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Der Wanderer LXXXV

CRE.FM zu Git aus dem Jahr 2009 gehört. Man merkt, dass sich in dem Bereich kaum mehr etwas getan hat. GitHub war am Aufkommen, Wikipedia und „die Wikis“ waren immer noch ziemlich präsent, aber immer noch viel mehr als „etwas Neues“ als man es heute beschreiben würde.

Interessant fand ich an mehreren Stellen den Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Technik, dem Umgang damit und den gesellschaftlichen Auswirkungen. Das Forken wurde von einer regelrechten Kampfansage mit hingeworfenem Fehdehandschuh zu einer geradezu erwünschten Kulturtechnik, die jederzeit grundlegende Änderungen am Bestand ermöglicht und damit Spielräume öffnet. Das Forken als praktizierter Liberalismus. Sire, geben Sie Forkfreiheit!

Nicht weiter verfolgt wurde leider die Idee, dass es nachteilig war, Wikipedia in einem zentralen Repository zu belassen, wenn alle Welt sonst dezentral arbeitet. Noch heute wird der Fork von Wikipedianern im alten Sinne als ein Kampfbegriff verstanden, eher als eine Drohung als eine Chance, eine Entwicklungsmöglichkeit. Die Probleme beim Forken von Wikipedia wurden immer größer mit der Zeit, weil die Erweiterungen im Umfeld, vor allem die Integration von Wikidata, aber auch schon die zentrale Auslagerung aller Bilder auf Wikimedia Commons, einen eigenen Weg, der davon getrennt verliefe, kaum noch zulässt. Wikipedia ist als Dump nicht mehr standalone weiterzuverwenden. Es ist kaum zu ermessen, was diese im Laufe der Jahre geschaffenen Tatsachen für die Entwicklung von Wikipedia und für die Community bedeutet haben. Die Inselstellung dürfte sich dadurch verschärft haben. Die Isolation, die uns vom Rest des Webs trennt. Brücken zu den dezentralen Strukturen kann auch Wikidata nur formal aufbauen, nicht mehr inhaltlich.

Der Diff und der Umgang damit ist ein zentrales Instrument der Content-Entwicklung, das in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen viel zu wenig beachtet wird. In Blog-Systemen spielt es auch kaum oder gar keine Rolle.

Form follows function. Content follows medium.

Der Wanderer LXXI

Ich blogge seit fast 14 Jahren, aber es ist ziemlich viel passiert in der letzten Zeit, worüber ich nicht geschrieben hatte. Vieles, was mich tiefer beschäftigt hatte, eignete sich einfach nicht zur Veröffentlichung. Manches war vertraulich, manches war zu persönlich oder es hätte sonst zu sehr die Interessen anderer betroffen, so dass es nicht möglich war, es in die Öffentlichkeit zu tragen. Zumal in ein Internet, das zwar nicht nichts vergisst, aber eben doch auch einiges behält. Man weiß bloß nicht vorab, was von dem vielen.

Nach einer so langen Zeit, in der ich mich recht umfangreich öffentlich mitgeteilt und an so vielen Diskussionen beteiligt hatte, war es aber auch einmal gut, sich zurückzunehmen und eine Weile eher ins Off zu gehen. Es fühlte sich passender an, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Auch im Nachhinein bestätigt sich der Eindruck, dass es die richtige Entscheidung war innezuhalten.

Also neu ansetzen, aber ganz von vorne, das geht ja gar nicht.

Ich befinde mich in einer Übergangsphase, die schon einen langen Moment andauert, mehrere Jahre schon. Ich achte auf den Kairos, den glücklichen Moment, in dem etwas Neues anfangen kann, anfangen darf und soll, damit es gut wird, damit es sich stimmig anfühlt.

Gelernt habe ich in diesem Jahr, dass nicht gut werden kann, was von Anfang an vergiftet ist, was unpassend ist. Was nicht zusammenpasst, kann man nicht zurechtstutzen. Zweimal abgeschnitten, und immer noch zu kurz. Daraus entsteht keine glückliche Gestalt.

Als Konstante hat sich ein Mantra erwiesen:

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Der Soziologe Stephan Lessenich hatte in seinem Buch „Nicht mehr normal“ gerade einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert. Er schrieb auf S. 37:

Genau das ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland heute: eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist und der die Trägergruppen des Normalen abhandenkommen. Eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt.

Ob es sich dabei schließlich um

Eine Gesellschaft – am Rande des Nervenzusammenbruchs

handelt, mag jede/r für sich beurteilen.

Jedenfalls wird es seit etwa fünf Jahren immer deutlicher. Es begann schon vor Corona. Genaugenommen war Corona schon lange vor Corona. Die alten Strukturen, die alten Verlässlichkeiten gelten nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch eine Gewissheit: Dass etwas bei der nächsten Begegnung, beim nächsten Anlass nicht mehr so sein wird, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Deshalb muss man sich ständig neu orientieren. Man befindet sich dauerhaft auf der Suche. Darauf muss man sich einstellen.

Alles bleibt anders.

Davon wäre zu sprechen.

Nehmen wir mal das Internet. Das ist nämlich schon sehr lange nicht mehr mein Internet. Es ist nicht mehr das Internet, wie wir es kannten. Die Dimension der Zeitlichkeit ist hinzu gekommen. Zu viele zu liebe Menschen fehlen mittlerweile darin, für immer. Wikipedianer, aber auch Blogger, Netzmenschen wie ich, die für immer gegangen sind und die ganz sicher im Himmel auf uns warten, wenn es einen gibt. Daran will ich einfach glauben.

Sind wir eine „Lost generation“? Der Begriff wurde von Gertrude Stein geprägt und stammt aus der Umbruchzeit des Ersten Weltkriegs.

You are a lost generation

sagte sie über die damals gerade volljährig gewordene Schriftstellergeneration. Das ist eine unbefriedigende Konstruktion, aber sie ist auch nicht ganz abwegig, denn was könnten wir – jetzt einmal unabhängig vom Lebensalter – gewinnen? Jedenfalls würde es eine Weile dauern, bis es einträte.

Viel Grundlegendes gibt es also auch weiterhin zu erörtern. Und ich werde mich in der nächsten Zeit wieder mehr im Blog dazu äußern und versuchen, unter den geänderten Bedingungen zu reflektieren. So wie früher, also? Freilich nicht ganz. Vielleicht aber ähnlich.

Der Wanderer LXX

2021 war das Jahr der nicht geposteten Blogbeiträge. Ich weiß nicht mehr, wie viele Texte ich mir ausgedacht, zumindest in Gedanken entworfen, tatsächlich begonnen, geschrieben, abgebrochen, dann doch fortgesetzt, sogar ins Blog übertragen, dann wieder verworfen oder sogar gepostet und wieder gelöscht hatte. Es waren nicht wenige. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Jedenfalls waren es zu viele.

Aus Gründen. Mein Feedreader sagt, es sei nicht nur mir so gegangen. Einige machen mehr oder weniger weiter wie früher. Aber auch bei ihnen merkt man, dass sich etwas verändert hat. Die Rückblicke fallen aus in dieser Saison. Und die Ausblicke mag sich keiner ausmalen. Die Gereiztheit bleibt. Das Umfeld lädt nicht zur Meinungsäußerung ein.

Ich mochte meistens lieber nicht.

Der Wanderer LXIX

In unserem Ort gibt es zwei lokale Zeitungen, die einmal pro Woche an alle Haushalte verteilt werden. Sie finanzieren sich durch Werbung. Eine der beiden Zeitungen hat jetzt angekündigt, sie werde bald nicht mehr erscheinen. Das Blatt sei schon seit mehreren Jahren nicht mehr rentabel. Wegen der coronabedingten Lockdowns seien viele Werbeinnahmen weggefallen. Und nun stiegen auch noch die Vertriebskosten und der Papierpreis. Deshalb habe man sich entschlossen, die gedruckte Zeitung ganz einzustellen. Ein Onlineportal behalte man bei. Es erschließt sich aber nicht, ob es dafür auch in Zukunft eine Redaktion geben wird oder ob dort nur Anzeigen veröffentlicht werden und wie man von diesen wiederum erfahren wird können: Durch einen Newsletter oder – man wagt es kaum zu fragen – durch einen RSS-Feed? Oder verlässt man sich ausschließlich auf Suchmaschinen- und Social-Media-Marketing? In der Hoffnung, dass die Flaschenpost schon irgendwie ankommen werde? Ob das den Werbekunden ausreichen wird oder ob sie sich nicht so eher ein anderes Outlet suchen werden?

Ich erinnere mich an eine Diskussion auf der Mailingliste Nettime, vor so langer Zeit, dass ich nur vage sagen kann: Es war wohl vor etwa zehn Jahren. Jedenfalls nach den Finanzkrisen. Vielleicht war es auch auf der Mailingliste Futureculture, die es schon seit ein paar Jahren nicht mehr gibt. Jedenfalls erzählte uns damals ein Amerikaner aus der Provinz, wie es bei ihnen zur Einstellung fast aller gedruckter Zeitungen gekommen sei. Vorher schon im Besitz ganz weniger Familien, ganz ähnlich wie in dem Bonmot, wonach die Pressefreiheit nichts anderes sei als die Freiheit fünf reicher älterer Männer, ihre Ansichten frei mitteilen zu können und damit auch noch Einnahmen zu erzielen. Dann sei das Internet gekommen, und die Werbung sei nicht mehr in Print geflossen, sondern in die Sozialen Netzwerke und die Suchmaschinen und so weiter, und die Leute hätten alles umsonst lesen wollen. So dass immer weniger Zeitungen verkauft worden seien. Man habe dann die Redaktionen zusammengelegt, weshalb sich die Inhalte der verbliebenen Zeitungen immer weniger voneinander unterschieden hätten. Und am Ende habe es nur noch am Wochenende gedruckte Ausgaben gegeben. Und vielleicht auch das mittlerweile nicht einmal mehr.

Die Geschichte der Zeitungskrise ist bekannt. Aber erst jetzt ist sie auch bei uns soweit angekommen, dass auch die Lokalzeitungen nicht mehr funktionieren. Der Umstieg von Print auf Online geht im lokalen Bereich auch nicht so richtig voran. Wo sind sie denn, die lokalen Ersatzangebote? Siehe oben.

Hinzu kommt das mittlerweile problematische, um nicht zu sagen giftige Umfeld im Netz. Als wir das alles begannen, waren wir kritisch, und uns lag viel an Aufklärung und Austausch und Vernetzung untereinander. Wir waren aktivistisch. Und wir waren auch immer die Guten. Wo wir waren, gab es keine Bösen. Das ist vorbei. Die Bösen sind jetzt auch immer schon da, ganz gleich, wo man hinkommt. Und man muss ständig mit ihnen rechnen. Und manchmal sind es gerade die Besten, die böse werden. Und alles ist persönlich geworden.

Es geht nicht mehr ums Thema, sondern immer um die Person. Und es gibt keinen kleinsten gemeinsamen Nenner mehr. Alle sind sich uneins, alle haben beschlossen, Recht zu haben, keiner zieht in Betracht, er könnte sich auch einmal geirrt haben, und der andere ist immer im Unrecht.

Überall stehen Fettnäpfchen herum, um die man Slalom laufen muss, aber mit verbundenen Augen im Dunkeln und im Nebel auf abschüssiger Piste im Sturm und ohne Skistöcke.

So dass die Öffentlichkeit als Diskursraum kaum noch funktioniert. Deliberative Verfahren kann man mittlerweile eigentlich vergessen. Die Nerven liegen blank. Spätestens seit Anfang 2020, aber das war nur noch der letzte Anstoß zu einer schon länger laufenden Entwicklung. Man zieht sich in immer kleinere und engere private Räume zurück. Das digitale Biedermeier kam. Manche hielten es für modern, es war und ist aber reaktionär. Vor allem kann es die Öffentlichkeit, wie wir sie einmal gestaltet hatten, als einen Raum für gesellschaftliche Aushandlungs- und Verbesserungsprozesse, nicht ersetzen.

Meine These wäre: Es ist nicht nur das Ende der Zeitungen, wie wir sie kannten. Es ist auch eine Art Post-2.0-Zeit, in der wir uns derzeit befinden. So wie die Postmoderne der Moderne folgte, folgt das Post-2.0 oder das Postinternet oder das Post-Web dem Web 2.0 als der ersten Phase von Vernetzung und digitalem gesellschaftlichem Aufbruch.

Blogs sind vom Motor der damaligen Bewegung zu einem Fremdkörper geworden. Unzeitgemäße Erscheinungen, die meisten Jüngeren werden sie gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie es nicht bis in ihre Filterblase schaffen, und wenn sie darauf stoßen, werden sie sich vielleicht fragen, warum das Webdesign auf ihrem Smartphone nicht richtig funktioniert. Und die Texte sind viel zu lang und zuwenige Bilder und so weiter.

Über diese Entwicklung kann man nicht richten, man kann sie nicht abschließend beurteilen, man kann sich nur ratlos davor stellen. Und natürlich weiterbloggen.

Dialektik der Unruhe

Cornelia Coenen-Marx nähert sich im SWR2 Forum vom 11. August 2015 zum Thema „Ist der Mensch zur Unruhe verdammt?“ der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation schon ziemlich gut an:

Wir erleben das ja im Augenblick, daß viele Menschen sich fragen, ob zum Beispiel das Wachstumsversprechen oder das Versprechen, viele Optionen zu haben, tatsächlich noch hält. Oder ob das Versprechen, alles wissen zu können, tatsächlich noch hält. Indem wir nämlich Menschen sehen, die arbeitslos sind – trotzdem dauernd den Schrei nach Wachstum. Indem wir erleben, daß unsere Wissensgesellschaft im Internet gleichzeitig uns dazu zwingt, Daten und Privates aufzugeben. Indem wir eben erleben, daß man nicht alles haben kann, wie neuerdings in der Frauenbewegung immer wieder betont wird, also nicht Kind und Karriere und Familie – alles auf einmal. Sondern daß man wählen muß, und damit genau diese Fesselungen, Verbindlichkeiten erlebt … daß aber Leben offensichtlich ohne Wahl, ohne Verzicht, ohne Festlegung, ohne Rahmenbedingungen überhaupt nicht möglich ist. Und das Problem, was ich im Augenblick sehe, ist, daß viele, insbesondere auch jüngere Leute, diese Fragen stellen, daß wir aber offensichtlich als Gesellschaft keine Antwort haben. Also, wir diskutieren über Transformation und Veränderung in der Transformation im Hinblick auf Klima, im Blick auf Generationengerechtigkeit, im Blick auf globale Gerechtigkeit, aber man sieht Politik, man sieht Wissenschaft zu, und außer einigen Fragen gibt es wenig Antworten.

Wir erleben gewissermaßen das Ende der Moderne, die gekennzeichnet war als ein Zwang, zwischen Optionen auswählen zu müssen. Die fremdbestimmten Festlegungen nehmen wieder zu. Es gilt, sich zu erkennen und sich hiergegen zu behaupten.

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