Der Wanderer 129
Ein Interview mit Heinz Bude im Deutschlandfunk heute Morgen. Er skizziert die politische Lage ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl. Er zeichnet ein sehr dichtes Bild:
Wir sind ja insgesamt in einer Phase des Übergangs, was die Auffassung des Politischen betrifft. Ich vermute, wir gehen für zehn Jahre in eine Phase großer Irritationen der politischen Repräsentation. Bei der nächsten Bundestagswahl wird man sehen, dass es sehr, sehr schwierig ist, eine Regierung zu bilden. Wir müssen akzeptieren, dass es ein Sortierungsproblem gibt für die Art und Weise des Selbstausdrucks der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande. Das Problem ist, dass wir uns in diesen zehn Jahren nicht zur Ruhe setzen können, weil die wirtschaftliche Struktur, die wirtschaftliche Sozialverfassung in Deutschland in der Tat einen neuen Schub verlangt. Ich vermute mal, wir sollten uns, so komisch sich das anhört, vor allen Dingen um das Wirschaftliche in nächster Zeit kümmern und uns Klarheit darüber verschaffen, dass es im Politischen ein gewisses Durcheinander gibt, das noch keine Struktur gefunden hat, und die Idee, jetzt Bürgerräte einzuführen und eine zweite Ebene des Politischen einzuführen, davon halte ich nicht viel. Ich glaube, es braucht eine Art auch von ideenpolitischer Wiedererfindung der unterschiedlichen Parteiangebote in unserer Gesellschaft. Das wird noch eine gewisse Zeit dauern. Die CDU ist dabei, sich irgendwie auch ideenpolitisch neu zu positionieren, die Sozialdemokraten sind in einem riesigen Loch, und auch die Grünen scheinen ihre ideelle Grundlage verloren zu haben.
Das Gespräch endet dann im Weiteren bei der sozialen Marktwirtschaft und der Vereinbarkeit von Kapitalismus und Klimapolitik. Anlass für das Gespräch war der 75. Jahrestag der DDR-Staatsgründung.
The Sir Salman Rushdie interview
In the end, it's the books that matter, not the knives.
Ein Jahr nach dem Attentat bei einer öffentlichen Veranstaltung in New York hat Salman Rushdie sein erstes Interview gegeben. Er lebt seit der Veröffentlichung der Satanischen Verse im Jahr 1988 in ständiger Bedrohung und Lebensgefahr – ein Buch, das heute, in Zeiten des sensitivity reading, wahrscheinlich gar nicht mehr veröffentlicht würde, aus Respekt vor den Gefühlen, die dadurch verletzt werden könnten, auch darum geht es in dem Gespräch, wenn auch nur am Rande. Das ist gleichwohl bemerkenswert, denn der Stoff war bisher ganz überwiegend als ein Beispiel für die Meinungs- und die Kunstfreiheit besprochen worden. Ich glaube, mehr Rücksichtnahme wäre besser gewesen, auch hier. Abgesehen vom Verlust eines Auges bei dem Anschlag, gehe es ihm körperlich gut, aber er wisse noch nicht, ob er jemals wieder Veranstaltungen mit Publikum werde durchführen können.
Das Gespräch fand statt in der Hauptnachrichtensendung des BBC World Service Newshour am 12. Juli 2023. Nach 12 Jahren war es die letzte Sendung der Moderatorin Razia Iqbal. Die etwa 20 Minuten lange Unterhaltung wurde ausgekoppelt und am vergangenen Wochenende erneut gesendet. Sie kann ein Jahr lang auf BBC Sounds angehört werden.
Übergänge IX
Zum Beispiel die Latex-Handschuhe und der Mundschutz im Supermarkt. Seit Wochen kein Küchenpapier, kein Klopapier und die Nudeln rationiert, aber Latex-Handschuhe haben sie. Die Kassiererin hinter dem Schalter. Durchsagen, man möge mit der Karte anstelle von Bargeld zahlen. Alles sei sicher, der Markt bleibe geöffnet. Seit einer Woche schließt er zwei Stunden früher, und jetzt auch tagsüber mit Bewachung. Bei uns bekommen Sie alles für die bevorstehenden Osterfeiertage. Und wenn jemand nicht genug Abstand hielte? Dann musst du dich beschweren, sagt der Vater zu seinem kleinen Sohn, als gehe es ums Überleben im Dschungel. Er hat den Überblick. Das beruhigt den Kleinen. Wo sind die Bürgerrechtler, wenn man sie braucht? Diejenigen, die sonst auf ihre Freiheitsrechte pochen und Verfassungsbeschwerden erheben und das mit Spenden finanzieren. Die politisch korrekte Kleidung im Supermarkt. Und wenn einer „Halt“ riefe und den Arm dazu hochhielte und „alles ganz anders und wie immer“ riefe, würde er noch gehört durch die dicke Plexiglasscheibe, hinter der alle sitzen? Die Versorgung ist sicher. Es ist Frühling. Die Laster rollen durch die helle Nacht und bringen die Ware in die Märkte, wo sie sich verläuft wie die Butter schmilzt in der warmen Aprilsonne, getrieben von der Furie des Verschwindens im Albtraum der verbotenen Bazooka, ohne Helm und ohne Mundschutz. Die Latex-Handschuhe im Supermarkt am Lenkergriff des Einkaufswagens. Und alle sind auf einmal so unendlich brav und nehmen alles hin. Es hat keinen Zweck, in einer irrationalen Umgebung rational bleiben zu wollen. Was weiß ich von Bäumen.
Übergänge VII
Zum Beispiel weil das alles bisher nicht für möglich gehalten wurde. Von den Soziologen war schon einmal an anderer Stelle die Rede. Nach Heinz Bude im Deutschlandfunk nun also Armin Nassehi im Spiegel.
Noch zu Weihnachten hatte Nassehi in der „Welt“ über die Zeit zwischen den Jahren ein Loblied auf die Ruhe geschrieben:
In der Tat – alle Systeme außer den absolut lebenswichtigen wie Energie- und Krankenversorgung oder andere Notdienste werden heruntergefahren. Wenigstens das öffentliche Leben wird bis an seine Grenze bradykard. Der Gesellschaftskreislauf wird so weit wie möglich reduziert, und es gelingt tatsächlich für kurze Zeit, dass alles langsamer und ereignisloser wird – zumindest in den öffentlichen Räumen.
Diesen Gedanken hat er weiterentwickelt. Im Gegensatz zu Weihnachten ist das, was wir gerade erleben, nämlich kein kulturell determinierter „Ausnahmezustand“, sondern ein staatlich erzwungener. Und er funktioniere letzten Endes nur deshalb, weil er eine Ausnahme bleibe und auch weil selbst aus soziologischer Sicht mitgedacht werden müsse, dass es das eigentlich gar nicht geben dürfe:
Interessanterweise passiert gerade etwas, von dem wir Soziologen immer gesagt haben: Das geht nicht. In unseren komplexen Gesellschaften sei so etwas wie Durchregieren unmöglich, haben wir in den vergangenen Jahrzehnten geglaubt. Auch wenn sich das viele Menschen immer wieder gewünscht haben, nicht zuletzt Politiker. Dass es nicht möglich war, ist für mich sogar eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne - die großen Katastrophen der Moderne waren Katastrophen, in denen gewaltsam durchregiert wurde.
Eben. Und freilich ist es eine lang andauernde Ausnahme, deren Ende ebensowenig absehbar ist wie die Verhältnisse danach.
Übergänge V
Zum Beispiel die Plexiglasscheiben, die sie jetzt überall anbringen, in der Apotheke, an den Supermarktkassen, bei der Sparkasse. Sie werden nicht so bald wieder verschwinden, sie werden bleiben. Sie trennen die Menschen zwischen denen, die vor der Scheibe stehen, und denen, die hinter der Scheibe arbeiten.
Gespenstisch: Unser leeres Einkaufszentrum. Nur die Supermärkte, die Drogerien und die Bäcker haben noch geöffnet, alle anderen Läden sind geschlossen worden. So gut wie keine Kunden. Man geht gerne wieder raus an die frische Luft.
Bei Rewe gabs heute zum ersten Mal seit über drei Wochen wieder Toilettenpapier. Küchenpapier auf Nachfrage. Aber keine Papiertaschentücher. Essig und Öl, Zwieback und südosteuropäische Konserven sind auch wieder da.
Und die Soziologen erklären uns jetzt die Welt. Heinz Bude hat ein hintergründiges Interview im Deutschlandfunk gegeben, in dem er auch auf die Entschleunigung hinweist, die mit dem allgemeinen Herunterfahren des Wirtschaftssystems verbunden ist. Einige hätten darauf regelrecht gewartet,
eigentlich gehen wir doch jetzt in eine Situation der positiven Entschleunigung.
Aber es gebe auch ein Comeback des Staates,
eine neue Akzeptanz von Staatlichkeit, wie wir das, glaube ich, in den letzten 30, 40 Jahren so nicht gekannt haben. Die Staatsaversion, die Staatsphobie, die man mit dem sogenannten Neoliberalismus in Verbindung bringt, ist wie weggeblasen.
Ein disruptiver Moment.
Klischees
Tom Strohschneider, der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschlands, referiert im OXI-Blog die Kritik an der grünen Sozialpolitik und kommt zu dem Ergebnis, dass die Trends, die man derzeit beobachten kann, nicht eindeutig seien. Zwar sei der Kern der grünen Partei ganz sicherlich bei den „Besserverdienenenden“ zu verorten, denen das untere Drittel der Gesellschaft herzlich egal ist. Es sei aber auch dort vieles in Bewegung gekommen. Schon die DIW-Studie über die Wählerschaft der Parteien aus dem Jahr 2016 sei mittlerweile veraltet. Zustrom komme aus allen möglichen Richtungen (mit Ausnahme der ganz Rechten, freilich), sogar Arbeitslose seien als Grünen-Wähler gesichtet worden, und er endet:
Die Grünen – als Partei, als Anhängerschaft – verändern sich gerade ziemlich schnell und gravierend, so wie andere Parteien auch. Die Frage ist nur, in welche Richtung, warum und welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen möchte. Klischees über die Grünen jedenfalls, aus welcher Ecke auch immer sie kommen mögen, tragen nicht viel zur Erklärung des Aufstiegs der Partei bei, noch taugen sie für die notwendigen Debatten über die politischen Schlussfolgerungen und Optionen, ganz gleich, ob man damit Grün-Rot-Rot auf Bundesebene meint oder etwas anderes.
Meine These wäre, dass das Ziel einer grünen Politik vor allem in einer Stabilisierung des eigenen Wachstums zu sehen wäre. Die Neuzugänge kommen aus allen Richtungen, vor allem aber von CDU und FDP, die kann man nicht langfristig mit einer sozialen Politik halten. Wer hier liefern will, kann nicht Grün-rot-rot auf Bundesebene machen. Die Umverteilung von unten nach oben muss weitergehen, für eine wirklich andere Politik gibt es keine Mehrheiten. Klar ist da etwas in Bewegung gekommen. Aber soviel Bewegung ist nun auch wieder nicht.
Neuerscheinungen zur Netzpolitik XVIII
Geert Lovink hat ein neues Buch geschrieben. Der Essay, der dem Band den Namen gab, ist bei Eurozine vorab zu lesen. Er erscheint im Mai.
- Lovink, Geert. 2019. Sad by design. Eurozine. 10. Januar. www.eurozine.com (zugegriffen: 13. Januar 2019).
aus:
- Lovink, Geert. 2019. Sad by design. On platform nihilism. London: Pluto Press.
Neuerscheinungen zur Netzpolitik XVII
- Böhm, Markus. 2018. Manipulation der US-Öffentlichkeit: Das verraten zwei neue Studien über Russlands Propaganda. Spiegel Online, 18. Dezember, Abschn. Netzwelt. www.spiegel.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
- Brühl, Jannis. 2018. Merkel warnt vor „Vernichtung der Individualität“. sueddeutsche.de, 4. Dezember, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 5. Dezember 2018).
- Endt, Christian. 2018. Aktivisten stellen alle Bundesgesetzblätter ins Netz. sueddeutsche.de, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 10. Dezember 2018).
- Fanizadeh, Andreas. 2018. Oodi-Bibliothek in Helsinki: Bollwerk gegen Populismus. Die Tageszeitung: taz, 17. Dezember, Abschn. Kultur. www.taz.de (zugegriffen: 17. Dezember 2018).
- Hermann, Jonas. 2018. Haben Bots die Debatte um den Migrationspakt einseitig beeinflusst? Neue Zürcher Zeitung, 13. Dezember, Abschn. Deutschland. www.nzz.ch (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
- Lembke, Gerald und Ingo Leipner. 2018. Die Lüge der digitalen Bildung: warum unsere Kinder das Lernen verlernen. 3., überarbeitete Auflage. München: Redline Verlag.
- Muth, Max. 2018. Wann ist ein Bot ein Bot? Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
- N.N. 2018. Urteil: Krankenkassen dürfen Foto von Versicherten nicht dauerhaft speichern. Spiegel Online, 18. Dezember, Abschn. Wirtschaft. www.spiegel.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
Nachtrag am 19. Dezember 2018: Laut dpa haben sich CDU und Bündnis 90/Die Grünen in Hessen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. In der neuen Landesregierung werde es
ein neues Digitalministerium unter Führung der CDU geben
liest man in der Frankfurter Rundschau.
Neuerscheinungen zur Netzpolitik XVI
Bei Telepolis ist ein Buch zur automatischen Textgenerierung einschließlich Chatbots, die Auswirkungen auf den Journalismus und die Plattform-Ökonomie erschienen:
- Weber, Stefan. 2018. Roboterjournalismus, Chatbots & Co: Wie Algorithmen Inhalte produzieren und unser Denken beeinflussen. 1. Auflage. Telepolis. Hannover: Heise Medien.
Neuerscheinungen zur Netzpolitik XV
Es gibt nun doch die ersten etwas umfangreicheren wissenschaftlichen Titel zum Thema, in diesem Fall ein Sammelband, der an der Universität Göttingen entstanden ist, die erste feministische Einführung in die Netzpolitik und wohl auch die erste(?) Dissertation, die 2017 an der TU Hamburg-Harburg angenommen wurde, aufgenommen auf die Shortlist für den Förderpreis Opus Primum der VolkswagenStiftung, sie wurde rezensiert von Friederike Habermann im Blog des IPB:
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Busch, Andreas, Yana Breindl und Tobias Jakobi, Hrsg. 2018. Netzpolitik: Ein einführender Überblick. 1. Auflage 2019. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Springer VS. doi.org.
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Ganz, Kathrin. 2018. Die Netzbewegung: Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft. 1. Auflage. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.
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Schallbruch, Martin. 2018. Schwacher Staat im Netz: wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt. 1. Auflage. Wiesbaden, Germany: Springer.
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Schmidt, Francesca. 2019. Netzpolitik: Eine feministische Einführung. 1. Auflage. Politik und Geschlecht – kompakt. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich.