laufe ich durch die Stadt. Sie sagen, das sei die Impfreaktion. Das gehe bald vorbei. Es dauere nicht mehr lange. The times, they are a'changing, lief vorhin im Radio.
Ich denke an die vielen Ausstellungen. Die ungesehenen Ausstellungen. Die ungesehenen Bilder, Skulpturen. Die ungehörten Konzerte. Die ungesehenen Theateraufführungen. Die nicht ausgeliehenen Bücher. Die Wintersachen aus dem letzten Jahr, die immer noch in den geschlossenen Läden liegen, hängen, stehen. In den Läden, die sie kurz vor Weihnachten zugemacht hatten. Das Geschäft da drüben hatten sie vor einem Monaten geräumt. Auch dort jetzt: Zeitungspapier.
Die Blätter an den Sträuchern sind ganz frisch. Man sieht, wie sich die kleinen, frischen Blättchen auffalten. Wie sie sich zum ersten Mal strecken, wie schön das ist, die frischen kleinen Blättchen an den kahlen Zweigen im kalten hellen Frühlingslicht. Im kalten Wind am frühen Nachmittag.
Es ist Ende Mai. Alle sind maskiert. Ich bin die ganze Zeit über müde. Es passt nicht. Aber ich habe kein Fieber.
Tizian und die Renaissance in Venedig ist eine geballte Ladung Kunstgeschichte auf zwei Etagen. Die Ausstellung ist in Schwerpunkte gegliedert und erzählt die Neuansätze bei der Darstellung und der Funktion der Landschaft in der seinerzeitigen Malerei, der Darstellung von Frauen und Männern im Porträt sowie die Umsetzung antiker und biblischer Stoffe im Bild. Die Schau endet mit einem Überblick über die Rezeption der venetianischen Renaissance bis in die Gegenwart – darunter ein unerwartetes Wiedersehen mit zwei Bildern von Thomas Struth aus der Becher-Klasse (2017 an gleicher Stelle zu sehen), auf denen die museale Verarbeitung reflektiert wird. Bilder im Bild sind darauf zu sehen, darunter auch die Madonna mit dem Kaninchen aus dem Louvre, die im ersten Teil gezeigt wird.
Durchgehend sind Beispiele für bedeutsame Buchausgaben zu sehen, die die Bilder gut ergänzen. Die alten Bücher wirken besonders eindrucksvoll, weil sie die Typografie und die gestalterische und handwerkliche Kunst aus der Anfangszeit des Buchdrucks demonstrieren. Sehr schöne und hervorragend erhaltene Feder-, Kreide- und Pastellzeichnungen, teils weiß gehöht auf farbigem Papier, teils Studien, ergänzen die Gemälde, oft aus der grafischen Sammlung des Städel.
Es ist keine reine Tizian-Schau, sondern, wie der Titel sagt, ein Blick auf Tizian und Umfeld im Venedig um 1500, als die Malerei Farb- und Luftperspektive lernte, weiter Entferntes daher meist sehr blau, aber nicht mehr so flach wie noch kurze Zeit vorher bei den Italienern ausgeführt. Einen guten Eindruck von der Präsentation gibt dieses Werbefilmchen:
Der Weg durch das Haus zur Sonderausstellung führt übrigens durch eine weitgehend neu gehängte klassische Moderne, die ebenfalls sehenswert ist, weil sich dadurch neue Zusammenhänge erschließen und teils auch Werke aus dem Depot geholt wurden, die es absolut verdient haben. Außerdem ist Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht noch bis 17. März zu sehen. Selten war das Städel an einem Freitagnachmittag so gut besucht wie gestern.
Tizian und die Renaissance in Venedig. Städel Museum, Frankfurt am Main. Kurator: Bastian Eclerc (Sammlungsleiter italienische, französische und spanische Malerei vor 1800, Städel Museum). Wissenschaftliche Beratung: Hans Aurenhammer (Goethe-Universität, Frankfurt am Main). Katalog und Begleitheft im Museum zu erwerben. Audioguide zur Miete. App für Android und iOS kostenlos. Digitorial. – Bis 26. Mai 2019.