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Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2024

Die Frankfurter Buchmesse war für mich eigentlich schon immer ein Fixpunkt im Herbst, um den herum ich mir ein paar Tage freihielt. Mittlerweile verstehe ich auch, warum mir das Gewusel in den Messehallen nicht so liegt, es ist in jeder Hinsicht für mich einfach too much, aber die Bücher ziehen mich eben immer wieder dorthin, das Verlagswesen, die Büchermenschen, und auch: Kultur und Information als Ware, et les incontournables, bien sûr. Und die Trends, die man dort sehr gedrängt beobachten kann, wenn man längerfristig am Ball bleibt und immer wieder kommt. So also diesmal auf ein Neues. Nach mehreren Jahren Pause, erst coronabedingt, dann beruflich bedingt und auch gesundheitlich bedingt. Eine sehr komprimierte, gezielte Stippvisite in den Messehallen hatte ich mir vorgenommen. Und das ist mir auch gelungen.

Von der Stadt her kam ich also diesmal mit der U-Bahn, nicht mit der S-Bahn. Kein Gedränge wie früher. Keine Schlangen am Eingang. Sogar der Sicherheits-Check ist teilweise automatisiert worden. Ich erhalte grünes Licht und darf direkt hinein.

Die Messekarte kommt zwiefach gefaltet in einen hellbraunen papierenen Rahmen, der an einem dunkelblauen Lanyard hängt. Keine Plasikhüllen mehr. Die Buchmesse ist ja so grün geworden. Die Pressemappe spricht von Nachhaltigkeit. Auch am börsenverein-roten Teppich haben sie gespart. Früher waren alle Hallen vollständig damit ausgelegt, und nach fünf Tagen wurde er dann komplett weggeworfen. Diesmal haben sie nur die Hauptwege damit markiert. Gut so, das reicht völlig und ist eine Reminiszenz an früher, die sicher auch bald verzichtbar erscheinen wird. Drumherum ist blanker schwarzer Betonboden: Weiche Gummisohlen waren also eine gute Wahl für dieses Gelände.

Ich beginne mit dem Ehrengast. Italien wird derzeit von Rechtsextremisten regiert, dementsprechend ist der Buchmesse-Auftritt geraten. Er ist freilich umstritten, weil kritische Autorinnen und Autoren ferngehalten wurden. Antonio Scurati verglich die Indoor-Piazza (FAZ) auf einem Podium mit einem Beerdigungsinstitut. Im ganzen ist sie aber ähnlich beliebig und seltsam wie die meisten Ehrengast-Pavillons, die man in den letzten Jahren in Frankfurt so sah.

Also weiter zu Halle 3.1, die Bildung. Wer gerne gedruckte Bücher sieht und in ihnen blättert, ist hier und ebenso in den anderen Hallen mit den großen deutschen Verlagen richtig. Denn später, vor allem in Halle 5.0, aber auch in der Wissenschaft (4.0) merkt man, dass wenig Gedrucktes nach Frankfurt geschickt wurde.

Der Thieme-Verlag erklärt auf einem Wandtext, er wolle damit verdeutlichen, dass man den digitalen Wandel voranbringe. Wo früher hunderte Bücher standen, kommt man heute mit etwa einem Dutzend aus. Und der Rest sind Daten.

Die Stände haben sich insgesamt verändert. Sie sind wieder ein bisschen größer geworden als bei meinem letzten Besuch, aber sie sind doch alles in allem sehr sparsam ausgestattet mittlerweile. Ein paar kleine Tischchen, am Empfang liegen eine Handvoll Kugelschreiber oder Bleistifte bereit. Und das reicht ja auch völlig. Die Materialschlacht früherer Zeiten ist vorbei. Man glaubt den Verlagen, dass es die Bücher gibt, sie müssen nicht mehr hergezeigt werden, um ihre Existenz zu beteuern. Das Geschäft läuft überall gut und unauffällig. Aber es läuft eben auch an anderen Orten, die Gespräche zeigen es deutlich. Ärgerlich ist da schon eher, dass man auch am Haupt-Fachbesuchertag kaum verbindliche Auskünfte bekommt. Aushilfspersonal überschneidet sich mit Mauerpolitik und einer strengen Tür. Dabei beiße ich doch gar nicht. Ich bin nur bibliophil. Tell me more.

Man ist eher hier, um Präsenz zu zeigen. Am deutlichsten ist das vielleicht bei den französischen Verlagen. Ich stehe vor dem Stand der Gallimard-Gruppe. Man merkt es kaum, so zurückgenommen ist das Design. Die Bücher sind auf den Regalen hinten fast schon versteckt, damit sie bloß keiner anfasst beim Vorbeigehen. Neuerscheinungen? Darüber informiert man sich besser bei der « Grande Librairie » direkt in der Mediathek von france.tv oder bei « Le masque et la plume » auf France Inter. Ein Messebesuch lohnt sich dafür nicht mehr so richtig. Das war mal anders. Hier ist viel von dem Flair der romanischen Halle, wie ich sie immer nannte, verloren gegangen. Auch nur wenige Aussteller aus Südamerika. Argentinien, Chile. Ehrengast Italien, freilich.

Stände von Bibliotheken? Fehlanzeige. Klar. Was haben Bibliotheken auch mit Büchern zu tun.

Stände vom Rundfunk? Der Deutschlandfunk talkt wie eh und je in 3.1 live vor Publikum. Ich erfahre, dass die drei Programme Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova sage und schreib 54 Cent pro Monat Rundfunkbeitrag kosten. Unvorstellbar. An machen Tagen höre ich nichts anderes. Kultursender sind für mich unverzichbar, und ich frage mich, wofür der Rest meiner Rundfunkbeiträge ausgegeben wird, die ich übrigens gerne zahle.

Das Blaue Sofa ist endgültig von der Messe verschwunden und findet jetzt nur noch in der Deutschen Nationalbibliothek statt im Rahmen von Open Books, während die Literaturbühne von ARD, ZDF und 3sat ein ziemlich angenehmer Platz geworden ist, verglichen mit dem alten Standort zwischen den Hallen 5 und 6 draußen aufm Gang. Man kann den Gesprächen überraschend gut folgen, und zumindest bei den beiden Slots mit Armin Nassehi und Nora Bossong gab es auch etwas zum Zuhören und Mitnehmen. Auf Bossongs Roman „Reichskanzlerplatz“ bin ich gespannt.

Ich habe sie wiedererkannt, die Frankfurter Buchmesse, und es war schön, mal wieder dabei sein zu können. Gerne wieder nächstes Jahr. Wenn sie auch immer kleiner wird. Was aber vor allem daran liegt, dass sich das Geschäft mit den Büchern verändert hat. Inflationsbereinigt geht der Umsatz in der Buchbranche bergab, in Deutschland und Europa. Neuerscheinungen bei Sachbuch und Wissenschaft haben die 30-Euro-Marke geknackt, das E-Book liegt knapp darunter.

Mein Soundtrack in diesen Tagen war übrigens May Ninth von Khruangbin auf single repeat, stundenlang. Alles wird sehr, sehr gut.

Und da war noch was: In Maren Kames' „Hasenprosa“ gibt es mehrere Sätze, die wirklich rocken. Lesen! Lesen! Lesen!

Zotero 7

Nach langer und gründlicher Vorbereitung wurde gestern Zotero 7 freigegeben, und die neue Version ist schön geworden.

Nachdem ich zwei Jahre lang Zotero 6 unter macOS mit Rosetta betrieben habe, ist der Performance-Zuwachs durch die neue native Version auch unter Apple Silicon sehr deutlich. Nach einem Upgrade aus dem Programm heraus muss man dazu aber Zotero neu starten, um Rosetta zu beenden und nativ unter ARM neu loszulegen.

Die Oberfläche zeigt das alte vertraute Dreispalten-Layout, aber es gibt nun eine weitere schmale Spalte am rechten Fensterrand, mit der man im Titeldatensatz hoch und herunter navigieren kann, um an die Notizen und die Dateien zu gelangen, die mit dem Literatureintrag verknüpft sind. Sie erinnert optisch ein bisschen an den Adobe Reader, wegen der Icons und der Farben, aber es geht gerade noch gut unter macOS. Die native Bedienoberfläche reagiert deutlich schneller als früher unter Rosetta, und auch der Datenimport neuer Einträge ist sehr schnell erledigt. Ähnlich wie bei Thunderbird, gibt es eine dichtere und eine großzügigere Variante der GUI.

Wer Volltexte als PDF oder EPUB an die Titeldatensätze anhängt, findet einen deutlich verbesserten Reader vor. Die Möglichkeit, Anmerkungen einzufügen, wurde überarbeitet. Und freilich gibt es im Jahr 2024 auch einen brauchbaren Dark Mode und ein schönes neues Programm-Icon.

Im Datenexport kann man weiterhin BibTeX und BibLaTeX auswählen. Ich konnte noch nicht feststellen, ob es hier auch qualitative Veränderungen gegeben hat.

Für alles weitere siehe den Blogpost und das Changelog.

Der Wanderer 108

Mein Feedreader lieferte mir an diesem Ostermontag zwei aufschlussreiche Beiträge, die ich gerne weitergeben möchte:

  • Der Hessische Rundfunk beschreibt, wie die Gemeindebücherei Egelsbach, hier bei uns im Kreis Offenbach, die 2012 aus Kostengründen geschlossen worden war, durch ehrenamtliches Engagement wiederbelebt worden ist. Die Bibliothek hat einen Bestand von derzeit 16.500 Medieneinheiten, es gibt 700 erwachsene Benutzer, und 500 Kinder und Jugendliche haben einen Leseausweis. Der Betrieb wird von 40 Ehrenamtlichen erbracht.
  • Im Deutschlandfunk interviewt Michael Köhler die Kultursoziologin Carolin Amlinger über die Trends beim Lesen und den Zusammenhang zwischen dem Lesen und der gesellschaftlichen Ungleichheit. Es geht ums Lesen als Klassenfrage: Das Verschwinden der privaten Bibliotheken. Das Schwinden der Überzeugung, wonach es einen Zusammenhang zwischen Lesen und sozialer Mobilität gebe. Auch um den Untergang einer alltäglichen Buch-, Lese- und Bibliothekskultur.

Der Wanderer 101

Günther Fetzer bespricht hintergründig in literaturkritik.de vom 15. Februar 2024 die in den beiden letzten Jahren erschienenen zwei ersten Teilbände zur Geschichte des DDR-Buchhandels, die bei De Gruyter von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm herausgegeben werden. Sie erscheinen in der Reihe zur Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert und handeln vor allem von den Verlagen. Ein dritter Band soll noch folgen, darin soll es auch um die Geschichte der Bibliotheken in der DDR und um den Außenhandel des Buchhandels gehen. Der Verlag hat den abschließenden Band gegenüber dem Rezensenten für 2025 angekündigt.

  • Fetzer, Günther. 2024. „Der andere deutsche Buchmarkt – Die ersten zwei Teile zur Geschichte des Buchhandels in der DDR sind erschienen“. literaturkritik.de. 15. Februar 2024. literaturkritik.de.

Der Wanderer XCII

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft (jaja, etwas locker formuliert, schon klar) geht dieses Jahr an: Claudia Goldin. Einen Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia zu ihr gibts seit 2007, angelegt und überwiegend geschrieben von einem Ökonomen und einem Autor, der sich mit Wissenschaftlern beschäftigt, die Mitglied bei der American Academy of Arts and Sciences sind. Gestützt auf das Who is Who in Economics, aber eben aus einer Zeit, als wir noch keine Fußnoten setzten. Der nächste Blick fällt in die GND: Keine Veröffentlichung im Sammelgebiet der Deutschen Nationalbibliothek. Ihr Personen-Datensatz ist bis heute mit keinem Titel verknüpft. Es hat bisher keinen Verlag hierzulande gegeben, der ihre Werke einer Übersetzung für würdig hielt. Kein ganz neues Phänomen: Sie hat über Jahrzehnte publiziert, und zwar über Themen wie: Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women oder Corruption and Reform: Lessons from America’s History, wohl zuletzt: Career and Family: Women’s Century-Long Journey toward Equity.

Bibliotheken rocken in jeder Form

Meint Anke Gröner in ihrem Blogpost zum 20. August:

Sehr lange auf dem morgendlichen Balkon gesessen mit dem derzeit üblichen Glas Lungo und ordentlich Milchschaum, plus Wasser, alles auf einem silbernen Plastiktablett, das ich mal wieder vom Mütterchen überreicht bekommen habe beim letzten Besuch, „nimm mit“. Ein Buch ausgelesen, das hatte ich peinlicherweise gestern schon im Blogeintrag vermerkt, den ich nach dem Morgenbalkon verfasst hatte, ein neues angefangen, nämlich „The Nickel Boys“ von Colson Whitehead. Steht seit Ewigkeiten auf meinem Wunschzettel, aber als ich Freitag in der Stadtbücherei meinen neuen Ausweis bekam und danach durch die Regale schlenderte, stand es vor mir, schön auf Englisch, gleich mal mitgenommen. Bibliotheken rocken in jeder Form.

Sag ich doch.

Frankfurter Zeitung digital

Zu den interessanteren Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich brachte, gehört die Möglichkeit, alte Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Während die großen, noch erscheinenden Blätter ihre Archive immer mehr hinter Paywalls und bei den großen kommerziellen Presseportalen verstecken, um sie vermarkten zu können, bleiben die Digitalisate von gemeinfreien Quellen auf Bibliotheksportalen allgemein zugänglich.

So kann man die Zeitläufte in der Vossischen Zeitung für den Zeitraum 1911 bis zur Einstellung des Erscheinens im Jahr 1934 im Zeitungsinformationssystem ZEFYS der Staatsbibliothek zu Berlin nachlesen. Ebenda gibt es auch die DDR-Presse, die den Zeitraum von 1945 bis 1994 (sic!) abdeckt (nur mit Login zugänglich, das geht auch mit einem ORCID-Account).

Weniger bekannt ist dagegen, dass das DFG-Projekt zur Digitalisierung der Frankfurter Zeitung bei der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main vorangekommen ist. Die Förderung lief Ende 2022 aus. Der mittlerweile digitalisierte und online verfügbare Bestand umfasst nun den Zeitraum von 1874 bis 1943 und schließt damit eine sehr bedeutsame Lücke, nämlich die Zeitspanne, in der die Gleichschaltung der deutschen Presse stattfand. – Lesen! (via Maximilian Schönherr).

Der Wanderer LXXVII

Alle sind müde. Von der Hitze. Von der plötzlichen Temperaturschwankung. Nach unten. Nach oben. Müde vom Wetter. Müde aber auch von der nicht ablassenden Veränderung.

Was damals begonnen hatte, setzt sich fort. Immer mehr Läden haben geschlossen. Das Einkaufszentrum hat einen Leerstand, den man sich früher[tm] nie hätte vorstellen können. Alles schrumpft immer noch weiter. Unsere Speisen, gerne auch zum Mitnehmen. Prozent. Vorteilskarte. Besuchen Sie uns im Internet.

Die Geschäfte verschwinden so schnell und leise, man fragt sich, waren sie noch da, als ich das letzte Mal hier vorbei kam, oder war das schon vor einem oder vor zwei Jahren? Dauerhaft geschlossen. Zettel an der Schaufensterscheibe, und man mag sich gar nicht vorstellen, dass es noch einmal eine nächste Dekoration geben könnte.

Die Irrationalität des Ganzen: hier, gleich an der nächsten Ecke, ist sie alltagspraktisch zu besichtigen, schrieb das Institut für Sozialforschung zur Räumung der Bockenheimer Dondorf-Druckerei, und das kann man ziemlich zwanglos auf viele derzeitige gesellschaftliche Verwerfungen übertragen.

Die Dekonstruktion ist auf lange Zeit hin angelegt. Die gesellschaftliche Umstrukturierung zeigt sich vor allem in den Wanderungsbewegungen zwischen den großen sozialen Agenturen, den knappen Mehrheiten bei politischen Wahlen, dem schnellen Umentscheiden zwischen grundlegend verschiedenen Optionen, dem Mitgliederverlust bei den Kirchen und den Gewerkschaften, der immer weitergehenden Individualisierung bei den Lebensentwürfen und in den Arbeitsbedingungen. Und bei aller Veränderung: Gleichzeitig eine große Enge von allen Seiten. Anstrengung und Zwanghaftigkeit prägt die Bewegung, die Veränderung, es fehlt an Leichtigkeit und Geschmeidigkeit. Und an Licht. Der Trend zum Dark Mode ist dafür ein Zeichen. Es gibt ihn schon länger, aber er ist immer noch nicht überall angekommen. Im Firefox muss man ihn noch durch ein Add-On nachrüsten, damit nicht nur das Programm selbst, sondern auch der Inhalt der Websites dunkel wird. Verdunkelung. Verdunkelungsgefahr. Alles so dunkel hier. Wie schön.

Die Welt ist mir zuviel titelte das Zeit Magazin zwischen den Jahren 2014/2015 einen Beitrag über das neue Biedermeier. Der darke Vorhang bleibt geschlossen. Wir gehen gut einkaufen, alles bio, und wir kochen uns was Hippes, sagt das Zeit Magazin. Henkerlächeln beim Winken aus dem elektrisch getriebenen und wohltemperierten Sportwagen. Fährt in seine eigene Welt. Und ab.

Horváth lesen.

Umstrukturierung auch bei den Plattformen. To mail or not to mail.

  • Ende 2022 dachte man darüber nach, die traditionsreiche Mailingliste Nettime-l auf eine eigene Mastodon-Instanz umzuziehen. Und dann kam Google Mail und kappte die Liste faktisch, so dass eine weitere Kommunikation nicht mehr möglich war. Umzug auf eine temporäre Mailman-Instanz. Und neue Betreiber und Moderatoren aus Wissenschaft und Netzkultur fanden sich zusammen. Es wird also weitergehen. Wir atmen auf: Nettime-l ist eines der hochwertigsten Foren zur Netzkultur und zur Medienwissenschaft.

  • Im Frühjahr schloss Michael Schaarwächter nach 29 Jahren und nach ziemlich kurzfristiger Ansage die InetBib-Liste (zuletzt etwa 8000 Abonnenten). Als Nachfolger gründeten Thomas Krichel und Jürgen Plieninger die Mailingliste Bibnez mit derzeit 1500 Abonnenten. Das deutet auf eine hohe Bereitschaft hin, sich bei disruptiven Verläufen neu zu orientieren. Und ab.

  • Im Sommer 2023 wurde angekündigt, dass das Schweizer Pendant Swiss-Lib ganz von der Mailinglisten-Basis auf eine Web-Plattform mit angedrechseltem E-Mail-Verteiler wechseln werde. Ab September soll es soweit sein – via Digithek.

I'd prefer to mail.

Der Wanderer LXXIV

Ich höre alte Podcasts aus dem Archiv, und es ist toll, wie weit die Geschichte der Podcasts nun schon zurückreicht. Vor allem Literaturpodcasts sind immer noch hörenswert. Ich lese sowieso nur selten belletristische Neuerscheinungen, da kommt mir das Gespräch über die Bücher von gestern gut gelegen.

Empfehlung: Mein Freund der Baum mit Andrea Frey und Andreas Baum. Ich lasse ihre Gespräche stundenlang laufen, ohne Pause. Wenn ich wieder ins Zimmer komme, unterhalten sie sich immer noch, scheinbar unermüdbar. Ich habe selten so viel Vernünftiges über Literatur gehört wie hier. Gleichzeitig scheinen auch immer mal wieder schon zeithistorische Bezüge durch. Das Archiv geht immerhin zurück bis 2013, im Februar gibts das Format nun schon zehn Jahre (ebenso lang, übrigens, wie dieses Blog). Wie geschaffen für diese freien Winterwochen daheim. Und es erinnert mich auch daran, dass ich meine private Bibliothek endlich mal aufräumen müsste.

Ja, da gibts auch noch gedruckte Bücher. Wobei mein digitaler Bestand immer mehr wächst. Die Arbeit am E-Book die letzten Jahre hat meinen Bezug zu Büchern verändert. Ich bin mürbe geworden. Mittlerweile bin ich auch bereit, für E-Books Geld zu zahlen, solange sie kein DRM haben. Klassiker aber, wenn es geht, aus dem Project Gutenberg. Kurze Texte eher als längere. Sach- und Fachtexte eher als künstlerische. Der Umgang mit Literatur hat sich verändert. Und das hatten Frey und Baum schon zehn Jahre lang immer wieder reflektiert, auch das ist schön nochmal nachzuhören.

Ich hoffe, die beiden machen weiter und besprechen demnächst mal wieder ein paar Titel. Darunter auch meistens ein Buch, das beide nicht vorher gelesen haben. Allein dafür muss man einfach zuhören. Und für die Zeit bis zur nächsten Folge gibts das Archiv.

Der Wanderer LXXIII

Im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Was jetzt möglich ist gibt Navid Kermani nebenbei einen tiefen Einblick in die Entwicklung des Journalismus. Zeitungen, so meint man, stützen sich auf ein großes Archiv aus alten Ausgaben, zumindest ihrer eigenen Veröffentlichungen, wenn nicht noch mehr. Man denkt an das Spiegel-Archiv, das legendär war für seinen Umfang. Und die Computerzeitschrift c't hatte ihre alten Ausgaben vor zehn Jahren, zu ihrem 30. Geburtstag, sogar zu einer imposanten Skulptur verarbeiten lassen, die sie nun zum Vierzigsten aufstocken lassen möchte, wenn es die Gebäudestatik erlaubt. Der Turm aus alten Heften steht stolz im Treppenhaus des Verlagshauses in Hannover. Das ist aber nicht überall so:

Den ältesten Text, den ich für das vorliegende Buch vorgesehen hatte, den Artikel über Nasr Hamid Abu Zaid in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1993, konnte ich zu Hause nirgends finden, nicht einmal als Datei in meinem Computer. In der Annahme, dort sei der Artikel elektronisch erfaßt, wandte sich mein Lektor an die Frankfurter Rundschau – vergebens. Gut, dann gibt es doch sicher einen Keller, in dem ältere Jahrgänge der Zeitung lagern, glaubte der Lektor, und gegen ein entsprechendes Entgelt werde die entsprechende Ausgabe hervorgeholt. Nein, gibt es nicht, teilte die Redaktion mit: Die Frankfurter Rundschau, die bis vor wenigen Jahren zu den vier, fünf überregionalen Zeitungen im deutschsprachigen Raum gehörte, mit einem herausragenden Feuilleton und einer Auslandsberichterstattung, deren schierer Umfang heute kaum glaublich erscheint – sie verfügt heute nicht einmal mehr über ein Archiv. Schließlich begab sich eine Mitarbeiterin des Verlags in die Münchner Staatsbibliothek und fand in einem der Regale tatsächlich die große, staubbedeckte Kladde mit dem Jahrgang 1993.

Der Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek (am Münchener Standort des C.H.Beck Verlags) ersetzt das Archiv des Zeitungsverlags in Frankfurt am Main. Die dortige Zeitung lebt ganz im Hier und Jetzt, in der Gegenwart, gleichsam geschichtslos hat sie sich ihrer Vergangenheit entledigt. So liest sich die Zeitung bisweilen ja auch tatsächlich, könnte man sagen. Am Ende bleiben die Bibliotheken als Wahrer des kulturellen Erbes übrig. Der Staub auf dem gebundenen Jahrgang wirkt hier wie eine schützende Schicht, die das Gestern begleitet und wärmt, bis die Bibliotheksbenutzerin kommt und den alten Text wiederentdeckt, so dass die Erinnerung an die alte Zeit (damals studierte ich noch!) wieder lebendig wird. Übrigens unentgeltlich.

Kermani, Navid. Was jetzt möglich ist: 33 politische Situationen. München: C.H. Beck, 2022, S. 9. – Rink, Jürgen. Fit und vierzig. c't geht ins fünfte Jahrzehnt. In: c't 3/2023, S. 124.

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