albatros | texte

Eiskalte Wärme

Ein Moment aus den letzten Tagen, der mir nicht aus dem Sinn geht. Ein Bericht über eine spontane ehrenamtliche Hilfsaktion für Flüchtlinge, die vor einer Woche am Frankfurter Hauptbahnhof stattfand. Die wenigen wütenden Stimmen, die laut werden, gehören meistens Obdachlosen, die neidisch auf die Lunchpakete blicken, die so nah und doch so fern sind. „Ich bin auch Flüchtling, ich lebe auf der Straße“, brüllt einer, aber die Menschenkette wankt nicht. Sie „wankt nicht“, heißt es im Bericht auf der Website der Frankfurter Rundschau.

Eine vergleichbare Hilfsbereitschaft hat es gegenüber Menschen, die schon in Deutschland leben, noch nie gegeben. Bei den sogenannten Tafeln wurden stets nur Abfälle verteilt, und das ist von Anfang an ein gutes Geschäft gewesen. Es zeichnet sich auch nicht ab, daß ein sozialer Turn im öffentlichen Diskurs eingeleitet worden wäre.

Diejenigen, die dort versammelt waren, haben verinnerlicht, daß es Klassen von Armen gibt, und sie haben nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Im Gegenteil: Sie erhalten diesen Zustand aufrecht. Es ist eine eiskalte Wärme, die sich hier zeigt.

Es soll eine Querfinanzierung im Bundeshaushalt geben, das heißt, die Mehrausgaben, die von jetzt an entstehen, werden an anderer Stelle abgezogen. Es wird auf eine Umverteilung von unten nach unten hinauslaufen, und es ist absehbar, daß das auf eine breite Akzeptanz stoßen wird. Denn die Menschenkette wankt nicht.

Petition für Netzpolitik.org

Der Online-Petition, die die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Netzpolitik.org fordert, haben sich bisher nur wenige Blogger angeschlossen. Bisher gibt es derzeit 845 Unterzeichner, stetig zunehmend, außerdem die Erstunterzeichner, die wohl aus dem engeren Netzwerk von Netzpolitik.org stammen. Viele Unterstützer kommen aus dem IT-Bereich, aber nicht nur. Es dürfte richtig sein, sich ihnen anzuschließen. Bloggen und twittern reichen nicht aus, um politisch wirksam zu werden. Grundrechte werden nicht dem Passiven gewährt, sie müssen aktiv erkämpft werden, und zwar immer wieder, auch und gerade gegen einen zunehmend repressiv auftretenden Staat. Man muß die Kräfte unterstützen, die Aufklärung betreiben.

Gleichzeitig gilt es aber auch, die weiteren politischen Entwicklungen im Auge zu behalten. Die Krise in Griechenland hat sich mittlerweile nachteilig auf den Erfolg linker Parteien in anderen südeuropäischen Ländern ausgewirkt.

This isn't just Greece III

Das alles geschieht im Hochsommer, und es zieht sich so lange hin, daß viele bei alledem schon kaum noch hinhören mögen. Aber es geht weiter. Das Institut Solidarische Moderne, ein Thinktank gegen den Neoliberalismus aus dem rot-rot-grünen Lager, hat gestern einen Appell gegen das Verhandlungsergebnis zwischen den Eurogruppe-Staaten und Griechenland veröffentlicht, der bisher in keiner größeren Zeitung, außer in der Online-Ausgabe des Neuen Deutschlands (sic!) erwähnt worden ist. Darin heißt es unter anderem zutreffend: Die Schwelle ist überschritten. Was Merkel und Schäuble am Verhandlungstisch durchsetzten, wurde von der SPD unterstützt und bleibt von der europäischen Sozialdemokratie unwidersprochen. Ihr historischer Niedergang wird weitergehen. Den Abgang hat sie selbst besorgt, uns bleibt, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Und Yanis Varoufakis hat den Text des Abkommens, über das heute abend im griechischen Parlament abgestimmt werden soll, auf seinem Blog in einer kommentierten Fassung veröffentlicht. – Was würde Karl Kraus in diesen Tagen schreiben? Würde er überhaupt noch etwas schreiben?

This isn't just Greece II

Nachdenklich macht, daß der Kotau, der Griechenland gestern morgen auferlegt worden ist, mit dem Vertrag von Versailles verglichen wird, etwa von Yanis Varoufakis in einem Interview im australischen Rundfunk sowie in seinem Blog. Die Frage, ob das ein weiteres Versailles sei, ist auch Angela Merkel gestellt worden, und sie ist ihr ausgewichen. Weiterhin, daß die Finanzminister der Eurogruppe in der Überzeugung handeln, durch Recht nicht gebunden zu sein, wie Varoufakis im New Statesman erklärt. Sie sehen sich als Eurogruppe außerhalb des Rechts stehend.

This isn't just Greece

…And now, the IMF is already saying—or the IMF has already acknowledged that the debt is unsustainable. And some of that is U.S. influence. You know, you have a difference between the U.S. and the European Union, or the European authorities, I should say, because the U.S. is only concerned with keeping Greece in the euro, whereas the others have this project. They want to transform Europe into a place that has a smaller social safety net, a reduced state, cuts in pensions and healthcare. This isn’t just Greece. Greece is the obstacle in their way of transforming Europe. So they have these whole set of other interests that they’re fighting for, and that’s why they’re being so brutal and stubborn about this…

– Mark Weisbrot in Democracy Now, 10. Juli 2015.

Die Gedanken sind frei

Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) hat die neue Vergütungsregelung von Amazon kritisiert. Indem Amazon bei E-Books von einer Abrechnung per Download auf eine Vergütung pro tatsächlich gelesener Seite umstelle, kontrolliere der Händler die Gedankenfreiheit. Darin liege ein kontrollierender Eingriff in den intimen Dialog des Lesers mit dem Buch und das damit verbundene Verhältnis zum Autor, der sich auch auf den durch individuelles Leseverhalten geprägten Schreibprozess der Autoren auswirke. Der Autor müsse prioritär darauf gerichtet sein, die Leserinnen und Leser kontinuierlich im „Cliffhängerstil“ von einer Seite zur nächsten zu treiben. Aber dazu gehören ja zwei: Einer, der treibt, und einer, der sich treiben läßt. (via DRadio Kultur).

Meinungsmache

Albrecht Müller beschreibt in den NachDenkSeiten die Methoden der Meinungsmache zum Nachteil Griechenlands. Im Anschluß an sein gleichnamiges Buch aus dem Jahr 2009 illustriert er anhand eines Interviews in den Tagesthemen, wie Journalisten und Politiker als spin doctors versuchen, die öffentliche Meinung in eine ihnen genehme Richtung zu wenden: … die Einigung scheiterte bisher an der Sturheit und am Taktieren der griechischen Regierung; „wir und die“; wir, die Guten und Vernünftigen sind hier, und dort sind die Ideologen und die Unvernunft.

Das ist schon schlimm genug. Noch problematischer ist aber, glaube ich, daß sich durch das monatelange Ringen um Kredite auch ganz langfristig ein Bild von „den Griechen“ festsetzen könnte, das die Einstellung vieler zu dem Land und darüber hinaus zu wirtschaftspolitischen Fragen prägt. Das Gerede vom „kranken Mann am Bosporus“ ist ein historisches Beispiel für so etwas. Die Floskel aus dem 19. Jahrhundert ist heute immer noch geläufig, und sie paßte damals so wenig wie sie heute in der Pauschalität, die sie unterstellt, zutreffend wäre.

So werden Bilder geprägt, die viele Generationen lang wirken können, die diskriminieren und letztlich allen schaden.

Brave New E-Book World

Was hat man alles gehört über die wunderbare neue Welt der Selfpublisher, die ihre Bücher über Apple und Amazon veröffentlichen, statt bei einem richtigen Verlag. Wir gingen herrlichen Zeiten entgegen, hat man gehört. Geht zu den großen amerikanischen Konzernen, hat man gehört, sie zahlen mehr als die anderen, viel, viel mehr. Und jetzt dies: Mit einer Frist von zwei Wochen kündigt Amazon einseitig eine Änderung seiner Vertragsbedingungen an: Die Autoren, deren Werke über Kindle unlimited vertrieben werden, würden fortan nicht mehr nach den von den Lesern im Rahmen der Pauschale genutzten Büchern, sondern nach den tatsächlich gelesenen Seiten vergütet. Denn die Kindle-Lesegeräte schaffen ja den gläsernen Leser. Amazon ist live dabei, wenn die Datei durchblättert und dabei möglicherweise auch gelesen wird. Und man wundert sich, daß es überhaupt Leser gibt, die bei sowas mitmachen. Und Autoren, natürlich, auch. Aber es gibt ja auch Leute, die Google für eine Suchmaschine halten und die meinen, bei Facebook gehe es vor allem um „Kommunikation“ und um „Nachrichten“. If you're not paying for it, you are the product. Aber hier bezahlen sie ja sogar dafür, und deswegen wird bestimmt keiner umdenken. Sie zahlen einen hohen Preis, Autoren wie Leser.

Sie sind nicht angemeldet