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Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2017

Von der Sicherheit war viel die Rede im Vorfeld dieser Buchmesse. Bis hin zu der Empfehlung, keine Rücksäcke und keine Rollkoffer mitzubringen, denn alles werde gefilzt werden am Eingang, was zu langen Schlangen an demselben führen könne. Die Aufforderung hat nicht viel Eindruck gemacht, offenbar, denn natürlich kommen alle, wie immer, mit ihrem Gepäck – wie denn auch sonst soll man das stundenlange Herumlaufen in den trotz Wegwerfteppich so unwirtlichen Hallen noch ertragen, wo ein halber Liter Leitungswasser im Wegwerfpack für drei Euro verkauft wird.

Überhaupt: Der Andrang an Besuchern. Mit dem ist es nicht so weit her wie gewünscht. Bei mittäglichen Gang von Halle 4 in Halle 3 waren wir doch recht einsam auf dem schnieken Laufband unterwegs. Es war so leer wie noch nie auf der Messe, und ich komme seit etwa zehn Jahren hierher.

Eine Branche im Abbau ist zu besichtigen. Der Umsatz konnte nur durch Preiserhöhungen aufgefangen werden; der Rückgang ist also bereinigt durchaus vorhanden, möchte man den Branchenjournalisten zuraunen. Eine Branche, die sich in die Eventisierung flüchtet, so war zu lesen, um ihren gesellschaftlichen Bedeutungsverlust zu kontern. Das gelingt, und die Bücher, die in den großen Verlagen produziert werden und dann durch die Verwertungskette Buchhandel, Bibliothek und Antiquariat durchgereicht werden, sind immer noch gern genutzte Aufhänger, an denen sich der Journalismus abarbeitet, um damit ganze Kulturteile zu füllen mit Kritiken und Autoreninterviews, das ganze Jahr über. Die Digitalisierung fand statt – und doch nicht, jedenfalls nicht so, wie es vorhergesagt worden war. Das E-Book ist bis heute eine Randerscheinung geblieben. Der allergrößte Teil des Marktes besteht weiterhin aus gedruckten Büchern, und so hat es auch eine gewisse Berechtigung, dass das Mainzer Gutenberg-Museum wieder seinen Namensgeber an der Druckerpresse auffährt, wo es immer noch zugeht wie vor fünfhundert Jahren.

Aber dem Buch an sich brechen die Leser weg, sagte die Ex-FAZ-Journalistin und Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg gerade in einem Interview im Handelsblatt. Es ist also nicht nur eine Frage des Absatzes, der Einnahmen oder des Umsatzes oder wie man es sonst betriebswirtschaftlich bezeichnen möge, es ist ein tiefgreifender und kaum wieder umkehrbarer Medienwandel, der dazu geführt hat, dass Bücher weitaus weniger beachtet werden, während Fernsehserien aus dem amerikanischen Pay-TV auch schon mal in der U-Bahn besprochen und zitiert werden – wenn man die Ohren für sowas offen hält.

Andererseits die schwierige wirtschaftliche Lage vor allem der kleinen Verleger, die Christoph Links in den Frankfurter Heften zusammengefasst hat.

Der Medienwandel wird greifbar. Er ist hier zu besichtigen, Jahr für Jahr.

Es ist ein bisschen wie bei den Pressekonferenzen in den Museen, wo durch die Zusammenlegung der Redaktionen über die Jahre immer weniger Journalisten kamen, so dass sie schließlich auch die Blogger einluden – nicht weil sie verstanden hätte, was diese tun, aber weil die renommierten Häuser gerne eine ansehnliche Zahl an Schreibern um sich scharen, wenn sie sie rufen. Im Fall der Buchmesse sind es die Verlagsfusionen, die mittlerweile doch auffallen. Wo weiland doch immer wieder mittelständische inhabergeführte Verlagshäuser zwischen den großen Playern auftauchten, sehen wir heute sogenannte Gruppen, also beispielsweise die Westermann Gruppe, die eine Handvoll Schulbuchverlage als Marken verwaltet und deren Produkte feilbietet. Im naturwissenschaftlichen Bereich fällt die Übernahme des Schattauer Verlags durch den ebenfalls in Stuttgart ansässigen Thieme Verlag auf. Wieder einer weniger.

Und alles so englisch heute hier, auch wo man es gar nicht erwartet hätte. In der Wissenschafts- und Bibliotheks-Halle, okay, da mag es angehen. Aber auch in den anderen Hallen wurden die Aussteller bunt gemischt, und es kann schon mal vorkommen, dass man von der Seite in amerikanischem Englisch wie selbstverständlich gefragt wird, ob man sich für Kinderbücher interessiere?

Auch der Bildungsbereich, kaum wiederzuerkennen, so klein, so international. Schon vergangenes Jahr war viel Luft zwischen den Ständen, dieses Jahr ist es eher noch ein bißchen mehr geworden.

Der Brockhaus, der vor zwei Jahren rein online wiederauferstanden war und der im letzten Jahr den Eintritt ins Schulbuchgeschäft verkündet hatte, fehlt diesmal vollständig. Die Messe wird offenbar nicht benötigt, um die Zielgruppe zu erreichen. Und man verspricht sich davon anscheinend keinen zusätzlichen Nutzen mehr. Viele öffentliche Bibliotheken bieten den Zugriff auf die Enzyklopädie mittlerweile an. Das neu hinzugekommene Kinder- und Jugendlexikon und die Kurse für Schüler zum Selbstlernen werden dagegen noch selten hinzugekauft. Zu teuer für die meisten Bibliotheken, in unserer Gegend kam deshalb leider kein Konsortium zustande.

Dafür ist Wikipedia dieses Jahr vor Ort, in Halle 4.2 am Stand A58, ziemlich hinten am Rande platziert, aber gut zu finden dank großem Wikipedia-Ball, der auf diese Wand projiziert wird, wo sich die Hallengänge kreuzen. Deutsche und französische Wikipedianer haben sich hier versammelt, um, passend zum Gastland Frankreich, an Artikeln zur Deutschland und Frankreich zu basteln. Ein portables Fotostudio bietet Gelegenheit, Autoren und weitere Prominente zu fotografieren, um deren Artikel zu bebildern.

Wer fehlte noch? Größere Zeitungen, den Spiegel und den Freitag habe ich nicht bemerkt, aber vielleicht habe ich sie übersehen.

Dafür viel Politik. Der Rechtsruck in der Gesellschaft macht sich bemerkbar, und die Buchmesse reagiert darauf. Sie gibt der Neuen Rechten durchaus ein Forum, indem sie sie ausstellen läßt, aber sie platziert den Stand der Jungen Welt neben den der Jungen Freiheit, und der Antaios Verlag ist schräg gegenüber von der Amadeo Antonio Stiftung. Die Bürger wehren sich dagegen, dass die Rechte auf diese Weise ein Forum für ihre Positionen und für ihre Texte bekommt. Buchmesse gegen Rechts sammelt Unterschriften für eine weltoffene Buchmesse und gegen eine Bühne für rechte Propaganda, und am Orbanism Space lagen Lesezeichen für Respekt und für Gutmenschen aus mit dem Hashtag #verlagegegenrechts. Can Dündar war anwesend unter Applaus, als heute mittag der Raif-Badawi-Preis der Friedrich–Naumann-Stiftung Ahmet Şık verliehen wurde, einer der vielen Journalisten, die derzeit in der Türkei in Haft sind. Dazu passend auch das neue Buch von Naomi Klein, die bezogen auf die Entwicklungen in den USA, zu Maßnahmen gegen die Politik Donald Trumps aufruft. Dagegen kaum Politiker auf der Messe.

Zum Abschluss aber noch einmal ein Blick auf die Diskussion über das digitale Lesen. Auch sie auf Englisch, natürlich. How does reading work? A debate on the impact of digital on reading hieß das Panel, das am Nachmittag in Halle 3.1 an Stand B33 im Kulturstadion im Bildungsbereich stattfand. Zwei Wissenschaftler – Anezka Kuzmicova von der Universität Stockholm und Adriaan van der Weel von der Universität Leiden –, Jens Nymand Christensen, ein Mitarbeiter der EU-Kommission, und der Moderator Ruediger Wischenbart unterhielten sich über Probleme, Desiderate und Forschungsergebnisse zum Thema Lesekompetenz und ganz besonders zum Einsatz von gedruckten Schulbüchern im Vergleich zu digitalen Lehrbüchern. Die Ergebnisse, um die es dabei ging, waren vor kurzem auf einer Tagung in Vilnius vorgestellt worden; am Montag dieser Woche hatte die FAZ darüber berichtet – der Beitrag ist hier zu lesen, und auch in El Pais wurde darüber berichtet.

Dabei war die Kehrseite des oben angesprochenen Wegbrechens der Leserschaft zu bemerken: Die Lesefähigkeit nimmt in der EU spürbar ab, und das dürfte nach Ansicht des Podiums zumindest auch mit dem Wandel von Print zu Online zu tun haben. Betroffen sind vor allem die schlechter gestellten Schichten, Lesen zu können ist also in allererster Linie eine soziale Frage, aber nicht nur. Und Lesen können heißt Denken können. Erst das vertiefte Lesen helfe, grundlegende Kompetenzen zu entwickeln, die für das Verstehen von Narrativen und weiteren komplexen Zusammenhängen unabdingbar seien. Ein Nebeneffekt sei, dass man beim deep reading die Konzentrationsfähigkeit entwickle und erhalte. Man war sich aber einig, dass man bei der Frage, wie sich Print- und Onlinemedien auf das Lernen auswirkten, allemal Neuland betrete, was vor allem den Lehrern zu schaffen mache, weniger den Schülern.

Man empfahl vor allem, für das grundlegende Lernen gedrucktes Material zu verwenden und erst zum weiteren Arbeiten digitale Medien und Geräte einzusetzen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen verhinderten audiovisuelle Inhalte, dass sich die Vorstellungskraft herausbilden könne. Zum anderen seien Bildschirme sehr stark mit Unterhaltung und Zerstreuung und weniger mit Konzentration konnotiert, so dass auch bei nüchterner Aufbereitung des Materials bestimmte Erwartungen angestoßen würden, die die Wahrnehmung negativ beeinflussen könnten. Man war sich auch darüber einig, dass es sinnvoll sei, dass Schüler lernten, von Hand zu schreiben – die Diskussion darüber, ob Blockschrift oder gar Maschinenschrift vorzugswürdig wäre oder ob gar Diktiersysteme ausreichten, wurde gestreift, aber im Ergebnis abgelehnt. Pragmatisch sei es sinnvoll, bis auf weiteres den Gebrauch von Tablets durch Kinder und Schüler zu beschränken. Uneinigkeit bestand in Bezug auf die Gamification des Lernens; während einerseits im Spiel ein sehr niedrigschwelliger Zugang zu allen denkbaren Inhalten liege, wurde dem entgegengehalten, dass sie einer vertieften Beschäftigung mit Themen gerade entgegenständen.

Soweit zur Digitalisierung der Schule. Auf die abschließende Frage aus dem Publikum, wie ältere, die mit Printmaterial aufgewachsen waren, den negativen Auswirkungen des digitalen Lesens entgegenwirken könnten, war sich Adriaan van der Weel sehr sicher. Schon Nicholas Carr hatte in seinem Buch und in dem gleichnamigen Aufsatz im Atlantic Is Google making us stupid? vor etwa zehn Jahren am Ende sich wieder dem Strom der Texte und des übrigen digitalen Contents hingegeben, mit den bekannten Folgen des Verlusts der Aufmerksamkeit und der Konzentrationsfähigkeit. Dagegen helfe nur eines: Read books!

Literatur: N.N. 2017. Zwischen Diskursmedium und Kundenschwund. buchreport. 10. Oktober. www.buchreport.de (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Müller, Anja Tuma und Felicitas von Lovenberg. 2017. Das Buch ist schöner als ein paar Bits. Handelsblatt, 9. Oktober, Abschn. Unternehmen & Märkte. – Links, Christoph. 2017. Gegenwind für die Buchbranche Problematische Gesetzesentscheidungen und globale Herausforderungen. Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte. 1. September. www.frankfurter-hefte.de (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Jacobs, Michael. 2017. Messe-Flucht: Für viele Mainzer Verlage rechnet sich die Frankfurter Buchmesse nicht mehr. Allgemeine Zeitung. 7. Oktober. www.allgemeine-zeitung.de (zugegriffen: 7. Oktober 2017). – Dupré, Johanna. 2017. Lesestoff aus der Apotheke: Digitalisierung verändert die Buchbranche grundlegend. Allgemeine Zeitung. 7. Oktober. www.allgemeine-zeitung.de (zugegriffen: 7. Oktober 2017). – N.N. 2015. Als Wissensservice im Netz: Der Brockhaus kehrt zurück. Börsenblatt. 15. Oktober. www.boersenblatt.net (zugegriffen: 10. Oktober 2017). – Roesler-Graichen, Michael. 2016. Interview mit Hubert Kjellberg, Brockhaus NE: „Das Ergebnis unserer Arbeit ist kein Buch mehr“. Börsenblatt. 12. August. www.boersenblatt.net (zugegriffen: 10. Oktober 2017). – N.N. 2017. Wikipedia:Frankfurter Buchmesse 2017. Wikipedia. 7. Oktober. de.wikipedia.org (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Klein, Naomi. 2017. Gegen Trump: wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen. Übers. von Gabriele Gockel. Frankfurt am Main: S. Fischer. – Küchemann, Fridtjof. 2017. Ist das nun mutig oder dumm? Buch oder Tablet: Wie wir einen Text verstehen, hängt auch vom Medium ab. Was bedeutet das für das künftige Lesen und Lernen? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Oktober, Abschn. Feuilleton. - Carbajosa, Ana. 2015. ¿Recuerdas cuando leíamos de corrido? EL PAÍS. 24. Mai. politica.elpais.com (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – N.N. 2017. E-READ COST. 11. Oktober. ereadcost.eu (zugegriffen: 11. Oktober 2017). – Carr, Nicholas. 2008. Is Google Making Us Stupid? What the Internet is doing to our brains. The Atlantic, August. www.theatlantic.com (zugegriffen: 13. April 2017).

„Kartografie der Träume. Die Kunst des Marc-Antoine Mathieu“ im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

Ein Mann im langen Mantel, den Kopf nach vorn gebeugt, das Gesicht unter dem breitkrempigen Hut verborgen, in einer Welt aus Pfeilen, die ihn mehr ins Nirgendwo schicken als irgendwo hin. Der riesige Pfeil als Schatten desjenigen. Der Wegweiser mit den vielen Pfeilen, die in in alle möglichen Richtungen weisen. Einer fällt gar ab. Er entscheidet sich für die Richtung des letzteren und geht weiter.

Ein kleiner Mann mit Hut und Mantel im Strudel. Vor einer tiefen Spalte. Im Sand. Treppen, die in in eine Wand hinein führen, wo es nicht weitergeht, außer auf dem Bild, das man dort sieht. Comic-Hefte, die plötzlich riesig und aufgeschlagen wie eine Skulptur im Raum vor einem stehen, kafkaeske Welten erzählend. Alles schwarz und weiß und in Graustufen gezeichnet.

Die Welt von Marc-Antoine Mathieu ist stumm, aber sehr bewegt. Sie dekonstruiert das Zuverlässige und hinterlässt einen Irrgarten aus tausend Eindrücken, in denen die Zeit sich dehnt und der Blick auch einmal mit Leichtigkeit um die Ecke geht.

Ein Labyrinth, das die Welt ist. Nur darauf ist Verlass. Und so ist auch diese Ausstellung, durch die man im Kreis geht, treppauf, treppab wie der namenlose Held mit Hut und Mantel. Alles besteht aus Pfeilen, alles wird zum Pfeil, alles löst sich auch auf in Pfeilen, die in einer Animation wie in einer riesigen Wolke herum wirbeln, als wären es Vögel, die im Schwarm fliegen. Am Ende steht man vor einem großen weißen Pfeil, der den Weg zum Ausgang weist. Wirklich?

Kartografie der Träume. Die Kunst des Marc-Antoine Mathieu. Museum Angewandte Kunst. Frankfurt am Main. – Mathieu wird zur Finissage am 15. Oktober 2017 um 11 Uhr zu einer Führung gemeinsam mit dem Kurator David Beikirch erscheinen. Am selben Tag sprechen beide im französischen Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse um 16.30 Uhr über Mathieus Arbeit und die Ausstellung.

„Making Heimat – Germany, Arrival Country“ im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main

Über die Ausstellung Making Heimat, die derzeit im Deutschen Architekturmuseum gezeigt wird, ist schon viel geschrieben worden, und ich habe irgendwann einmal alles gelesen, was ich darüber finden konnte: Deutscher Pavillon bei der Architektur-Biennale 2016. Die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Auswirkungen auf die Architetur und den Städtebau als Thema. Wenn man dann aber vor Ort ist, wirkt das alles doch ziemlich fern und man muß sich erst einmal durch die vielen, vielen Wandtexte hindurch lesen, lesen, lesen.

Die Website stellt die Ausstellung schon ganz gut vor: Im Erdgeschoß wird das Konzept der Arrival City von Doug Saunders erklärt, und im ersten Stock gibt es einen Überblick über die Gebäude und Wohnformen, die seit 2015 in Deutschland entstanden sind, um die Neuangekommenen unterzubringen: Teils sind es Provisorien, teils aber auch Gebäude, die noch länger stehenbleiben werden.

Saunders hat eine Handvoll Voraussetzungen formuliert, damit eine Integration vor Ort gelingen kann. Damit aus der Ankunft ein Nestbau werden kann: Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt. Die Arrival City ist bezahlbar. Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit. Die Arrival City ist informell. Die Arrival City ist selbst gebaut. Die Arrival City ist im Erdgeschoss. Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern. Die Arrival City braucht die besten Schulen. – Das soll in Offenbach gelingen – meinen die Frankfurter aus dem Deutschen Architekturmuseum (DAM). Jedenfalls nicht an vielen Orten in Deutschland, denn es gibt offenbar nur wenige solcher Hotspots, wo ganz viele an- und zusammenkommen, um von dort aus dann weiter zu ziehen. Die hohe Fluktuation ist ein weiteres Merkmal der Arrival Cities. Man kommt nicht um zu bleiben, sondern um sich erst einmal ganz grundlegend zurechtzufinden.

Der Spiegel brachte vor drei Wochen eine Bestandsaufnahme zum Stand der Integrationsbemühungen. Wo liegen die Probleme derzeit?

  • Der Wohnungsmarkt ist durch die vielen Nachfrager nunmehr völlig überfordert – eine langfristige Folge des neoliberalen Rückzugs aus dem sozialen Wohnungsbau. Letzteres war absehbar, aber die Zuwanderung hat alles ins Groteske verschärft. Auf einem U- und S-Bahn-Plan in der Ausstellung sind Haltestellen mit den Mietpreisen für eine 70-qm-Wohnung beschriftet. Man sieht unmittelbar, wo die Arrival-Räume zu finden sind und wo auf keinen Fall. Nach Frankfurt zieht man erst, wenn man es sich leisten kann.

  • Der Deutschunterricht setzt voraus, daß man überhaupt einmal lesen und schreiben gelernt hatte. 70 Prozent der Afghanen, die zu uns gekommen sind, sind aber Analphabeten und müssen daher erst einmal alphabetisiert werden, bevor sie weiter beschult werden können. Wegen der schlechten Anerkennungsquote werden viele aber gar nicht oder erst sehr spät in Sprachkurse kommen.

  • Die Unternehmen wenden ihre exaltierten Vorstellungen über das Personal, das schon zum Ausschluß vieler Einheimischer geführt hatte, auch auf die Neuangekommenen an und stellen fest, dass natürlich auch sie ihren Maßstäben oft nicht genügen: Mehr als die Hälfte der Syrer über 18 Jahren haben keinen Schulabschluss. Aber auch Akademiker finden kaum etwas, weil die Ausschreibungen zu speziell formuliert sind. Der Spiegel verweist auf einen 35-Jährigen aus begüterten Verhältnissen, der trotz eines MBA, den er an der EBS in Oestrich-Winkel gemacht hat, überall abgelehnt werde. Früher war so ein Abschluß mal eine Freifahrkarte in die Wirtschaft, völlig unabhängig von der Herkunft. Das verweist auf Probleme am Arbeitsmarkt, die mit der Nationalität und den näheren Umständen der Flucht oder des Bildungswesens im Heimatland gar nichts zu tun haben.

  • Und die Schulen müssen ihre Vorbereitungsklassen mit pädagogischen Laien bestreiten, weil es schon lange viel zu wenige ausgebildete Lehrer gibt. Viele zugewanderte Kinder würden aber gar nicht unterrichtet, die meisten kämen erst nach langer Wartezeit in die Schule. Die Behörden stehen sich gegenseitig im Wege.

Davon erfährt man in der Ausstellung leider nichts. Dafür viele Details über die Containerbauwerke, vor allem die Kosten. Die Schau beschreibt, sie dokumentiert, was ist. Sie bleibt insoweit unkritisch. Dabei wären schon die vielen Holzbauten ein Anlaß zum näheren Hinschauen gewesen. Wir bauen gemeinhin in Stein, und auch der Container war – zumindest in unserer Stadt – bisher eher eine Unterkunft für Obdachlose, platziert am Stadtrand, in prekärer Lage, weit draußen, wo man sonst gar nicht hinkommt. Hier aber – und das ist das eigentlich Erstaunliche – mit einer Empathie und Wärme eingesetzt und gestaltet, von der man sich wirklich und dringend wünschen möchte, daß sie über den Tag hinaus bestehen bliebe, und bitte für alle. Dann wäre etwas erreicht.

Literatur: Saunders, Doug. 2016. Making Heimat: Germany, arrival country: La Biennale di Venezia, 15. Mostra Internazionale di Architettura, partecipazioni nazionali. Hg. von Peter Cachola Schmal, Oliver Elser, und Anna Scheuermann. 1. Auflage. Ostfildern, Germany: Hatje Cantz. – Baus, Ursula, Wilfried Dechau, Oliver Elser, Stefan Haslinger, Karen Jung, Laura Kienbaum, Doris Kleilein und Gerhard Matzig. 2017. Making Heimat. Germany, arrival country: atlas of refugee housing. Hg. von Peter Cachola Schmal, Oliver Elser, und Anna Scheuermann. Berlin: Hatje Cantz. – Saunders, Doug. 2011. Arrival city: über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte - von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Übers. von Werner Roller. 1. Aufl. München: Blessing. – Saunders, Doug. 2013. Die neue Völkerwanderung - arrival city. Übers. von Werner Roller. 1. Aufl. München: Pantheon. – Djahangard, Susan, Katrin Elger, Christina Elmer, Miriam Olbrisch, Jonas Schaible, Mirjam Schlossarek und Nico Schmidt. 2017. Richtig ankommen. DER SPIEGEL, Nr. 19 (6. Mai): 34. (zugegriffen: 26. Mai 2017).

Making Heimat – Germany, Arrival Country. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. Kuratoren: Peter Cachola Schmal, Anna Scheuermann, Oliver Elser. – Pressemitteilung. – Bis 10. September 2017.

Claudia Andujar: „Morgen darf nicht gestern sein“ im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

Eigentlich sollte Claudia Andujar die Yanomami Anfang der 1980er Jahre nur zur Durchführung einer Impfkampagne fotografieren. Die Indigenen starben an Krankheiten, die von Arbeitern eingeschleppt wurden, die aus dem Süden Brasiliens kamen: Grippe oder Masern. Weil Yanomami keine Namen tragen, sondern sich nur unter Rückgriff auf ihre Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnen, hängte man ihnen Schilder mit Nummern um, um sie wiederzuerkennen, damit ihre Behandlung dokumentiert werden konnte. Dabei entstanden dokumentarische Aufnahmen, die aber auch darüberhinaus einen künstlerischen Wert haben, weil Andujar für manche einen ganzen Film verbrauchte, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

Die Bilder wurden erstmals 2006 bei der Biennale von São Paolo ausgestellt. Sie sind seitdem als Marcados bekannt geworden – die Markierten. Man erfährt: Andujars (jüdische) Verwandte väterlicherseits waren in Konzentrationslagern ermordet worden. Sie floh mit ihrer (protestantischen) Mutter zunächst in die Schweiz, wo sie auch 1931 geboren worden war, dann weiter nach Nordamerika und kam erst in den 1950er Jahren nach Brasilien, wo sie seitdem lebt. Die durchnumerierten KZ-Opfer waren für sie die mit dem Tod Markierten. Die Yanomami wollte sie mit den Nummern, die sie ihnen gab, für das Leben, für das Überleben markieren.

Das ist ein berührendes Projekt, und man stellt sich natürlich die Frage, warum man erst jetzt davon erfährt. Claudia Andujar ist in Lateinamerika ziemlich bekannt, Berichte über sie findet man dementsprechend vorwiegend in spanischsprachigen, aber auch in französischen Medien, so etwa die Biografie bei Photophiles. Ein Gespräch, das die Kuratorin Carolin Köchling für den Katalog der Ausstellung im Frankfurter MMK geführt hat, erschließt den Kontext für den deutschsprachigen Raum. So mag es zwar die erste umfassende Werkschau in Europa sein, es ist aber nicht ihre erste Ausstellung hier, Paris (Fondation Cartier, 2013) und Genf (Musée d'ethnographie, 2016) gingen voraus, das MoMa schon in einer Gemeinschaftsausstellung 2010.

Thierry Chervel vom Perlentaucher hatte es beim Relaunch 2014 beklagt: Die Zeitungen blicken kaum noch über den nationalen Tellerrand hinaus. Es wird immer wichtiger, aktiv sich umzuschauen, um neue Anregungen zu finden. Die Echokammer, die die Presse konstruiert, wird immer kleiner, immer enger. Durch die zunehmende Kommerzialisierung wird das von den Blogs kaum aufgefangen. Aber die Museen können dazu ein wirksames Korrektiv bilden.

Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein. MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. Katalog im Kerber Verlag, 25 Euro, im Buchhandel 28 Euro. Ein Kurzführer ist für Besucher kostenlos. Bis 25. Juni 2017.

„In die dritte Dimension. Raumkonzepte auf Papier vom Bauhaus bis zur Gegenwart“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Die Beschäftigung mit der Leere zieht sich bei den Frankfurtern schon etwas länger hin. Schon in der Giacometti-Nauman-Ausstellung in der Schirn zur letzten Jahreswende tauchte Heidegger auf, der in seinem Essay Die Kunst und der Raum geschrieben hatte: Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel.

Diesen Faden nimmt das Städel Museum nun auf und zeigt in sieben Räumen wie dreizehn Künstler mit dem Raum umgegangen sind – vom Blatt zur Skulptur, vom Blatt als Skulptur oder vom Raum an sich.

Die abstrakten Werke beginnen beim Bauhaus mit El Lissitzky und László Moholy-Nagy und enden als Höhepunkt bei eben jenem Heidegger und Chillidas Collagen, die tatsächlich eine hohe Meisterschaft zu dem Thema zeigen. Wer zum Schluß den raunenden Vortrag des Meisterdenkers zu alledem hören möchte, kann sich den Kopfhörer aufsetzen und der alten Schallplatte rund zwanzig Minuten lang lauschen.

Heideggers Essay liefert die Vorlage für eine Meditation über die Differenz zwischen dem Raum im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinne und dem Raum in der Kunst. Der Raum ist immer ein wahrgenommener und damit auch ein konstruierter Raum, der als eine grundlegende Kategorie allem zugrundeliegt, was man denken kann. Die sparsamen Linienzüge, die Norbert Kricke auf Papier zeichnete, werden ohne weiteres als räumlich gesehen. Die dicken schwarzen Linien auf braunem Karton kreuzen sich nicht einfach nur, sie suggerieren Räumlichkeit, obwohl es dafür sonst keinen Anhalt gibt.

Das gilt auch für die Faltungen von Hermann Glöckner, der große Papierbögen mehrmals knickte und die Flächen, die dabei entstanden, mit Farbe gleichmäßig bestrich. Das Papier ist nicht ganz flach, es hat Vor- und Rückseite, es hat eine Dicke, es hat also schon auch eine dritte Dimension. Das Material wird ebenso zum Raum wie die Leere, die selbst ein Material und damit voller Leben ist.

Wer sich weiter mit dem Raum in der Kunst beschäftigen möchte, möge seinen Rundgang im Museum für Kommunikation fortsetzen, wo noch bis zum 23. Juli 2017 der Goldene Schnitt untersucht wird.

In die dritte Dimension. Raumkonzepte auf Papier vom Bauhaus bis zur Gegenwart. Städel Museum Frankfurt am Main. Kuratorin: Jenny Graser. Katalog im Museum: 9,90 Euro. Bis 14. Mai 2017.

„Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Was soll man sagen? Eine Ausstellung, zunächst einmal durch die über sie berichtenden Medien betrachtet. Zu Anfang: Das Übliche in den Massenmedien, von denen man schon längst keine Überraschung mehr erwartet. Tenor: Geht hin! Dann die Rezensionen in den Feuilletons, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand wohl unter den Bedingungen des Marktes immer schwerer geworden ist. Am ehesten bei Katharina Cichosch in der taz ahnt man, wie sehr es wohl durcheinandergeht im Geschlechterkampf nach der Lesart des Städels. Die Blogger hielten sich ziemlich zurück, erst nach und nach liefen ein paar distanzierte bis eher kritische Beiträge ein.

Die Ausstellung polarisiert doch ziemlich. Zustimmung hörte man seltener nach dem Besuch. Konzipiert wurde sie im Nachgang zu einer Schau zur Schwarzen Romantik, die im strengen Winter 2012/13 an gleicher Stelle gezeigt wurde, und so gibt es denn nicht das Wahre, Schöne, Gute zu sehen, sondern einen ziemlich holprigen Querschnitt durch die Kunstgeschichte, den die beiden Kuratoren zum Thema der Geschlechterbeziehungen ausgewählt haben, anknüpfend an den Gender-Diskurs der letzten Jahre, bis hin zum #aufschrei und dem Gauckschen Tugendfuror.

Etwa 150 Werke – darunter geht es in den großen Ausstellungshäusern mittlerweile anscheinend nicht mehr –, davon 30 aus der eigenen Sammlung, werden im Städel gezeigt, und zwar buchstäblich beginnend bei Adam und Eva, zwölf Räume füllend, beginnend beim Symbolismus in der Mitte des neunzehnten, bis hin zum Surrealismus zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Räume, die man durchschreitet, folgen meist beziehungslos aufeinander. Viele Darstellungen schwanken zwischen Mord und Totschlag; so viele abgeschlagene Köpfe hat man selbst vom IS in den letzten Jahren nicht gezeigt bekommen. Und in vielen Fällen – nicht ausschließlich – sind es Bilder, die von Männern gemalt wurden und die mehr oder weniger bekleidete Frauen zeigen – einen Umstand, den die feministische Autorin Antje Schrupp auf ihrer Facebook-Seite dahingehend zusammenfaßte, die Ausstellung könnte genausogut heißen: „Wie Männer sich einen Geschlechterkampf fantasiert haben“, unter besonderer Berücksichtigung nackter Busen. Man dokumentiere hier aber nur die Kunstgeschichte und stelle sie der aktuellen Debatte gegenüber, hieß es immer wieder seitens der Kuratoren.

Aber braucht es dazu wirklich eine solche Ausstellung? Ist es nicht schon lange bekannt, daß die Kunstgeschichte eben vor allem ein Abbild der Sammlungen ist, in denen sich der jeweilige Zeitgeist spiegelt, mal mehr und mal weniger chauvinistisch, mal mehr, mal weniger aufgeklärt, und daß das meiste, was Frauen geschaffen haben, außen vor blieb und mithin der Fundus, auf den heute zurückgegriffen werden kann, notwendig von Männern stammt, von Männern ausgewählt wurde und daher vorwiegend aus männlicher Perspektive auf das Thema zugreift? Ist das – unbeschadet der Wirkung einzelner Werke, die für sich stehen können – im ganzen gesehen nicht genaugenommen trivial?

Zumal der Titel „Geschlechterkampf“ eine ziemlich grobe Verengung des Themas der Geschlechter und der Geschlechtlichkeit darstellt, das am Ende so viele Facetten hat. Haben könnte. Nicht nur destruktive, problematische, kriminelle bis pathologische, sondern eben auch Nährendes, Reifendes und Heilendes.

Und wäre es nicht die Aufgabe gewesen, diesen verzerrten Blick durch eine ausgewogenere Auswahl der Werke zu korrigieren – gegebenenfalls auch durch eine Beschränkung der Werkanzahl – und dabei auch den Begriff der Kunstgeschichte kritisch zurechtzurücken, die beileibe kein neutrales Abbild der Wirklichkeit ist, mit dem sich alles begründen ließe, sondern letztlich nur eine Konstruktion? So, wie ja auch heute immer noch das meiste, was kreativ entsteht, aus dem Kunstbetrieb herausgehalten wird durch diverse Zensur- und Auswahlverfahren, von den Aufnahmeprüfungen an den Kunsthochschulen über die künstlerischen Produktionsbedingungen bis hin zur Vermarktung einschließlich des Ausstellungsbetriebs.

Das Narrativ, unter dem die Schau steht, funktioniert nicht.

Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo. Bis 19. März 2017 im Städel Museum, Frankfurt am Main. Kuratoren: Felix Krämer und Felicity Korn. – Katalog (Prestel, München, vor Ort: 39,90 Euro), Begleitheft (7,50 Euro), Digitorial.

„Giacometti–Nauman“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main

Giacometti geht immer, begann der Kollege vom Wiesbadener Kurier seinen lesenswerten Beitrag über die Giacometti-Nauman-Ausstellung, die derzeit in der Frankfurter Schirn zu sehen ist. Kein Besucher wird auf dem Absatz kehrtmachen, weil sich jetzt in der Frankfurter Kunsthalle Schirn die spindeldürren Plastiken des Graubündner Jahrhundertbildhauers den Platz mit Objekten, Skulpturen und Installationen des amerikanischen Multimediakünstlers Bruce Nauman teilen. Obwohl er im weiteren Verlauf seiner Rezension denn doch eine gewisse Fallhöhe zwischen den beiden bemerkt.

Zu Recht. Denn natürlich ist die Zusammenstellung vollkommen willkürlich und weder die übliche Kuratorenlyrik der Pressetexte noch die Demandtsche Mathematik (Das ist für mich die absolute Königsklasse im Kuratieren, wenn man so etwas hinbekommt … Dann wird aus zwei plus zwei eben nicht vier, sondern sechs, oder sogar acht) können darüber hinwegtäuschen, daß es hier gehörig knirscht im Gebälk. Man erinnert sich an die Letzten Bilder, die vor drei Jahren ebenso unvermittelt und beziehungslos an gleicher Stelle nebeneinander hingen.

Giacometti lohnte sich – für mich, weil ich bisher nur seine kleineren Arbeiten kannte und denn doch überrascht war ob der Wirkung der „Grande Femme IV“ oder des „Walking Man“, beide von 1960, die lebensgroß vor einem stehen, strahlend und energisch. Und nachdem ich mich vor ein paar Jahren auch noch einmal mit Beckett beschäftigt hatte, zu dessen „Godot“ Giacometti das klassische Bühnenbild beisteuerte, war ein Gang durch diesen Teil der Ausstellung eher mit bekannten Eindrücken verbunden.

Die Beschäftigung mit der Leere, die „nicht nichts“ sei, wie die Einführung Digitorial erzählt, gleich zu Anfang im ersten Raum der Schau, hinterläßt den meisten Nachdruck. Dort wird L'objet invisible (Mains tenant le vide) von 1934 dem Lighted Center Piece Naumans von 1967 gegenübergestellt. Einerseits die ruhige und aufrechte, fast thronende Figur, die in ihren Händen deutlich etwas hält, das man offenbar nicht darstellen kann, das aber gleichwohl vorhanden ist und das auch – ihrer Haltung nach zu urteilen – so kostbar ist, daß es gut geborgen und beschützt bleiben muß. Auf der anderen Seite vier 1000-Watt-Lampen, die unverhandelbar und sehr aggressiv eine kleine quadratische Fläche ausleuchten, auf der, um es mit Ror Wolf zu sagen, „plötzlich nichts geschieht“. Dieser Raum, der zunächst eher wie eine Notlösung wirkt und gleich zu Anfang den Besucher mehr kalt erwischt und verwirrt als ihn zu empfangen, ist genaugenommen die eindrücklichste Szene der ganzen Ausstellung, weil sie mich berührt und Auskunft fordert, die nicht erteilt werden kann – das spätere Godot-Motiv vorwegnehmend.

Giacometti–Nauman. Bis 22. Januar 2017 in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main. Kuratorin: Esther Schlicht. – Katalog (Schnoek, Köln, vor Ort: 35 Euro), Begleitheft (7,50 Euro). – Digitorial und eine recht gehaltvolle Broschüre (für Besucher kostenlos).

Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2016

Auf die Frankfurter Buchmesse angesprochen, soll Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt haben: „Das ist eine Verkaufsveranstaltung – damit habe ich nichts zu tun!“

Aber natürlich ist das Geschehen vielschichtig. Der Verkauf ist der treibende Anlaß, aber das Gut, das hier verkauft wird, ist sozusagen der Treibstoff der Informations- und Wissensgesellschaft, der im Kapitalismus natürlich auch eine Ware ist, und je länger ich die Messe besuche, desto mehr nähere ich mich ihr aus vergleichender Sicht.

Ganz klar war früher „mehr Lametta“, das ist überall so. Aber es war auch ingesamt „mehr los“. Heute war zum Auftakt doch ziemlich ruhiger Betrieb. Auch die Taschenkontrolle am Eingang war nicht so neu, wie der Newsletter vorab tat, das gabs auch früher schon, samt Polizeistreifen.

„Rund 10.000 anwesende akkreditierte Journalisten, darunter 2.000 Blogger“ zählt die PR-Abteilung der Buchmesse. Da haben sie wohl auch die Kameraleute und die Strippenzieher von 3sat und Arte noch mitgezählt?

Begonnen habe ich heute tatsächlich als Freebie-Sammler gegenüber vom Blauen Sofa: Das Deutschlandradio Kultur verteilt seine letzten orangenen Kugelschreiber mit dem alten Namenszug, bevor es bald ein neues Sendestudio bekommt und zu „Deutschlandfunk Kultur“ umbenannt wird. Also her mit den schönen Kugelschreibern, denn das ist ein langlebiges Modell. Ein Andenken zu Lebzeiten. Die mit Abstand schönsten Bleistifte gibts diesmal bei DeGruyter und bei Springer Nature.

Nach notwendigen Einkäufen und einem kleinen Mittagsmahl führt mich mein Weg natürlich in die Halle 4.2, und dort nach etwas Umsehen bei den ganz großen in ihren Standlandschaften, zu – ein Tusch! – Brockhaus. Vor einem Jahr wiederauferstanden, hat der schwedische Erwerber die Marke aus der Plattform von Munzinger gelöst, über die die ehrwürdige Enzyklopädie vermarktet worden war, und vertreibt seitdem ein Multimedia-Nachschlagewerk auf einer eigenen Website – die heute abend – wie bitte? – wegen Wartungsarbeiten offline ist. Hm.

Immerhin: Vor dem Hintergrund des Autorenschwunds bei Wikipedia wird die Brockhaus Enzyklopädie, auf die ich seit Jahresanfang dank unserer Stadtbibliothek zugreifen kann, um ein Kinder- und um ein Jugendlexikon erweitert. Das sind eigene Korpora, die auf dem früheren gedruckten Kinder-Brockhaus – den es nicht mehr gibt – aufbauen bzw. abgespeckte Inhalte aus der großen Enzyklopädie für die jugendlichen Leser. Außerdem gibt es neu ein Programm, in dem „Basiswissen“ zum Selbststudium didaktisch aufbereitet wird. Diese Module ergänzen die Enzyklopädie und richten sich speziell an Schüler, die Hilfe beim Nachbereiten des Unterrichts oder bei den Hausaufgaben suchen.

Und daneben steigt Brockhaus ins Schulbuchgeschäft ein und stellt Lehrmaterial bereit, das auf die Lehrpläne der Bundesländer abgestimmt ist. Bisher gibt es dazu einen PR-Bericht und eine Pressemitteilung. Angeboten wird der Zugriff auf den Content aus einführenden Modulen samt Aufgaben. Alles weitere – Internetzugang und Clients – liegt bei der Schule. Die Nutzung erfolgt plattformunabhängig in einem Webbrowser, also keine Apps, keine Einbindung in ein entsprechendes digitales Ökosystem, aber kein kollaboratives Arbeiten. Noch nicht.

Eine Lehrerin, mit der ich ins Gespräch kam, erklärte mir als Hintergrund zu solchen Angeboten, an den Frankfurter Schulen werde sich bis 2018 erst einmal gar nichts tun, was die Technik angeht. Als erstes würden jetzt die Toiletten saniert.

Und Duden legt beim „Klassenzimmer der Zukunft“ einen Flyer aus zur „Learn Attack“ mit WhatsApp-Nachhilfe vom „professionellen Nachhilfelehrer“, „sofort“. Man sprach über den „Nachmittagsmarkt“. Da ist viel Bewegung drin derzeit. Deutschland in der „Bildungspanik“ – so Heinz Bude schon 2011.

Auch über den Schülerduden via Munzinger sprach man. Aber Munzinger ist auf der Messe nicht vertreten.

Überhaupt, ist es ja mittlerweile viel spannender geworden, darüber nachzusinnen, wer alles nicht gekommen ist, als sich anzuschauen, wer diesmal erschien. O'Reilly Deutschland, sozusagen der Suhrkamp unter den Computerverlagen, war letztes Jahr noch da, dieses mal aber wieder nur noch O'Reilly UK.

Die „Verkaufsveranstaltung“ ist eben nicht mehr unbedingt notwendig fürs Marketing. Andererseits merkt man dem Betrieb aber auch die Klassengesellschaft stärker an als früher. Es gab immer schon die Einfamilienhäuser unter den Messeständen, an den großen Kreuzungen gelegen, und hinten raus die Nordsee, ebenso wie die Einzimmerwohnungen in den engen Nebenstraßen. Aber durch den Wegfall der früheren angelsächsischen Halle 8 internationalisiert sich die Szene, und die Kontraste werden härter.

Wie schon in den Vorjahren bloggen auch diesmal Café Digital, u. a. Andrea Diener bei der FAZ und Carmen Treulieb wieder nebenan.

Die Onleihe geht auf dem Mac nicht mehr

Man glaubte es ja nicht, wenn man es nicht selbst erlebt hätte: Die Onleihe kriegt es seit mehr als zwei Jahren nicht auf die Reihe, EPUBs weiterhin für Mac-Anwender bereitzustellen. Fiel mir auf, nachdem ich meinen Rechner letzte Woche – im übrigen problemlos – von Mavericks auf El Capitan umgestellt hatte.

Ja, wirklich: Man kann derzeit auf dem Mac mit aktuellem OS X El Capitan und auch mit dem Vorgänger Yosemite keine EPUBs aus der Onleihe kontrolliert öffnen. Das Problem ist seit längerem schon bekannt, es gibt dazu eine FAQ, zuletzt geändert am 14. Januar 2016.. Dort wird behauptet, das Problem liege nicht bei der Onleihe, sondern bei Apple oder Adobe. Der Benutzer möge sich deshalb an diese Firmen wenden.

Man empfiehlt als Workaround ein Downgrade auf Digital Editions 1.7 – das ändert hier aber nichts, zumal die Schrift in den Menüs in dieser Uralt-Version auch kaum noch zu lesen ist. Was bleibt, ist nur die „Lösung“, Digital Editions 4 beim Laden des EPUBs durch „Sofort beenden“ abzuschießen und die Datei danach händisch aus dem ADE-Ordner zu öffnen.

Die Onleihe bedient sich proprietärer Technik, die funktioniert dann jahrelang nicht, und zwar nicht mit irgendwelcher Vintage-Software, sondern mit aktuellen Systemen. Es wird ein Downgrade auf eine Uralt-Version von ADE empfohlen, die schon längst nicht mehr gepflegt wird, der Downloadlink führt zu einer obskuren Drittplattform, nicht zum Hersteller Adobe, und dann wird zur Abhilfe dem Benutzer nahegelegt, bei diesen Firmen vorstellig zu werden.

Um es einmal sehr deutlich zu sagen: Meine Bibliotheken zahlen beträchtliche Beträge an die Divibib, die es über einen so langen Zeitraum hinweg nicht geschafft hat, ihre Ausleihe ordentlich auf dem Mac zum Laufen zu bringen, und ich würde schon erwarten, daß die Onleihe unter diesen Umständen bitte bei Adobe und Apple vorstellig wird, denn sie nutzt Adobes Software, zwingt mir deren DRM auf und zahlt für die Lizenzierung. Stattdessen zuckt man mit den Schultern und tut so, als wasche man seine Hände in Unschuld.

Wenn man ausweislich der FAQ zwei Betriebssystem-Versionen nacheinander – Yosemite kam im Oktober 2014 auf den Markt, El Capitan ein Jahr später – keine Lösung bereitstellt, sich aber nun schon zwei Jahre lang weiter für den Dienst bezahlen läßt, ist das schon bemerkenswert. Verwunderlich auch, daß unsere Bibliotheken das mitmachen.

Remote Access: Die Stadtbibliothek Darmstadt baut ab

Die Stadtbibliothek Darmstadt bietet KLG, KLfG und PressReader über Munzinger an; außerdem Genios, letzteres aber nur noch mit einer kleinen Auswahl an deutschsprachiger Presse; die Fachzeitschriften wurden vor einem halben Jahr schon fallengelassen, schrieb ich vor kurzem. Und stelle nun fest, daß die Süddeutsche Zeitung ziemlich leise aus dem Darmstädter Genios gestrichen worden ist. Dafür gibt es nun sehr viel Provinzpresse, also etwa die Osterländer Volkszeitung. Nichts gegen die Osterländer Volkszeitung, aber die Entwicklung ist doch enttäuschend. Es verbleiben für meine Interessen: Zeit, Spiegel, Frankfurter Rundschau, taz, NZZ und Der Standard. Nicht gerade wenig, aber es fing mal attraktiver an. Mit fehlt weiterhin die FAZ. Zumal der PressReader via Munzinger doch ziemlich umständlich zu bedienen ist, bei mir nur in Safari und Google Chrome funktioniert und offenbar auch keine Volltextsuche über alle Texte anbietet. Ebenso wie die E-Papers aus der Onleihe. Man muß sie einzeln herunterladen und kann nicht gezielt alle Beiträge zu einem bestimmten Thema ansehen. Sehr nachteilige Entwicklung für die Benutzer.

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