Demokratie im Stealth Mode
Gegenargumente zu dem Eiertanz um die Vorratsdatenspeicherung: Ein sehr intensiver Eingriff in die Grundrechte von Online-Nutzern, ohne sachlichen Grund, sagt Peter Schaar. Der Nutzen sei auch fünf Jahre nach dem abschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht erwiesen: „Telefonieren denn nur Verdächtige? Das stimmt doch nicht. … Ich würde sagen, dass diese Gefährdungssituation nicht rechtfertigt, dass wir in unserem kompletten Kommunikationsverhalten, das ja zunehmend übers Internet abläuft, und im Telefonverhalten mit unseren Daten längerfristig gespeichert werden müssen. In der Tat, das würde ich so nicht für gerechtfertigt halten.“ Auch Thomas Stadler meint, die Diskussion dürfe „nicht von falschen und heuchlerischen Thesen zur angeblichen Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit einer Vorratsdatenspeicherung dominiert werden.“ Er bezieht sich auf Christoph Kappes, der die Verrechtlichung der Diskussion moniert, aus der die Legitimität und die Nützlichkeit der Maßnahme allein noch nicht hergeleitet werden könne. Betroffen seien wirklich alle, ohne Unterschied: „Wer nicht absichtlich in den ‚Stealth Mode‘ geht, wird Unmassen von Datenspuren hinterlassen.“ Aber was ist die Perspektive: „Wie soll unsere Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren mit Daten umgehen?“ Die Menschen verschließen sich schon heute immer mehr, die Gesellschaft wird dadurch ärmer, Kommunikation wird erschwert oder gar faktisch unterbunden, die Demokratie nimmt dadurch Schaden.
Ich wundere mich
Zwei kritische Stimmen zur Digitalisierung, die thematisieren, daß jeder selbst Teil des Problems ist:
- Günter Grass, 2013 (via Open Culture): „… In meiner Werkstatt gibts keinen Computer. Ich habe selbst kein Handy. Für mich wäre die Vorstellung, ein Handy dabei zu haben, das heißt dauernd erreichbar zu sein, und wie ich mittlerweile weiß, auch dauernd überwacht zu werden, eine grauenhafte Vorstellung, und ich wundere mich, daß nach diesen neuesten Erkenntnissen nicht Millionen Menschen sich von Facebook und all dem Scheißdreck distanzieren und sagen: ‚Damit will ich nichts zu tun haben!‘ Wenn ich Informationen haben will, mache ich mir die Mühe und recherchiere. Gehe in die Bibliothek und gucke in Bücher. Das geht alles langsam, ich weiß, man kann mit Hilfen das alles beschleunigen, aber zum Beispiel läßt sich Literatur als Arbeitsvorgang nicht beschleunigen. Wer es macht, macht es auf Kosten der Qualität.“
- Harald Welzer, 2015 (via BILDblog): „… Es wäre doch Micky-Maus-Denke, anzunehmen, dass eine Veränderung der Verhältnisse an einem so entscheidenden Punkt zu haben wäre, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Widerstand kostet. Schlimmstenfalls das Leben, wie wir aus der Geschichte wissen. Uns hingegen erscheint es schon als zu teuer bezahlt, wenn wir auf Whatsapp verzichten sollten. Obwohl wir wissen, dass wir uns mit jeder Message einer Totalüberwachung ausliefern. … E-Mails schreibe und lese ich noch. Auch Suchmaschinen benutze ich. Aber ich bin weder bei Facebook noch bei Xing. Ich habe auch kein Smartphone und werde mir ganz sicher nie eines zulegen.“
Soziale Probleme können nicht durch Technik, sondern nur durch eine andere soziale Praxis gelöst werden.
Wie ein alter Putzlumpen
Paul Krugman schreibt über die Entfremdung von Demokraten und Republikanern zum Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs. Beispielhaft nennt er Obamacare, die Besteuerung der Reichen, die Finanzreform von 2010 und die Klimapolitik. Er führt die unversöhnlichen Positionen auf die allgemein zunehmende Einkommensungleichheit zurück, sie schlage auf die Standpunkte der politischen Parteien durch und sei heute so groß wie seit dem amerikanischen Bürgerkrieg nicht mehr. Diese Gegensätze würden von den Kommentatoren üblicherweise geleugnet; sie stellten die Kandidaten in den Vordergrund und bestritten gleichzeitig die grundsätzlichen Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen und politischen Lagern. Während Timothy Garten Ash schon im Oktober 2014 die vielen unglücklichen Züge und Momente von Obamas Präsidentschaft aufzählte und die hypothetische Frage stellte, wie das alles gekommen wäre, wenn Hillary Clinton sich 2008 gegen Barack Obama in den demokratischen Primaries durchgesetzt hätte. „She was the right age then, whereas she will be 69 if she wins in 2016“ – kann man das so sagen? Antje Schrupp zitiert lieber eine Klassikerin zum amerikanischen Wahlkampf, Harriet Beecher-Stowe, „1870 anlässlich der Kandidatur von Victoria Woodhull für die Präsidentschaft der USA“:
„Wer immer auch Präsident der Vereinigten Staaten werden will, muss sich darauf einstellen, dass sein Charakter in Stücke gerissen wird, dass er verletzt, geschlagen und mit Schmutz überzogen wird von jedem unflätigen Blättchen im ganzen Land. Keine Frau, die nicht wie ein alter Putzlumpen durch jede Gosse und jedes dreckige Wasserloch gezogen werden will, würde jemals einer Kandidatur zustimmen. Es ist eine Qual, die einen Mann umbringen kann. Was für ein unverschämtes Luder von einer Frau muss das sein, die so etwas aushält, ohne dass es sie umbringt?“
Schwach und blaß
Die Generation von Grass, Habermas, Enzensberger verdankte ihre Wirkung den Massenmedien, die den politischen Diskurs gebündelt und damit auch intellektuelle Stimmen verstärkt hatten. Im Vergleich dazu muß jeder, der ihnen nachfolgt, heute schwach und blaß wirken. Auch wenn er genauso kräftig sänge wie sie, wäre er damit weniger gut zu vernehmen und erschiene notwendigerweise kleiner.
Not that stupid
Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in Notzeiten alte Forderungen aktiviert werden. Die auf Widerruf gestundete Zeit/ Wird sichtbar am Horizont. Es wird teils eine rechtliche, überwiegend aber eine politische Frage sein, wer sich inwieweit durchsetzt. Aris Trantidis beschreibt derweil tiefer schürfend zwei Sphären, die nebeneinander bestehen: Hier die „makropolitische“ Seite auf internationaler Ebene, dort die „mikropolitischen“, inländischen Konfliktlinien. Zwei Ebenen, die miteinander „sprechen“, und die doch aneinander vorbeireden.