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Ungleiche Archivierung

Dave Winer denkt nach über die Veränderungen beim Publizieren im Web. Während Yahoo Pipes im September eingestellt werden soll, stehen auch Veränderungen bei Medium an. Winer denkt weiter: …Medium is not a very future-safe place to post. But even sites like Tumblr and WordPress.com that look stable are still subject to corporate changes or disappearance. What we need, and still don't have, is a systematic way of publishing to the future. Einen long-lived content wünscht er sich. Er denkt sogar darüber nach, sein Blog nach seinem Tod auf testamentarischer Grundlage auf Dauer online zu halten. Und merkt, daß auch archive.org hierfür keine Lösung wäre, weil die Plattform – trotz aller Änderungen in neuerer Zeit – keine Netzwerke abbildet, sondern in der (urheberrechtlich mittlerweile problematisch gewordenen) Wayback Machine nur Snapshots von Content abbildet. Da fehlt also ein wesentlicher Teil.

Man sieht, daß im Umfeld von Facebooks Instant Articles – bisher nur Testballons – noch mehr in Bewegung gekommen ist. Blogger werden sich darüber klar, daß das Publizieren im Web, vor allem auf sozialen Netzwerken und Bloggerplattformen (hosted services) der Zeitlichkeit unterliegt. Es ist kein Zufall, wenn Dave Winer als einer der dienstältesten Blogger überhaupt sich Gedanken über seinen „digitalen Nachlaß“ macht – wobei unter dem Begriff ja gemeinhin eher das Auffinden und Verschwindenlassen von Nutzerprofilen Verstorbener verstanden wird, weniger das Erhalten ihrer Hinterlassenschaft. Die diesbezügliche Diskussion ist also bisher eher von den Problemen der Spießer geprägt.

Klar ist, daß auch die letztlich nur ephemer bestehenden Datensilos kein Ausweg sein werden. Vielleicht wären gemeinnützige oder genossenschaftliche Organisationen eine Lösung, auch wenn die meisten heutigen Nutzer bisher vollständig auf die Kommerzialisierung des Web 2.0 beschränkt sind. Auch das Selberhosten führt insofern nicht weiter, denn gerade der Betrieb des eigenen Blogs endet ja spätestens, wenn das hinterlassene Erbe aufgebraucht ist. Also das Blog bei der Deutschen Nationalbibliothek als Netzpublikation abliefern? Dagegen sträuben sich mir nun wieder die Nackenhaare, wenn ich mir vorstelle, daß meine schneeschmelze oder mein albatros am Ende bei den Frankfurter Beamten im Archiv landen.

Schon manches Blog ist zwischenzeitlich verschwunden. Ich erinnere mich zum Beispiel an Kristian Köhntopps Blog „Isotopp“; er postet seit langem nur noch auf Google+, was ja nun wirklich keine Lösung ist, in keiner Hinsicht. Er wird nicht der letzte sein, dessen Content für immer verschwunden ist. Ist das aber schlimm? Sind die Archive zurück bis anno olim nicht irgendwie auch merkwürdig, weil sie uns die Vergänglichkeit und das Älterwerden demonstrativ vor Augen führen? Hat schon mal jemand einen Blogpost von vor zehn oder fünfzehn Jahren wieder ausgegraben? Ist das überhaupt von Interesse außerhalb der Szene? Die Leserschaft, die „Reichweite“ ist absolut auf die Gegenwart bezogen, sie kennt kein Gestern.

Andererseits: Es entsteht eine Ungleichheit in der Archivierung, die wir aus der Geschichtsschreibung bereits kennen: Es zeichnet sich ab, daß sehr langfristig nur diejenigen self-publisher im Web verfügbar bleiben werden, die in irgendeiner Weise institutionalisiert veröffentlicht haben und daß kommerzielle Angebote jedenfalls keine Lösung sind, um die Verzerrungen, die sich für die Nachkommen aus diesem Bild ergeben werden, aufzufangen. Allemal wäre es falsch zu sagen, das Netz vergesse nichts.

Die Unumkehrbarkeit

The Romance of Middle Age von Mary Meriam ist das heutige Gedicht des Tages bei der Poetry Foundation. Sie hat den Blues: Now that I’m fifty … I didn’t know I’d undergo this change/ and be the unseen cover of a book/ whose plot, though swift, just keeps on getting thicker. Und sie fühlt die Unumkehrbarkeit des Laufs der Zeit.

Auch bei Wikipedia nehmen die Abschiede zu. Ein Ende ist nicht absehbar. Benutzer:Inkowik ging unlängst in einem Überschwang an Selbsterkenntnis – Ich investiere Stunden in völlig sinnlose Tätigkeiten: Löschen von Verschieberesten, Schützen von Benutzerseiten gesperrter Benutzer. Unerhebliche Minimalkorrekturen im Quelltext, Aufräumen hinter Zersörungswütigen. X-maliges Prüfen der Stimmberechtigung, Herumärgern mit der Foundation. Mehrere Tage Arbeit flossen in ein Bot-Framework mit Funktionen, die nicht einmal ich selbst brauche. Ich lese mir Diskussionen durch, die mir regelmäßig die Laune verderben. Ich setze mich abends nach der Arbeit hin und mache diesen ganzen Quatsch, weil ich es schon ewig mache, und vergeude so Stunde um Stunde sinnlos vor dem Bildschirm –, während Benutzer:Grey Geezer heute mit einer fulminanten Analyse der „Schon-gewußt“-Kolumne auf der kaum beachteten Hauptseite der deutschsprachigen Wikipedia seinen Abschied nahm.

Zwei Eindrücke, die zu dem heutigen Regenwetter gut passen.

Das Blog, das Wiki, das Netz, das Kapital

Angeregt durch Jan Drees' Beitrag Weshalb es 2015 Literaturblogs braucht, lese ich in einige der dort genannten und auch weiterer Plattformen hinein und klicke mich über Links und Blogrolls weiter. Es sind es in den meisten Fällen nurmehr Wurmfortsätze der Werbeabteilungen von Verlagen. Während in den bürgerlichen Feuilletons die Konfektionsware für das Zeitungspublikum angepriesen wird, gibt es hier den ganzen Rest zu sehen. Die Übergänge zu den Rezensionsforen der Online-Buchhandelskonzerne sind fließend. Mit anderen Worten: In dem Beitrag von Rees wird nicht ein einziges echtes Blog erwähnt. Und natürlich heißt es das Blog!, möchte man nach einer Stunde den „Literaturbloggern“ mit Jörg Kantel zurufen.

Was die meisten User, die erst mit Google und Facebook surfen gelernt haben, mit dem Begriff „Blog“ verbinden, hat mit der ursprünglichen und eigentlichen Bedeutung des Begriffs nichts mehr zu tun. Es sind Werbeplattformen, die von den Verlagen bemustert werden. Das gleiche gilt für Wikis. Ebenso wie für entsprechende Blogger, stellen die Verlage Random House und C. H. Beck seit einiger Zeit Rezensionsexemplare für Wikipedia-Autoren zur Verfügung. Random House schrieb selbst über einen eigenen Account bei Wikipedia an Artikeln zu seinem Verlagsprogramm mit und überarbeitete den Artikel Luchterhand Literaturverlag vollständig. Buch-Cover werden zur Bebilderung eingestellt, und den Blogger-Relations treten die Wiki-Autoren-Relations gegenüber. Das Wiki als ein weiterer PR-Kanal neben den vielen anderen. Full service.

Die Folge ist: Das Web 2.0 schafft sich durch seine fortschreitende Kommerzialisierung selbst ab. Wahrscheinlich ist das schon weitgehend erfolgt. Es ist in seinen wirtschaftlich relevanten Teilen schon überwiegend von den Konzernen übernommen worden. Der Traum vom libertären Netz ist an der Normalität des Kapitalismus gescheitert.

A comfortable relationship

Die Ausweichbewegungen nehmen zu: PGP-Entwickler Phil Zimmermann verlegt den Sitz seiner IT-Sicherheitsfirma aus den USA in die Schweiz, schreibt Juliette Garside im Guardian. Er tut es aus Gründen: „We are less likely to encounter legal pressures there than in the US,“ says Zimmermann. … British society is „too accepting of surveillance“, Zimmermann believes. „Here people have a comfortable relationship with their own government and maybe that's why they don't raise objection to it. Future governments that come to power might not be so nice, and if they inherit a surveillance infrastructure then they could use this to create an incumbency that cannot be changed.“ (via Fefe, der leider nur eine sekundäre Quelle verlinkt)

Nicht im mindesten

Die Zeit vom 21. Mai 2015, S. 21: Der Zeitverlag gehört zu den Gründungsmitgliedern des Projekts – was seine Journalisten nicht im mindesten daran hindert, unabhängig über Google zu berichten. – Wenn es so wäre, bräuchte man es nicht hervorzuheben, sondern täte es einfach.

Apple im nächsten Jahr

Mark Gurman schreibt bei 9to5mac über die Pläne von Apple zur weiteren Abschottung der Plattformen iOS und OS X: Even with this Rootless feature coming to OS X, sources say that the standard Finder-based file system is not going away this year. Die Betonung liegt auf this year. Was sie sich nächstes Jahr einfallen lassen werden, muß man wohl abwarten. Und dann gibt es ja immer noch den Midnight Commander? (via heise)

NPR und Flash

NPR hat zu Pfingsten seine Website renoviert, und der Livestream (mit neuer Adresse), den man gleich auf der Startseite oben anstoßen kann, läuft dort ohne Flash Player – aber nur, solange man auf der Startseite bleibt. Und dann braucht man Flash doch wieder, um einzelne Beiträge anzuhören; das ist inkonsequent. Dann aber wieder die text-only version. Schön, daß es das heute noch gibt.

E-Book und Book-Book III

Der Anteil der E-Books am Markt liege bei vier Prozent. Der Absatz der Verlage habe sich durch die Digitalisierung nicht erhöht, er verteile sich nur neu. Die Verlage versuchten, durch den Betrieb eigener Webforen und Blogs, Werbung zu treiben: Siv Bublitz vom Ullstein-Verlag in einem Interview bei Deutschlandradio Kultur. – Von den Marketing-Aktivitäten der Verlage bei Wikipedia ein andermal mehr.

Aus der schönen neuen Elsevier-Welt

Elsevier hat eine neue Open-Access-Policy bekanntgegeben, der zufolge die Autoren, welche an den Verlag gebunden sind, ihre Werke anderenorts im wesentlichen nur unter einer CC-BY-NC-ND-Lizenz veröffentlichen dürfen, die jegliche Änderung des Originals und seine gewerbliche Verwendung untersagt. Ein weiteres Kernstück ist ein „Embargo“ von 48 Monaten. Der Protest dagegen ließ nicht lange auf sich warten. Hintergrund für den Konflikt ist der Trend kommerzieller sozialer Netzwerke, alle möglichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die online zu greifen sind, einzusammeln, sie zu speichern und daraus Publikationslisten zu erstellen – hier der aktuelle Stand.

Elsevier ist in den Streit eingetreten und zeigt sich unnachgiebig. Wohl doch zu Unrecht, denn was jetzt benötigt würde, wären einfache Regeln für den sofortigen öffentlichen Zugriff auf Forschungsdaten. Elsevier nutzt die derzeit noch anhaltende Stellung der Wissenschaftsverlage aus, die die Wahrnehmung der Autoren durch die Öffentlichkeit organisieren sowie kanalisieren. Die Regeln, die in der Policy aufgestellt wurden, sind so kompliziert, daß sie schon in Elseviers offiziellem Blogpost nur in einer grafischen Übersicht überhaupt dargestellt werden konnten.

Dagegen hilft aber alles Weh und Klagen nicht, denn Ursache für diese weiterhin beherrschende Stellung der Verlage ist letztlich das Unvermögen der Universitäten, sich selbst zur Marke zu machen und solchen Geschäftsmodellen und der damit verbundenen Gängelung von Autoren, Bibliotheken und Lesern etwas Wirksames entgegenzusetzen. Solange die Wissenschaft selbst keine Marke ist und sich selbst nicht als Marke wahrnimmt, sondern alle Welt weiterhin auf die Handvoll Verlage und deren Output schaut, solange die Universitätsserver bestenfalls die Preprints bereithalten, und selbst diese oft nur für die eigenen Studenten, wird das kein Ende haben. Damit ist denn auch die Stoßrichtung bezeichnet, die eigentlich anzugehen wäre. Es liegt letztlich an den Wissenschaftlern, wo sie firmieren wollen und umgekehrt: welche Veröffentlichungen für die Karriere – bei ihresgleichen – als förderlich gelten. Erst wenn hier Einigkeit besteht, wird die Wissenschaft endlich befreit sein aus den Walled Gardens der Verlagskonzerne.

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