Der Wanderer 139
Heute Abend im Deutschlandfunk: „Zwischen Nazis und Nofretete. Samuel Becketts Berliner Tagebücher 1936/37“, ein Radiofeature von Bernd Kempker und Carola Veit aus dem Jahr 2007 – und deshalb ohne Audio im Netz. Wir hatten ja nichts. Wir haben immer noch nichts. Ein Blick in den Brockhaus: Er weiß nicht einmal von der Deutschlandreise des Iren, kurz nach den Olympischen Sommerspielen, kurz vor den Pogromen 1938. Beckett reiste durch Deutschland und beschrieb, was ihm damals unterkam. Und dann doch noch ein interessanter Treffer: Suhrkamp kündigt die erste Ausgabe der „German Diaries“ für den April 2026 an, in einer zweisprachigen Ausgabe auf Englisch und Deutsch, mit Kommentar, übersetzt von Gaby Hartel. Bin gespannt. Sehr.
Beckett, Samuel. 2026. German Diaries: 28. September 1936–1. April 1937. Englisch und deutsch. Text und Kommentar. Herausgegeben von Oliver Lubrich und Mark Nixon. Übersetzt von Gaby Hartel. Suhrkamp.
Der Wanderer 137
Den Bachmannpreis habe ich auch dieses Jahr nur als Konserve verfolgen können. Immerhin ist es mir gerade noch gelungen, vor der Preisverleihung alle Lesungen und Diskussionen zu hören. Und zu sehen. Gelobt seien die Mediatheken. Am Abend, wenn es dunkel wurde und etwas kühler, lief das Video auf meinem Bildschirm. Sechs, sieben oder mehr Stunden später als der Vorgang, der darauf zu sehen ist. Es waren konzentrierte und ganz überwiegend sehr sachliche Debatten in diesem Jahr. Und Texte, in denen sich viel Gesellschaftliches zeigte. Mehr Umwelt, weniger Selbstbespiegelung. Viel mehr Blick nach draußen als in früheren Jahrgängen. Aber die Gewinnerin hätte ich nicht vorhersagen können. Alles sehr gut gearbeitete Texte. Kein Totalausfall war dabei.
Derzeit haben wir eine ungewöhnlich lang andauernde Hitzephase. Sie hat gerade erst begonnen und soll noch mindestens eine Woche andauern. Jeden Tag über dreißig Grad. Und die Frischluftfanatiker machen die Fenster auf, damit die Hitze erst richtig hereinkommt ins Haus. Jeden Tag läuft eine E-Mail über den Verteiler, die Hitzewarnung wird verlängert.
Der Wanderer 133
Zu seinem 25. Geburtstag hat der Perlentaucher eine Liste der am häufigsten in der Literaturkritik besprochenen Titel aus dem Zeitraum 2000–2024 zusammengestellt (PDF). Mindestaufnahmekriterium waren sechs Rezensionen in den Medien, die der Perlentaucher beobachtet. Darunter ist vieles, woran man sich kaum noch entsinnen mag, was die Breite demonstriert, die in der täglichen Feuilletonschau abgedeckt wird. Immer noch und ziemlich zuverlässig. Der albatros gratuliert zum runden Geburtstag!
Der Wanderer 122
Am 16. Juni ist Bloomsday, und so bringt RTÉ Radio 1 extra heute (nach 2020) wieder eine Wiederholung der Hörspielfassung des Ulysses von James Joyce aus dem Jahr 1982. Man findet sie freilich auch im Internet Archive. Aber diesen Radio-Livestream aus Irland gibts nur heute.
Der Wanderer 108
Mein Feedreader lieferte mir an diesem Ostermontag zwei aufschlussreiche Beiträge, die ich gerne weitergeben möchte:
- Der Hessische Rundfunk beschreibt, wie die Gemeindebücherei Egelsbach, hier bei uns im Kreis Offenbach, die 2012 aus Kostengründen geschlossen worden war, durch ehrenamtliches Engagement wiederbelebt worden ist. Die Bibliothek hat einen Bestand von derzeit 16.500 Medieneinheiten, es gibt 700 erwachsene Benutzer, und 500 Kinder und Jugendliche haben einen Leseausweis. Der Betrieb wird von 40 Ehrenamtlichen erbracht.
- Im Deutschlandfunk interviewt Michael Köhler die Kultursoziologin Carolin Amlinger über die Trends beim Lesen und den Zusammenhang zwischen dem Lesen und der gesellschaftlichen Ungleichheit. Es geht ums Lesen als Klassenfrage: Das Verschwinden der privaten Bibliotheken. Das Schwinden der Überzeugung, wonach es einen Zusammenhang zwischen Lesen und sozialer Mobilität gebe. Auch um den Untergang einer alltäglichen Buch-, Lese- und Bibliothekskultur.
Der Wanderer 101
Günther Fetzer bespricht hintergründig in literaturkritik.de vom 15. Februar 2024 die in den beiden letzten Jahren erschienenen zwei ersten Teilbände zur Geschichte des DDR-Buchhandels, die bei De Gruyter von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm herausgegeben werden. Sie erscheinen in der Reihe zur Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert und handeln vor allem von den Verlagen. Ein dritter Band soll noch folgen, darin soll es auch um die Geschichte der Bibliotheken in der DDR und um den Außenhandel des Buchhandels gehen. Der Verlag hat den abschließenden Band gegenüber dem Rezensenten für 2025 angekündigt.
- Fetzer, Günther. 2024. „Der andere deutsche Buchmarkt – Die ersten zwei Teile zur Geschichte des Buchhandels in der DDR sind erschienen“. literaturkritik.de. 15. Februar 2024. literaturkritik.de.
Der Wanderer LXXXI
Die Frankfurter Rundschau berichtet über das Abwandern von Verlagen aus Frankfurt. Der Fall Suhrkamp ist bekannt. Aber jetzt „baut die Frankfurter Verlagsgruppe S. Fischer derzeit ein zweites Standbein [in Berlin] auf“. Und der Westend Verlag zieht nach Neu-Isenburg und wird dort in Zukunft in der Waldstraße 12a ansässig sein. Das ist ja nun nicht gerade ganz so weit weg wie Berlin es wäre. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass sich Frankfurt zerstreut, dass es diffuser wird, die Kultur wird schwerer auffindbar. Vor allem war der Westend Verlag nicht glücklich mit seiner Innenstadtlage, liest man. Und der Neubau, in den der Verlag umzieht, war in die Krise hinein errichtet worden, und man wird froh sein, dass die heute eigentlich viel zu große Fläche in Zeiten des Homeoffice loszuwerden war. Win, win.
Die Grenze zur Außenwelt II
Der Perlentaucher verweist heute auf zwei Quellen, die aus der allgemein-wohlwollenden Martin-Walser-Wahrnehmung in den Nachrufen der letzten Woche ausscheren. Zwei einsame Rufer in der Wüste, die sich dem Narrativ vom „Jahrhundertschriftsteller vom Bodensee“ nicht anschließen, und die auf den Skandal der Paulskirchen-Rede verweisen und den offenen Antisemitismus in seinen Texten. Benjamin Ortmeyer in der Jüdischen Allgemeinen und Klaus Bittermann in der Jungle World. Letzterer zeigt auch ein Foto mit den stehenden Ovationen nach der Friedenspreisrede. Wie schon einmal gesagt: Hab nichts mehr von ihm an Bord, und halte ihn auch weiterhin für verzichtbar.
Die Grenze zur Außenwelt
Der größte Teil der Werke Martin Walsers spielt in einem Milieu, das man schon die „alte Bundesrepublik“ nannte, als sie noch gar nicht Vergangenheit war. Tatsächlich sind große Teile dieses Milieus nach wie vor lebendig – in der Welt der besseren Angestellten und im höheren öffentlichen Dienst, unter den erfolgreicheren Selbständigen, Schriftstellern und Freiberuflern. Ihr Verhältnis zur Geschichte und zur Politik ist nicht durchdacht oder gar formuliert. Die Grenze zur Außenwelt ist für sie keine Wand, die man in der Manier des romantischen Helden durchstoßen könnte, sondern eher ein elastisches Gebilde, das weich zurückfedert.
So Thomas Steinfeld heute in der Süddeutschen Zeitung über den gerade verstorbenen Martin Walser. Auch ein Todesfall. Ich habe kein Buch mehr von ihm behalten. Nach Tod eines Kritikers gab ich alle Texte von ihm in den Flohmarkt.
The Sir Salman Rushdie interview
In the end, it's the books that matter, not the knives.
Ein Jahr nach dem Attentat bei einer öffentlichen Veranstaltung in New York hat Salman Rushdie sein erstes Interview gegeben. Er lebt seit der Veröffentlichung der Satanischen Verse im Jahr 1988 in ständiger Bedrohung und Lebensgefahr – ein Buch, das heute, in Zeiten des sensitivity reading, wahrscheinlich gar nicht mehr veröffentlicht würde, aus Respekt vor den Gefühlen, die dadurch verletzt werden könnten, auch darum geht es in dem Gespräch, wenn auch nur am Rande. Das ist gleichwohl bemerkenswert, denn der Stoff war bisher ganz überwiegend als ein Beispiel für die Meinungs- und die Kunstfreiheit besprochen worden. Ich glaube, mehr Rücksichtnahme wäre besser gewesen, auch hier. Abgesehen vom Verlust eines Auges bei dem Anschlag, gehe es ihm körperlich gut, aber er wisse noch nicht, ob er jemals wieder Veranstaltungen mit Publikum werde durchführen können.
Das Gespräch fand statt in der Hauptnachrichtensendung des BBC World Service Newshour am 12. Juli 2023. Nach 12 Jahren war es die letzte Sendung der Moderatorin Razia Iqbal. Die etwa 20 Minuten lange Unterhaltung wurde ausgekoppelt und am vergangenen Wochenende erneut gesendet. Sie kann ein Jahr lang auf BBC Sounds angehört werden.