Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.
Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.
Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?
Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.
Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)
Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:
Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!
Das transnationale Medium Arte beschreibt in einem Dokumentarfilm, der am 5. Januar 2021 im linearen Programm läuft lief, das transnationale Projekt Wikipedia und nimmt dabei eine Position ein, die derjenigen der Wikimedia Foundation beim Blick auf ihre Operationen nicht unähnlich sein dürfte.
Aus den Interviews wurde nicht deutlich, welche der Wikipedianer, die dort gezeigt wurden, denn nun eigentlich je miteinander auf Wikipedia zu tun bekommen hätten. Immerhin zwei aus der deutschsprachigen Wikipedia waren darunter, aber die anderen sprachen jeweils nur über ihre eigene Sprachversion, und diese finden nicht zueinander.
Auf dieser globusdrehenden Metaebene verschwindet auch die Unzufriedenheit der Community an den Verhältnissen vollständig.
Was bleibt, ist ein Dilemma: Wikipedia als mächtiger information hub und zugleich als verletzlicher Gigant in einer Umwelt von Fake News. Viel genutzt, aber bis heute nicht alternativlos.
Die Rolle der Bibliotheken und vor allem der Verlage im Markt der Informationen fehlte ganz. Die Ökonomie der Inhalte, aus denen die Wikipedianer schöpfen, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf Literatur stützen.
Es ist kein kritischer Film.
Lorenza Castella, Jascha Hannover: Das Wikipedia Versprechen. 20 Jahre Wissen für alle? WDR. Deutschland. 2020. Verfügbar in der Arte-Mediathek bis 4. April 2021.
6. Januar 2020: Das Video des Films habe ich nachträglich in den vorstehenden Beitrag eingebettet, nachdem es auf YouTube eingestellt worden war.
Der Chaos Communication Congress ging dieses Jahr weitgehend an mir vorbei. Ich werde mich erst mit deutlichem Abstand mal in der Mediathek des CCC umschauen, wenn es sich zeitlich anbietet.
Ein Beitrag hat mich aber über den Deutschlandfunk schon jetzt erreicht: Es gibt eine neue Studie über die Motive, die Einstellungen und die Charaktereigenschaften von Podcastern. Christiane Attig von der TU Chemnitz hat sie auf dem 36C3 vorgestellt.
Christiane Attig hat eine ungewöhnlich große Stichprobe von 653 Teilnehmern erfasst – gibt es wirklich so viele Podcaster? –, sie hat ihnen einen Bogen geschickt, der im Kern die Big Five abfragen sollte, und die meisten der Antworten, die dabei gegeben wurden, hat sie ausgewertet. Die geschlossenen Fragen liegen schon in Zahlen vor, die Freitextantworten folgen noch.
Ein paar Zahlen: Drei Viertel der Teilnehmer an der Studie waren männlich. Zwei Drittel hatten einen Hochschulabschluss, etwa ebenso viele kamen aus einer Großstadt oder aus einer Metropole. Politisch verorteten sich die Teilnehmer ziemlich deutlich links, jedenfalls „linker“ als der Durchschnitt der Bevölkerung. Der Altersdurchschnitt lag bei 38 Jahren, die Lebenszufriedenheit war gut, und alle erreichten überdurchschnittliche Werte in Bezug auf die Eigenschaften Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Extraversion, emotionale Ausgeglichenheit, Technikaffinität und Kommunikationsoffenheit. Alle waren deutlich offener für neue Erfahrungen und sehr denkfreudig (need for cognition). Die Motivation zum Podcasten war in den meisten Fällen intrinsisch, es macht Spaß, man möchte Wissen vermitteln und dabei selbst auch technisch kompetenter werden. Dass man damit eine Community aufbaut, aus der auch Rückmeldungen kommen, wird erst im Laufe der Zeit wichtiger. Die Podcasterinnen waren deutlich weniger technikorientiert als die Männer, und für sie war der Wunsch nach Monetarisierung sehr viel stärker ausgeprägt – wobei 77 Prozent aller Podcasts nicht monetarisiert werden.
Ein interessanter Vortrag. Es ist ein bedeutsamer Beitrag zum Verständnis des heutigen Social Webs.
Es ist ja viel die Rede von Jürgen Habermas derzeit, zum 90. Geburtstag kann man das auch schon mal machen. Viele haben über ihn geschrieben, die Deutsche Welle (sic!) hat mit seiner Lektorin Eva Gilmer gesprochen, und da gab es eine Stelle, an der man als Nerd denn doch aufhorcht, weil davon ja sonst so gar nicht die Rede ist:
DW: In welchem Zustand kommen die Manuskripte bei Ihnen an und wie lange dauert es, bis Habermas eine Publikation wie „Auch eine Geschichte der Philosophie“ fertigstellt?
Gilmer: Auf den ersten Teil der Frage möchte ich am liebsten antworten: In Form von Word-Dateien, die via E-Mail übermittelt werden. Aber natürlich meinen Sie etwas anderes. …
Gesis stellt zum Jahresende das sozialwissenschaftliche Rechercheportal Sowiport ein:
Wir fokussieren unser Rechercheangebot künftig auf eine digitale, möglichst freie Verfügbarkeit und Nachnutzbarkeit von Publikationen (Open Access) und Forschungsdaten (Open Data) sowie damit verbundenen Informationen. Mit der neuen GESIS-Suche bieten wir ein Rechercheangebot, welches den Fokus auf Open Access und Verknüpfungen von Informationen legt.
Sehr zu empfehlen wäre eine lokale Archivierung von Recherche Spezial, das von 2008 bis 2014 sozialwissenschaftliche Literatur zusammengefaßt hatte. Allein die Themenauswahl spricht für sich.
Die Literatur- und Forschungsnachweise aus ausgewählten Sowiport-Datenbanken vermitteln einen Eindruck über die Qualität und den Umfang der in der übergreifenden Sowiport-Suche integrierten Datenbanken. Zugleich verschaffen Sie Ihnen einen raschen Überblick über die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft.
Matthias Wittfoth spricht (mp3) in dem Podcast Inside Brains über eine Stunde lang mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer über dessen Lebensweg, aber auch über Hintergründiges, was man aus den Massenmedien nur selten erfährt. Über den Zusammenhang von häuslicher Gewalt zwischen Eltern und Kindern und der späteren Gewalttätigkeit der Kinder erzählt Pfeiffer unter anderem von diesem Unterschied zwischen Europa und den USA:
…Nun war ich gerade in Amerika, deswegen, ein knappes Jahr in New York, und mußte mit Entsetzen realisieren, daß dort 85 Prozent der amerikanischen jungen Väter die These unterschreiben: Jedes Kind braucht ab und zu mal ne richtige Tracht Prügel. Und 65 Prozent der Mütter. Grauenhaft. So ist Amerika. Die sind auf einem Erziehungsniveau, das unserem in der Nazi-Zeit und in den 50er Jahren entspricht. Wenn ich das in den USA in meinen Vorträgen erzählt habe, waren die immer völlig schockiert. … Es gibt in Amerika nicht die Forschung von uns. Die Elternverbände verhindern, daß man Schulkinder als 15jährige fragen darf: Wie wars denn in Deiner Kindheit, im Alter von sechs bis zwölf?, was wir ständig tun, seit zwanzig Jahren. Also, dieses Defizit amerikanischer Forschung verhindert eine öffentliche Debatte, und in 19 Bundesstaaten dürfen ja auch die Lehrer noch mit dem Paddle schlagen. Über 200.000 Kinder werden pro Jahr dort öffentlich geschlagen … und dann wundern die sich über Trump. Trump ist die Folge davon, daß dieses ein repressiv erzogenes Volk ist mit viel unterdrückter Wut, mit Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit, und wenn man immer ohnmächtig ist in der Kindheit, will man später Macht haben, Waffen verleihen Macht, und man hat so eine angestaute Grundaggression durch all das, was zuhause einem widerfahren ist. Und dann ist so ein Trompeter des gewaltsamen Durchsetzens wie Trump ein Mensch, der diesen Frust anspricht … Grundfrust … der hätte null Chancen in Schweden, dem Land mit der niedrigsten Schlagequote der Welt und der niedrigsten Gefängnisquote. Amerika hat in der westlichen Welt die mit Abstand höchste, die drittmeiste weltweit. Also, 60 Menschen im Gefängnis in Schweden, 720 pro 100.000 Bürger in USA. … New York ist wie Europa, aber Virginia oder Texas, das ist dann eine andere Welt…
Auch Klaus Röhl treibt die Frage um, wie es nach dem Brexit mit Englisch als Sprache in Europa weitergehen mag. Er meint, schon wegen der Mitgliedschaft Irlands und Maltas bleibe das Englische weiterhin offizielle Arbeitssprache der Union, in den Arbeitsgremien, in der Europäischen Kommission und als Gerichtssprache könne es aber intern zu einer Verdrängung durch die romanischen Sprachen kommen. Einen stärkeren Einfluß des Deutschen erwartet er nicht: Die Sprachloyalität der deutschen Eliten ist so schwach, dass sie lieber weiterhin ihre Englischkenntnisse vorzeigen. Er erwartet keinen Einfluß des Brexit auf Englisch als Wissenschaftssprache. Höchstens bei EU-weiten Ausschreibungen könne es zu Veränderungen kommen. Er ist gespannt, wie die Mittel in Zukunft verteilt werden.
Im Verfassungsblog merkt man von dem Wandel jedenfalls noch nichts. Maximilian Steinbeis interviewt Gertrude Lübbe-Wolff denn auch ungeniert auf Englisch. Sie weist darauf hin, daß der Austritt Großbritanniens noch nicht erklärt oder gar vollzogen worden sei. Bisher gebe es nur ein Referendum; das müßte nun politisch und rechtlich umgesetzt werden.
Auffällig ist die weitentwickelte wissenschaftliche Blogosphäre im angelsächsischen Raum, die man aus diesem Anlaß erkunden kann. So verweist Jo Shaw im Gespräch mit dem Verfassungsblog auf einen Beitrag des Edinburgher Kollegen. Dessen Blogroll weist weitere Websites und Blogs nach. Auch bei The Conversation findet man weitere etwas fundiertere Beiträge – journalistisch aufbereitet, natürlich, denn das gehört dort zum Konzept, aber genaugenommen ist es ein redigiertes bzw. kuratiertes Autorenblog. Der deutschsprachige Raum hat insoweit ganz sicherlich Nachholbedarf.
Nachdem die Diskussion um den Anteil, den die Verlage an wissenschaftlichen Publikationen haben, wieder einmal ins Rollen gekommen ist, auch meine 2ct dazu:
Der Anteil, den die Verlage an meinen Veröffentlichungen hatten, war genau null. Insoweit decken sich mein Erfahrungen mit dem, was auch aus anderen Fächern als Jura schon hinreichend beschrieben worden ist. Es gab und gibt nur einen Grund, bei einem Fachverlag zu veröffentlichen: Die Sichtbarkeit der Arbeit im Bibliothekskatalog und die Beachtung durch das Schrifttum und durch die Rechtsprechung. Bundessozialgericht und Bundesverfassungsgericht hätten meine Diss nicht zitiert, wenn sie bei Books on Demand erschienen wäre. Natürlich wäre es dieselbe Arbeit gewesen. Derselbe Text. Aber so sind sie halt, die großen Leute, um es mit Saint-Exupéry zu sagen.
Das einzige, was sich in der Rechtswissenschaft seitdem verändert hat, ist, daß Urteile mittlerweile zunehmend aus proprietären Datenbanken heraus zitiert werden, statt aus Zeitschriften oder amtlichen Entscheidungssammlungen. Um das zu ermöglichen, wurden sie mit amtlichen Randnummern versehen. Und solange die Rechtswissenschaft so funktioniert, kann man eigentlich niemand dazu raten, in dem Fach auf Open Access zu setzen.
Der Wandel wird nicht durch die Autoren kommen, er müßte notwendigerweise von der anderen Seite ausgehen, um den Autoren ein Signal zu setzen. Und warum sollte das so sein? Gerichte und Schrifttum haben dazu keinen Anlaß. Ein Verdienst der Verlage ist das gewiß nicht. Und erst recht kein Grund, ihnen einen Obulus aus den Einnahmen der VG Wort zuzuschachern, wie es die Bundesregierung nun wieder tun will.
Die Diskussion krankt daran, daß sie alle Verlage über einen Kamm schert. Belletristik und Sachbücher, die aufwendig zu lektorieren sind, sind eben ein anderes Geschäft als Wissenschaft, wo überhaupt nichts lektoriert wird. Hier werden wissenschaftliche Texte 1:1 übernommen, der Verlag hat daran überhaupt keinen Anteil. Er sorgt – siehe oben – ausschließlich für die Beachtung des Textes in der Öffentlichkeit des jeweiligen Fachs.
Joseph Pennell: The Illustration of Books. A Manual for the Use of Students. Notes for a Course of Lectures at the Slade School, University College. New York: The Century Co. London: T Fisher Unwin. 1895.