Die Unumkehrbarkeit
The Romance of Middle Age von Mary Meriam ist das heutige Gedicht des Tages bei der Poetry Foundation. Sie hat den Blues: Now that I’m fifty … I didn’t know I’d undergo this change/ and be the unseen cover of a book/ whose plot, though swift, just keeps on getting thicker. Und sie fühlt die Unumkehrbarkeit des Laufs der Zeit.
Auch bei Wikipedia nehmen die Abschiede zu. Ein Ende ist nicht absehbar. Benutzer:Inkowik ging unlängst in einem Überschwang an Selbsterkenntnis – Ich investiere Stunden in völlig sinnlose Tätigkeiten: Löschen von Verschieberesten, Schützen von Benutzerseiten gesperrter Benutzer. Unerhebliche Minimalkorrekturen im Quelltext, Aufräumen hinter Zersörungswütigen. X-maliges Prüfen der Stimmberechtigung, Herumärgern mit der Foundation. Mehrere Tage Arbeit flossen in ein Bot-Framework mit Funktionen, die nicht einmal ich selbst brauche. Ich lese mir Diskussionen durch, die mir regelmäßig die Laune verderben. Ich setze mich abends nach der Arbeit hin und mache diesen ganzen Quatsch, weil ich es schon ewig mache, und vergeude so Stunde um Stunde sinnlos vor dem Bildschirm –, während Benutzer:Grey Geezer heute mit einer fulminanten Analyse der „Schon-gewußt“-Kolumne auf der kaum beachteten Hauptseite der deutschsprachigen Wikipedia seinen Abschied nahm.
Zwei Eindrücke, die zu dem heutigen Regenwetter gut passen.
Das Blog, das Wiki, das Netz, das Kapital
Angeregt durch Jan Drees' Beitrag Weshalb es 2015 Literaturblogs braucht, lese ich in einige der dort genannten und auch weiterer Plattformen hinein und klicke mich über Links und Blogrolls weiter. Es sind es in den meisten Fällen nurmehr Wurmfortsätze der Werbeabteilungen von Verlagen. Während in den bürgerlichen Feuilletons die Konfektionsware für das Zeitungspublikum angepriesen wird, gibt es hier den ganzen Rest zu sehen. Die Übergänge zu den Rezensionsforen der Online-Buchhandelskonzerne sind fließend. Mit anderen Worten: In dem Beitrag von Rees wird nicht ein einziges echtes Blog erwähnt. Und natürlich heißt es das Blog!, möchte man nach einer Stunde den „Literaturbloggern“ mit Jörg Kantel zurufen.
Was die meisten User, die erst mit Google und Facebook surfen gelernt haben, mit dem Begriff „Blog“ verbinden, hat mit der ursprünglichen und eigentlichen Bedeutung des Begriffs nichts mehr zu tun. Es sind Werbeplattformen, die von den Verlagen bemustert werden. Das gleiche gilt für Wikis. Ebenso wie für entsprechende Blogger, stellen die Verlage Random House und C. H. Beck seit einiger Zeit Rezensionsexemplare für Wikipedia-Autoren zur Verfügung. Random House schrieb selbst über einen eigenen Account bei Wikipedia an Artikeln zu seinem Verlagsprogramm mit und überarbeitete den Artikel Luchterhand Literaturverlag vollständig. Buch-Cover werden zur Bebilderung eingestellt, und den Blogger-Relations treten die Wiki-Autoren-Relations gegenüber. Das Wiki als ein weiterer PR-Kanal neben den vielen anderen. Full service.
Die Folge ist: Das Web 2.0 schafft sich durch seine fortschreitende Kommerzialisierung selbst ab. Wahrscheinlich ist das schon weitgehend erfolgt. Es ist in seinen wirtschaftlich relevanten Teilen schon überwiegend von den Konzernen übernommen worden. Der Traum vom libertären Netz ist an der Normalität des Kapitalismus gescheitert.
A comfortable relationship
Die Ausweichbewegungen nehmen zu: PGP-Entwickler Phil Zimmermann verlegt den Sitz seiner IT-Sicherheitsfirma aus den USA in die Schweiz, schreibt Juliette Garside im Guardian. Er tut es aus Gründen: „We are less likely to encounter legal pressures there than in the US,“ says Zimmermann. … British society is „too accepting of surveillance“, Zimmermann believes. „Here people have a comfortable relationship with their own government and maybe that's why they don't raise objection to it. Future governments that come to power might not be so nice, and if they inherit a surveillance infrastructure then they could use this to create an incumbency that cannot be changed.“ (via Fefe, der leider nur eine sekundäre Quelle verlinkt)
Nicht im mindesten
Die Zeit vom 21. Mai 2015, S. 21: Der Zeitverlag gehört zu den Gründungsmitgliedern des Projekts – was seine Journalisten nicht im mindesten daran hindert, unabhängig über Google zu berichten. – Wenn es so wäre, bräuchte man es nicht hervorzuheben, sondern täte es einfach.
Apple im nächsten Jahr
Mark Gurman schreibt bei 9to5mac über die Pläne von Apple zur weiteren Abschottung der Plattformen iOS und OS X: Even with this Rootless feature coming to OS X, sources say that the standard Finder-based file system is not going away this year. Die Betonung liegt auf this year. Was sie sich nächstes Jahr einfallen lassen werden, muß man wohl abwarten. Und dann gibt es ja immer noch den Midnight Commander? (via heise)
Betrifft die Vorratsdatenspeicherung auch Anonymisierungsdienste?
Diese Frage ist nicht abschliessend geklärt, heißt es dazu in der FAQ für den Anonymizerbetrieb des Chaos Computer Club Berlin mit dem Stand vom 22. Oktober 2008 (sic!) um 17:07 Uhr.
NPR und Flash
NPR hat zu Pfingsten seine Website renoviert, und der Livestream (mit neuer Adresse), den man gleich auf der Startseite oben anstoßen kann, läuft dort ohne Flash Player – aber nur, solange man auf der Startseite bleibt. Und dann braucht man Flash doch wieder, um einzelne Beiträge anzuhören; das ist inkonsequent. Dann aber wieder die text-only version. Schön, daß es das heute noch gibt.
E-Book und Book-Book III
Der Anteil der E-Books am Markt liege bei vier Prozent. Der Absatz der Verlage habe sich durch die Digitalisierung nicht erhöht, er verteile sich nur neu. Die Verlage versuchten, durch den Betrieb eigener Webforen und Blogs, Werbung zu treiben: Siv Bublitz vom Ullstein-Verlag in einem Interview bei Deutschlandradio Kultur. – Von den Marketing-Aktivitäten der Verlage bei Wikipedia ein andermal mehr.
Aus der schönen neuen Elsevier-Welt
Elsevier hat eine neue Open-Access-Policy bekanntgegeben, der zufolge die Autoren, welche an den Verlag gebunden sind, ihre Werke anderenorts im wesentlichen nur unter einer CC-BY-NC-ND-Lizenz veröffentlichen dürfen, die jegliche Änderung des Originals und seine gewerbliche Verwendung untersagt. Ein weiteres Kernstück ist ein „Embargo“ von 48 Monaten. Der Protest dagegen ließ nicht lange auf sich warten. Hintergrund für den Konflikt ist der Trend kommerzieller sozialer Netzwerke, alle möglichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die online zu greifen sind, einzusammeln, sie zu speichern und daraus Publikationslisten zu erstellen – hier der aktuelle Stand.
Elsevier ist in den Streit eingetreten und zeigt sich unnachgiebig. Wohl doch zu Unrecht, denn was jetzt benötigt würde, wären einfache Regeln für den sofortigen öffentlichen Zugriff auf Forschungsdaten. Elsevier nutzt die derzeit noch anhaltende Stellung der Wissenschaftsverlage aus, die die Wahrnehmung der Autoren durch die Öffentlichkeit organisieren sowie kanalisieren. Die Regeln, die in der Policy aufgestellt wurden, sind so kompliziert, daß sie schon in Elseviers offiziellem Blogpost nur in einer grafischen Übersicht überhaupt dargestellt werden konnten.
Dagegen hilft aber alles Weh und Klagen nicht, denn Ursache für diese weiterhin beherrschende Stellung der Verlage ist letztlich das Unvermögen der Universitäten, sich selbst zur Marke zu machen und solchen Geschäftsmodellen und der damit verbundenen Gängelung von Autoren, Bibliotheken und Lesern etwas Wirksames entgegenzusetzen. Solange die Wissenschaft selbst keine Marke ist und sich selbst nicht als Marke wahrnimmt, sondern alle Welt weiterhin auf die Handvoll Verlage und deren Output schaut, solange die Universitätsserver bestenfalls die Preprints bereithalten, und selbst diese oft nur für die eigenen Studenten, wird das kein Ende haben. Damit ist denn auch die Stoßrichtung bezeichnet, die eigentlich anzugehen wäre. Es liegt letztlich an den Wissenschaftlern, wo sie firmieren wollen und umgekehrt: welche Veröffentlichungen für die Karriere – bei ihresgleichen – als förderlich gelten. Erst wenn hier Einigkeit besteht, wird die Wissenschaft endlich befreit sein aus den Walled Gardens der Verlagskonzerne.
Ich möchte lieber nicht
Blogplaneten aggregieren die RSS-Feeds von vielen Blogs zu einem bestimmten Thema und bringen dadurch Autoren und Leser zusammen. Der Betriebswirt würde es wahrscheinlich eine „Win-Win-Situation“ nennen. Und nun möchte einer der bekannteren Blogplaneten, Jurablogs, die teilnehmenden Blogger zahlen lassen: Fünf Euro soll es für Klaus Graf zukünftig pro Monat kosten, damit seine Beiträge, die er in „Archivalia“ mit „Archivrecht“ taggt, dort weiterhin ungekürzt verbreitet werden. Sonst würden nur noch fünf Blogposts pro Monat transportiert. Wohlgemerkt: Sein Blog ist ein ehrenamtliches und hochwertiges Projekt aus der Wissenschaft für die Wissenschaft – und weit darüber hinaus. Er werde das nicht tun, liest man in seinem Blog, das lange schon gleich über mehrere Blogplaneten für Historiker und Bibliothekare zu lesen ist, die allesamt umsonst verbreitet werden. Diesen Betreibern geht es um Qualität, nicht um Zahlungskraft. Eine Ansammlung von Werbeplazierungen wird da demnach also bei Jurablogs geboten. – Auch als Leser: Ich möchte lieber nicht, sagte Bartleby. Es gibt genug Gutes zu lesen da draußen im Netz, zuhauf.