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Claudia Andujar: „Morgen darf nicht gestern sein“ im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

Eigentlich sollte Claudia Andujar die Yanomami Anfang der 1980er Jahre nur zur Durchführung einer Impfkampagne fotografieren. Die Indigenen starben an Krankheiten, die von Arbeitern eingeschleppt wurden, die aus dem Süden Brasiliens kamen: Grippe oder Masern. Weil Yanomami keine Namen tragen, sondern sich nur unter Rückgriff auf ihre Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnen, hängte man ihnen Schilder mit Nummern um, um sie wiederzuerkennen, damit ihre Behandlung dokumentiert werden konnte. Dabei entstanden dokumentarische Aufnahmen, die aber auch darüberhinaus einen künstlerischen Wert haben, weil Andujar für manche einen ganzen Film verbrauchte, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

Die Bilder wurden erstmals 2006 bei der Biennale von São Paolo ausgestellt. Sie sind seitdem als Marcados bekannt geworden – die Markierten. Man erfährt: Andujars (jüdische) Verwandte väterlicherseits waren in Konzentrationslagern ermordet worden. Sie floh mit ihrer (protestantischen) Mutter zunächst in die Schweiz, wo sie auch 1931 geboren worden war, dann weiter nach Nordamerika und kam erst in den 1950er Jahren nach Brasilien, wo sie seitdem lebt. Die durchnumerierten KZ-Opfer waren für sie die mit dem Tod Markierten. Die Yanomami wollte sie mit den Nummern, die sie ihnen gab, für das Leben, für das Überleben markieren.

Das ist ein berührendes Projekt, und man stellt sich natürlich die Frage, warum man erst jetzt davon erfährt. Claudia Andujar ist in Lateinamerika ziemlich bekannt, Berichte über sie findet man dementsprechend vorwiegend in spanischsprachigen, aber auch in französischen Medien, so etwa die Biografie bei Photophiles. Ein Gespräch, das die Kuratorin Carolin Köchling für den Katalog der Ausstellung im Frankfurter MMK geführt hat, erschließt den Kontext für den deutschsprachigen Raum. So mag es zwar die erste umfassende Werkschau in Europa sein, es ist aber nicht ihre erste Ausstellung hier, Paris (Fondation Cartier, 2013) und Genf (Musée d'ethnographie, 2016) gingen voraus, das MoMa schon in einer Gemeinschaftsausstellung 2010.

Thierry Chervel vom Perlentaucher hatte es beim Relaunch 2014 beklagt: Die Zeitungen blicken kaum noch über den nationalen Tellerrand hinaus. Es wird immer wichtiger, aktiv sich umzuschauen, um neue Anregungen zu finden. Die Echokammer, die die Presse konstruiert, wird immer kleiner, immer enger. Durch die zunehmende Kommerzialisierung wird das von den Blogs kaum aufgefangen. Aber die Museen können dazu ein wirksames Korrektiv bilden.

Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein. MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. Katalog im Kerber Verlag, 25 Euro, im Buchhandel 28 Euro. Ein Kurzführer ist für Besucher kostenlos. Bis 25. Juni 2017.

„In die dritte Dimension. Raumkonzepte auf Papier vom Bauhaus bis zur Gegenwart“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Die Beschäftigung mit der Leere zieht sich bei den Frankfurtern schon etwas länger hin. Schon in der Giacometti-Nauman-Ausstellung in der Schirn zur letzten Jahreswende tauchte Heidegger auf, der in seinem Essay Die Kunst und der Raum geschrieben hatte: Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel.

Diesen Faden nimmt das Städel Museum nun auf und zeigt in sieben Räumen wie dreizehn Künstler mit dem Raum umgegangen sind – vom Blatt zur Skulptur, vom Blatt als Skulptur oder vom Raum an sich.

Die abstrakten Werke beginnen beim Bauhaus mit El Lissitzky und László Moholy-Nagy und enden als Höhepunkt bei eben jenem Heidegger und Chillidas Collagen, die tatsächlich eine hohe Meisterschaft zu dem Thema zeigen. Wer zum Schluß den raunenden Vortrag des Meisterdenkers zu alledem hören möchte, kann sich den Kopfhörer aufsetzen und der alten Schallplatte rund zwanzig Minuten lang lauschen.

Heideggers Essay liefert die Vorlage für eine Meditation über die Differenz zwischen dem Raum im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinne und dem Raum in der Kunst. Der Raum ist immer ein wahrgenommener und damit auch ein konstruierter Raum, der als eine grundlegende Kategorie allem zugrundeliegt, was man denken kann. Die sparsamen Linienzüge, die Norbert Kricke auf Papier zeichnete, werden ohne weiteres als räumlich gesehen. Die dicken schwarzen Linien auf braunem Karton kreuzen sich nicht einfach nur, sie suggerieren Räumlichkeit, obwohl es dafür sonst keinen Anhalt gibt.

Das gilt auch für die Faltungen von Hermann Glöckner, der große Papierbögen mehrmals knickte und die Flächen, die dabei entstanden, mit Farbe gleichmäßig bestrich. Das Papier ist nicht ganz flach, es hat Vor- und Rückseite, es hat eine Dicke, es hat also schon auch eine dritte Dimension. Das Material wird ebenso zum Raum wie die Leere, die selbst ein Material und damit voller Leben ist.

Wer sich weiter mit dem Raum in der Kunst beschäftigen möchte, möge seinen Rundgang im Museum für Kommunikation fortsetzen, wo noch bis zum 23. Juli 2017 der Goldene Schnitt untersucht wird.

In die dritte Dimension. Raumkonzepte auf Papier vom Bauhaus bis zur Gegenwart. Städel Museum Frankfurt am Main. Kuratorin: Jenny Graser. Katalog im Museum: 9,90 Euro. Bis 14. Mai 2017.

„Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo“ im Städel Museum, Frankfurt am Main

Was soll man sagen? Eine Ausstellung, zunächst einmal durch die über sie berichtenden Medien betrachtet. Zu Anfang: Das Übliche in den Massenmedien, von denen man schon längst keine Überraschung mehr erwartet. Tenor: Geht hin! Dann die Rezensionen in den Feuilletons, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand wohl unter den Bedingungen des Marktes immer schwerer geworden ist. Am ehesten bei Katharina Cichosch in der taz ahnt man, wie sehr es wohl durcheinandergeht im Geschlechterkampf nach der Lesart des Städels. Die Blogger hielten sich ziemlich zurück, erst nach und nach liefen ein paar distanzierte bis eher kritische Beiträge ein.

Die Ausstellung polarisiert doch ziemlich. Zustimmung hörte man seltener nach dem Besuch. Konzipiert wurde sie im Nachgang zu einer Schau zur Schwarzen Romantik, die im strengen Winter 2012/13 an gleicher Stelle gezeigt wurde, und so gibt es denn nicht das Wahre, Schöne, Gute zu sehen, sondern einen ziemlich holprigen Querschnitt durch die Kunstgeschichte, den die beiden Kuratoren zum Thema der Geschlechterbeziehungen ausgewählt haben, anknüpfend an den Gender-Diskurs der letzten Jahre, bis hin zum #aufschrei und dem Gauckschen Tugendfuror.

Etwa 150 Werke – darunter geht es in den großen Ausstellungshäusern mittlerweile anscheinend nicht mehr –, davon 30 aus der eigenen Sammlung, werden im Städel gezeigt, und zwar buchstäblich beginnend bei Adam und Eva, zwölf Räume füllend, beginnend beim Symbolismus in der Mitte des neunzehnten, bis hin zum Surrealismus zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Räume, die man durchschreitet, folgen meist beziehungslos aufeinander. Viele Darstellungen schwanken zwischen Mord und Totschlag; so viele abgeschlagene Köpfe hat man selbst vom IS in den letzten Jahren nicht gezeigt bekommen. Und in vielen Fällen – nicht ausschließlich – sind es Bilder, die von Männern gemalt wurden und die mehr oder weniger bekleidete Frauen zeigen – einen Umstand, den die feministische Autorin Antje Schrupp auf ihrer Facebook-Seite dahingehend zusammenfaßte, die Ausstellung könnte genausogut heißen: „Wie Männer sich einen Geschlechterkampf fantasiert haben“, unter besonderer Berücksichtigung nackter Busen. Man dokumentiere hier aber nur die Kunstgeschichte und stelle sie der aktuellen Debatte gegenüber, hieß es immer wieder seitens der Kuratoren.

Aber braucht es dazu wirklich eine solche Ausstellung? Ist es nicht schon lange bekannt, daß die Kunstgeschichte eben vor allem ein Abbild der Sammlungen ist, in denen sich der jeweilige Zeitgeist spiegelt, mal mehr und mal weniger chauvinistisch, mal mehr, mal weniger aufgeklärt, und daß das meiste, was Frauen geschaffen haben, außen vor blieb und mithin der Fundus, auf den heute zurückgegriffen werden kann, notwendig von Männern stammt, von Männern ausgewählt wurde und daher vorwiegend aus männlicher Perspektive auf das Thema zugreift? Ist das – unbeschadet der Wirkung einzelner Werke, die für sich stehen können – im ganzen gesehen nicht genaugenommen trivial?

Zumal der Titel „Geschlechterkampf“ eine ziemlich grobe Verengung des Themas der Geschlechter und der Geschlechtlichkeit darstellt, das am Ende so viele Facetten hat. Haben könnte. Nicht nur destruktive, problematische, kriminelle bis pathologische, sondern eben auch Nährendes, Reifendes und Heilendes.

Und wäre es nicht die Aufgabe gewesen, diesen verzerrten Blick durch eine ausgewogenere Auswahl der Werke zu korrigieren – gegebenenfalls auch durch eine Beschränkung der Werkanzahl – und dabei auch den Begriff der Kunstgeschichte kritisch zurechtzurücken, die beileibe kein neutrales Abbild der Wirklichkeit ist, mit dem sich alles begründen ließe, sondern letztlich nur eine Konstruktion? So, wie ja auch heute immer noch das meiste, was kreativ entsteht, aus dem Kunstbetrieb herausgehalten wird durch diverse Zensur- und Auswahlverfahren, von den Aufnahmeprüfungen an den Kunsthochschulen über die künstlerischen Produktionsbedingungen bis hin zur Vermarktung einschließlich des Ausstellungsbetriebs.

Das Narrativ, unter dem die Schau steht, funktioniert nicht.

Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo. Bis 19. März 2017 im Städel Museum, Frankfurt am Main. Kuratoren: Felix Krämer und Felicity Korn. – Katalog (Prestel, München, vor Ort: 39,90 Euro), Begleitheft (7,50 Euro), Digitorial.

His theories still generate controversy

Die Library of Congress hat heute Dokumente aus dem Sigmund-Freud-Archiv erstmals online gestellt. Es handelt sich um 20.000 Dokumente aus dem Bestand des Archivs, die bei der LOC verwahrt werden – persönliche Papiere der Familie Freud, Briefe und Postkarten, Kalender und Notizbücher, aber auch die Manuskripte von Freuds Schriften, außerdem über hundert Interviews von Kurt R. Eissler, die zum ersten Mal veröffentlicht werden, schreibt Margaret McAleer im Blog der Bibliothek, während man auf deren Website die lakonische Einordnung liest: His theories still generate controversy. Die Digitalisierung wurde von der britischen Polonsky Foundation getragen.

Netzlese 2017-01-29

Geert Lovink kommt demnächst nach Frankfurt, kommenden Samstag, den 4. Februar, hält er bei der Langen Nacht der Sozialforschung im Rahmen der Frankfurter Positionen einen Vortrag im MMK1 zum Thema Das Selbst im digitalen Netz, neben räusper Mercedes Bunz, Kai Dröge und Olivier Voirol, Tanja Gojny, Olga Goriunova, Rembert Hüser, Eva Illouz, Julika Rudelius, Christina Schachtner sowie Uwe ­Vormbusch. Beginn ist um 19 Uhr, Eintritt frei. Zuletzt hatte Geert Lovink bei La Repubblica ein Interview über Social Media zu Zeiten von Trump gegeben. Das Museum zeichnet seine Vorträge üblicherweise auf und stellt sie auf YouTube, hoffentlich auch diesmal.

An dem Abend wird von Solisten des Ensemble Modern auch For Philip Guston von Morton Feldman aufgeführt. Dauer: Fünf Stunden.

Die documenta14 findet dieses Jahr statt, ab April in Athen, ab Juni dann in Kassel, jeweils hundert Tage lang. Sie landet nicht wie ein Raumschiff in Athen, bevor sie nach Kassel weiterzieht. Sie ist vielmehr eine gewollte Verfremdung von einer Stadt zur anderen und in allem, was bei diesem Projekt zwischen beiden hin- und hertreibt, heißt es auf der Website zur Kunstvermittlung der Ausstellung. Athen und Kassel? Die Regierungsübernahme durch SYRIZA in Griechenland war im Januar 2015, ist also nun auch schon wieder zwei Jahre her. Und Varoufakis Superstar, dieses Drama begann am 27. Januar 2015. Das Referendum, wonach er als Finanzminister zurücktrat, fand am 5. Juli 2015 statt. Er bleibt in Kontakt mit seiner zweiten Heimat Australien und gibt bisweilen Interviews im dortigen Rundfunk, in denen er die europäischen Verhältnisse erklärt, zuletzt vergangene Woche den Populismus in Europa.

Antje Schrupp hat dazu aufgerufen, im September zur Bundestagswahl zu gehen und dort, bitte, eine Partei zu wählen, die auch Aussichten darauf hat, ins Parlament einzuziehen. Wer kleinere Parteien wählt, stärkt den politischen Gegner, die Rechtsextremisten stehen bekanntlich wieder vor dem Berliner Reichstag, ganz ähnlich wie vor 84 Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD gerade mit einer etwas sonderbaren Begründung nicht verboten, und auch die anderen dürfen weitermachen. Antje kritisiert derweil die Rückwärtsgewandtheit der LINKEN, die weiterhin mehrheitlich auf eine Arbeits- und Vollbeschäftigungsgesellschaft und auf ganz viel Staat setzten. Christoph gegen das Grundeinkommen Butterwegge als Bundespräsidentenkandidat passe in dieses Bild. Stimmt. Aber wenn ich nur die Wahl habe zwischen denjenigen, die über fünf Prozent kommen, ist die Auswahl am Ende nicht mehr so groß.

Politisch getrieben ist auch Eric Bonse, der Brüsseler Europakorrespondent der taz, der immer noch leidenschaftlich gegen Martin Schulz anschreibt, der Linksblinker und Rechtsabbieger, der gerade von der ehemaligen Schröder-Truppe auf den Schild seiner Partei gehoben worden ist. Man hat rochiert – Außenminister wird BuPrä, Wirtschaftsminister wird Außenminister, ehemalige Justizministerin wird Wirtschaftsministerin – und die Massenmedien gehorchen aufs Wort und machen sofort ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Angela Merkel daraus. Klar, es würde einem nicht einmal auffallen, wenn Schulz Mitglied bei der CDU wäre. Daß die Leute hierzulande meinen, es sei nicht bekannt, welche Positionen er vertrete, zeigt nur, wie wenig Aufmerksamkeit man den Vorgängen auf der europäischen Ebene beimißt. Gut, es stand nicht alles in den Zeitungen. Aber alles war jahrelang in den europapolitischen Blogs zu verfolgen. Unter anderem bei lostineurope.eu. Siehe aber dort auch die dortige Blogroll. Schulz ist bei weitem kein unbeschriebenes Blatt.

A propos Europa. Zum Beispiel die Schweiz. Da gab es zu Anfang des Jahres eine Sendung des Schweizer Radios SRF2 Kultur zur Urheberrechtsreform, die dort demnächst ansteht. Zur Erinnerung: Die Reformen, die es bei uns gab, gingen allesamt auf EU-Recht zurück. Und was sind die Themen, die nun aktuell(!) in der Schweiz diskutiert werden? An der Spitze steht die Pirateriebekämpfung, also Raubkopien, die über Tauschbörsen verteilt werden. Gefolgt von der Bibliothekstantieme, die es in der Schweiz noch nicht gibt. Und schließlich: Bildrechte. Ja, wirklich, die Sendung wurde am 6. Januar 2017 veröffentlicht. Aber auf einen Blick über die Grenzen hinweg wird man in dem Programm ebenso vergeblich warten wie auf den Begriff der Freien Lizenz oder der Freien Inhalte.

Deshalb zum Schluß ein Link zum WikiMOOC, den Wikimédia France ab März bei fun-mooc.fr durchführt. Alles, was man als neuer Autor über Wikipedia wissen sollte. Leider nur auf Französisch, aber vielleicht demnächst auch auf Deutsch, wer weiß? Ich bin dran.

Entdeckung hinter dem Haus XV

Früher gab es bei uns in der Stadt drei Buchhandlungen und eine ganze Reihe weiterer Geschäfte, die ebenfalls ein kleines Angebot an Büchern vorhielten – meist waren es kleine Schreibwaren- oder Spielzeuggeschäfte. Eine Buchhandlung war auf der Hauptstraße gelegen. Es gibt sie noch heute, nach einem Umzug ist sie sogar etwas günstiger zu erreichen als damals. Eine der beiden Buchhandlungen im Einkaufszentrum schloß vor langer Zeit schon. „Wenn ich wieder eröffne, schreie ich“, schrieb der Buchhändler damals auf einen Karton, den er zum Abschied hinter die Fensterscheibe geklebt hatte. Die andere Buchhandlung wechselte den Besitzer. Erst wurde die Kette moderner ausgestattet, man ging in die Fläche, vergrößerte das Angebot. Dann wurde der Laden übernommen von einem noch größeren Händler. Dann von einem noch viel größeren, der später aber ebenfalls in eine Krise kam, die mittlerweile überwunden scheint. Dann wurde das Einkaufszentrum umgebaut; der Laden zog damals in einen anderen Teil des Zentrums, später wechselte wieder der Name des Geschäfts.

Ich kam schon längere Zeit nicht mehr dort vorbei. Aber heute nachmittag mal wieder. Und, siehe da, der Laden war erneut umgezogen, diesmal hatte man sich verkleinert, gleich nebenan zu finden, ungefähr ein viertel des bisherigen Sortiments und der dazu erforderlichen Fläche. So klein wie noch nie. Die Aufteilung des Angebots: Am Eingang die Spiegel-Bestsellerliste und ein Tisch mit billigen Mängelexemplaren, dann ging es weiter mit „Spannung“, Kinderbüchern, Kochen und Lebensberatung, Sachbuch, in der Mitte ein paar CDs mit Hörbüchern und ein paar Geschenkartikel, die mit Büchern überhaupt nichts zu tun haben. Auf ein paar Sesseln saßen ein paar Leute, die etwas lustlos in Bildbänden blätterten. Nebenan quengelte ein Kind an der Hand seiner Oma. Ich fand nichts, was auf mein Interesse gestoßen wäre, und verließ das Geschäft wieder. Beim Hinausgehen fällt mein Blick am Eingang seitlich auf ein Schild mit dem Hinweis, „im Internet“ gebe es noch viel mehr Bücher zu kaufen, und zwar rund um die Uhr und unter derselben Marke, mit der nun auch dieser Laden versehen ist. Wehwehweh.

Das Kunstwerk in Zeiten des Internets

Michael Schmalenstroer berichtet über die große Hieronymus-Bosch-Ausstellung, die derzeit noch im Noordbrabants Museum im niederländischen ’s-Hertogenbosch stattfindet, danach wird sie im Prado zu sehen sein. Das Problem: … die Ausstellung … ist … voll. Gerappelt voll. Gedrängelt voll. Genauer gesagt ist sie leider zu voll. Das kleine Provinzmuseum, das sie ausrichtet, wird überrannt von Besuchern. Und so zählt Schmalenstroer auf, wo man die Werke stattdessen online betrachten kann. Siehe da: Die Wikimedia Commons haben den Heuwagen in einer Auflösung von 9843×6475 Pixeln und im Vergleich stellt man fest, dass die digitale Version mehr Details erkennen lässt als das Original. Und er resümiert die Rolle des Web angesichts solcher Kunstevents: … das Internet, dieses Netzwerk, das eigentlich dazu gedacht ist, dass Menschen miteinander kommunizieren, bietet hier einen Ausweg: Denn es bietet genau das, was wir beim Museumsbesuch wünschen. Privaten, individuellen Zugang zu den Werken, ungestört von anderen Besuchern und mit weiterführenden Informationen nur einen Klick entfernt. Und trotzdem ist es leider irgendwie etwas anderes, nach Nordbrabant zu fahren, Boschs Werke als Original zu sehen und dann die wirklich sehr schöne Stadt zu erkunden. Der Fetisch des Originals, es gibt ihn einfach.

„Das imaginäre Museum“ im MMK Frankfurt am Main

Während die türkische Zeitung Zaman vom staatlichen Zensor fortgeführt wird, denkt man bei ResearchBuzz darüber nach, Second-Level-Archive, etwa über das Internet Archive, aufzubauen. Wobei das Internet Archive selbstverständlich rechtswidrig verfährt, weil es sich um das Urheberrecht an den Inhalten, die es automatisiert einsammelt, speichert und dann zeitlich unbefristet zum Abruf bereithält, überhaupt nicht schert (via digithek, via Archivalia).

Gleichwohl ist die Frage zu stellen, wie staatlich oder sonst unerwünschte Kritik gegen ein solches Vorgehen und gegen das Verschwinden aus der Öffentlichkeit verteidigt und erhalten werden könnte. Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst spielt ein ähnliches Szenario in einer Ausstellung durch, die am 24. März 2016 eröffnet wird: Das imaginäre Museum spinnt Ray Bradburys Fahrenheit 451 weiter – nicht, wie dort, die Literatur, sondern, hier, die Kunst ist von der Auslöschung bedroht. Angelehnt an das Musée imaginaire von André Malraux, sollen sich die Besucher die ausgestellten Kunstwerke einprägen, um sie auch nach ihrem Verschwinden lebendig zu erhalten. Zum Schluß der Schau soll es Gelegenheit geben, die Ausstellungsräume noch einmal leer zu begehen, um diesen Effekt wirklich zu erfahren.

Passend dazu ist, daß das CMS der Museums-Website leider so dilettantisch konfiguriert wurde, daß es keine Permalinks auf die dortigen Seiten gibt. Deshalb kann man die Vorinformation über die Ausstellung schon heute nicht verlinken, so daß ich auf die Presseinfo ausweiche.

„Das imaginäre Museum. Werke aus dem Centre Pompidou, der Tate und dem MMK“ im Museum für Moderne Kunst, MMK2, Frankfurt am Main, 24. März bis 4. September 2016.

Verdienstvoll

Der Schriftsteller und Konkret-Autor Michael Scharang hat die Verleihung des „Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien“ abgelehnt: „Von Kindheit an habe ich als ungerecht empfunden, dass körperliche Arbeit weniger geschätzt wird als geistige. Für mich ist eine gute Straßenbeleuchtung ebenso wertvoll wie ein guter literarischer Text.“ Das berichtet die Zeitung Die Presse, gestützt auf die Nachrichtenagentur APA (via Volltext).

Ein bißchen Jazz

Auf Max Scharniggs Reflexion Über das Ende der Plattensammlung hatte ich schon hingewiesen. Klagefall hat den Beitrag gerade noch einmal aus seiner Sicht aufgegriffen. Er bleibt bei der Audio-CD, befürchtet aber, daß sie eines Tages verschwinden könnte, weil sie einfach keine CD-Player mehr herstellen, wie ja auch die Kurzwelle, die Langwelle und die Mittelwelle in den letzten Jahren einfach eingestellt worden sind – übrigens ohne daß sie von DAB+ ersetzt worden wären, jedenfalls nicht in der Breite. Und jetzt diskutieren sie über die Abschaffung von Bargeld. Obwohl ein Staat, der den Bürgern sein Geld nimmt, sich selbst in einem sehr wesentlichen Sinne entbehrlich machen würde. Die Ausweichbewegungen sind absehbar. Und die vorgeschobenen Begründungen sind fadenscheinig und genauso abwegig wie anderswo auch, wo der Leviathan als Überwacher auftritt. Es trifft niemals die Straftäter, sondern unterwirft alle Bürger einem Generalverdacht, Straftäter zu sein, nur weil man von einer verfassungsmäßig verbürgten Freiheit Gebrauch macht.

Aber zurück zur Musik. Wie war das eigentlich damals bei mir? Eigene Schallplatten hatte ich nur wenige. Meine Eltern hatte einige, ich habe sie bei der vorletzten Wohnungsräumung entsorgt, samt der Stereoanlage von Dual aus den 1970er Jahren. Meine Musik kam immer aus dem Radio, seit Anfang der 1980er Jahre auch in Stereo, natürlich hörten wir damals SWF3, und die Musik wurde auf Kassette aufgenommen. Dann kam der Walkman, natürlich ein Sony DD II. Man hörte immer und überall. Und nach dem Abitur kaufte ich mir einen schönen CD-Spieler von Sony, aber nicht mit einer umfangreichen Anlage, sondern mit einem elektrostatischen Kopfhörer von Stax, einem Lamda Pro. Mit dieser Kette hörte ich solange, bis der Player kaputtging. Dann kam das Internet, dann kam die Internet-Flatrate zusammen mit DSL. Und dann kamen Apple, iTunes und iPod, und die Musik kam nicht nur von den CDs, sondern auch aus dem Internet. Podcasts sorgten für zeitversetztes Hören von Sendungen aus Kultur- und Nachrichtenkanälen. Das erste, was ich mit meinem weißen MacBook tat, war Radio übers Netz hören – hätte ich vorher nicht gedacht. Und man konnte auch wieder Radio aufnehmen, alles digital diesmal. So kam das Mixtape wieder zu Ehren, diesmal als Playlist im iPod, aber gleichzeitig wandte ich mich von den Produkten der Audio-Industrie immer mehr der Musik unter freier Lizenz zu. Die Webmusikportale nutze ich heute regelmäßig, und ich habe eine kleine Sammlung an CC-lizenzierter Musik, die auch den jüngsten Umzug von einem Rechner auf den nächsten mitgemacht hat. Sie ist gleichwertig neben die kommerziellen Angebote getreten.

Aber meine CD-Sammlung – Schwerpunkte: Klassik, ein bißchen Jazz von Miles Davis, Nina Simone, Ella Fitzgerald, Keith Jarrett, Paolo Conte und Michel Petrucciani, Popmusik der 1970er und 1980er Jahre – habe ich behalten. Auch mein neuer Laptop hat wieder ein optisches Laufwerk. Ich habe die CDs nicht in mp3 konvertiert oder sonst auf eine Festplatte gepackt, sondern sie stehen immer noch im Schrank. Und als Face Value einmal herunterfiel und dabei kaputtging, ersetzte ich sie natürlich sofort. Neukäufe hat es seitdem zwar nur noch selten gegeben, vor allem ältere Jazz-Aufnahmen, aber auch meine High-End-Zeit ist endgültig vorbei. Zuletzt kaufte ich etwas Schubert, hervorragend erhaltene CDs vom Flohmarkt. Wenn sich etwas verändert hat, dann wäre es, daß Musik heute nicht mehr knapp ist. 30 DM für eine Klassik-CD zu verlangen, wäre heutzutage sehr begründungsbedürftig. Aber Streaming ist kein Ersatz für die CD, denn die spiele ich nur hier in diesem Zimmer, und nur ich weiß, was gerade in meinem Player läuft; das ist so ähnlich wie beim Bargeld, das wird auch nicht verschwinden. Nur den iPod könnte es demnächst erwischen, er verschwand schon vor einem Jahr aus der Navigationsleiste der Apple-Website. Ich mag keine Kombigeräte, egal wie. Vielleicht sollte ich mir noch einen iPod kaufen, solange es ihn noch gibt.

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