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Sonntag, 14. Mai 2017

Der konservative Reflex IX

Der Rechtsruck, der Ende März bei den Wahlen begonnen hatte, setzt sich fort. Die Wähleranteile sortieren sich etwas um, von rechtsaußen nach rechtsmitte. Aber im ganzen rechts. Und auf der linken Seite geht es von linksmitte nach linksaußen. Die Massenmedien machen daraus ein Opfer-Narrativ: Es habe nicht geklappt, sie verlören wieder nach einem steilen Anstieg zum Jahresanfang. Aber es läuft doch wohl alles so ziemlich nach Plan.

Update, 15. Mai 2017: Horst Kahrs und Benjamin-Immanuel Hoff schreiben in ihrem Wahlnachbericht für die Rosa-Luxemburg-Stiftung u.a.:

Auch ein im Vorfeld der Wahlkampfendphase diskutiertes rot-rot-grünes Bündnis verfehlte deutlich eine rechnerische Mehrheit. SPD, Grüne und Linke erhielten zusammen nur noch 42,5% der gültigen Stimmen nach 53% in 2012 und 52,2% in 2010. Die »kleine Bundestagswahl« bestätigt die bereits nach der Bundestagswahl 2013 hier vertretene Ansicht, dass es im Bundestag nur eine eher zufällige rechnerische Mehrheit links von der Union gibt, die sich allein dem knappen Scheitern von FDP und AfD verdankt, aber nicht durch politische Zustimmung in der Gesellschaft gedeckt ist. 2012 wählten 60,8% der Bürgerinnen und Bür- ger in Nordrhein-Westfalen Parteien, die sich links von der Union positionierten. Aktuell schrumpfte dieser Teil auf nur noch 43,5%. Von den riesigen Verlusten von SPD, Grünen und Piraten – 1,27 Mio. Zweitstimmen - kamen nur 17,4% als Zuwachs bei der Linkspartei an.

Der Trend geht nach rechts.

Europas fatale Abhängigkeit von Microsoft

Investigate Europe ist ein journalistisches Netzwerk, das von der Hans Böckler Stiftung, Fritt Ord, der Rudolf-Augstein-Stiftung und der Open Society Initiative for Europe finanziert wird und, wie der Name schon sagt, investigativ arbeitet. Mitarbeiter ist unter anderem Harald Schumann, der 1996 zusammen mit Hans-Peter Martin Die Globalisierungsfalle veröffentlicht hatte.

Der jüngste Beitrag der Gruppe droht derzeit etwas unterzugehen, deshalb sei auf ihn hingewiesen. Investigate Europe hat sich mit der Abhängigkeit der europäischen öffentlichen Verwaltungen von Microsoft beschäftigt. Die deutsche Fassung des Beitrags ist beim Tagesspiegel erschienen. Das Thema ist besonders aktuell angesichts der WannaCry-Attacke an diesem Wochenende (via TNW via Martin Steiger).

  • Schumann, Harald und Elisa Simantke. 2017. Europas fatale Abhängigkeit von Microsoft. Tagesspiegel. 13. Mai. www.tagesspiegel.de (zugegriffen: 14. Mai 2017).

OER, oder: Wenn man mitten im Wald ist

Die Bildungsbloggerin Lisa Rosa hat im Gespräch mit Tim Pritlove (via Felix Schaumburg) ein paar wahre Worte zu OER gesagt:

…Und natürlich muss auf der gesetzlichen Ebene eine ganze Menge geregelt werden wegen des Urheberrechts … Aber ich glaube, dass man das auch nicht überschätzen darf, weil … das Lernen im digitalen Zeitalter nichts mehr mit Lehrbuch zu tun hat. Viele Sachen … lernt man vernetzt. Die lernt man nicht, weil man ein Buch durcharbeitet … ein Lehrbuch diskutiert keine Probleme. Ein Lehrbuch macht lehrbuchartig oder in Lektionen aufbereitet sogenanntes Grundwissen. Diese freien educational resources, dieser Kampf dafür ist ja vor allen Dingen in den Ländern, wo die Lehrbücher sündhaft teuer verkauft werden, wie in den USA … es geht vor allen Dingen um den freien Zugang zu Wissen und zu Informationen und den habe ich in meinen Fächern immer gehabt … alles, was ich naturwissenschaftlich wissen will, finde ich im Netz. Alles … das Problem an diesen educational resources ist, dass sie didaktisch aufbereitete Materialien suchen und betreffen. Und ich bin kein Freund mehr von diesen didaktischen Aufbereitungen, die nicht von Lernenden selber gemacht wurden.

Damit berührt sie schon den Kern des Problems rund um OER. Es gibt kaum didaktisch aufbereitetes Material, das unter einer freien Lizenz veröffentlicht worden ist, auf Deutsch schon gar nicht. Wenige Leuchtturmprojekte sind entstanden (das ZUM-Wiki, das ab dem Sommer – vorläufig? – geschlossen und renoviert wird; SEGU Geschichte; rpi-virtuell und Serlo). Aber auf die hat eigentlich keiner hierzulande gewartet, denn das liberale deutsche Urheberrecht steht einer Verwendung proprietärer Materialien für Unterrichtszwecke nicht wirklich im Weg. Lehrbücher sind in ausreichender Zahl vorhanden. Und das Material, das an den Schulen und Hochschulen erstellt wird, ist aus urheberrechtlicher Sicht den Autoren zugewiesen, nicht den Einrichtungen, an denen sie es erarbeitet haben. Das ist ein weiterer wichtiger urheberrechtlicher Unterschied zur angelsächsischen Welt.

Das OER-Argument zu Kosten und Verfügbarkeit von didaktischen Materialien ist also auf den angelsächsischen Raum zugeschnitten. Und OER scheitern gerade, wo es keine ausreichenden digitalen Kanäle gibt, also ausgerechnet dort, wo das Material am dringendsten gebraucht würde, nämlich in den armen Ländern, wo das Internet kaum den Zugang zu Bildungsinhalten eröffnet, sondern wo es weiterhin teuer ist und wo Google und Facebook mit ihren Zero-Programmen bestimmen, was die Leute vor Ort auf ihren Handies für das Netz halten dürfen.

Und während sich eine mittlerweile schon deutlich in die Jahre gekommene Szene immer noch am Erstellen und Auffinden von OER abarbeitet, ist die Didaktik hierzulande schon ganz woanders:

…Das ist nach traditionellen Schulvorstellungen zugerichtetes Material, didaktisch zugerichtet. Das ist nicht, was meiner Vorstellung entspricht, wie das Lernen im 21. Jahrhundert aussieht. Aber vielleicht müssen wir diese Stufe haben, das weiß ich nicht. Das kann ich nicht beurteilen. Aber es ist nicht meine Vision von dem, wie es eigentlich geht und das hat mit meinem eigenen Unterricht auch nichts zu tun…

…Wenn wir ihnen die Sachen aus dem Netz rausschneiden und sagen, nimm das, das ist gut, alles andere lass weg, geh nicht selber ins Netz, ich gebe dir was du brauchst, das ist die Ressource, mit der du arbeitest, dann können sie es ja nicht lernen. Weil, dann bin ich als Autorität davor, der ihnen die Sachen schon vorsortiert hat. Was ich aber gemacht habe in meinen beiden großen Projekterprobungen mit einem Lehrer an der Stadtteilschule hier, ist, dass wir ein Weblog eingerichtet haben, jeweils. Einmal für das Thema Migration-Integration und beim zweiten Mal, Jahre später, für das Thema Postwachstum … Weblogs …, in denen unglaublich viel Material zu allen möglichen Fragen liegt. Und dann haben wir mit den Schülern projektartig die Fragen entwickelt. Das heißt wir haben sie begleitet dabei, wenn sie ihre Fragen entwickelt haben, nachdem wir einmal anfänglich einen Start gemacht haben, wo sie mit den Problemen konfrontiert wurden, und dann haben die Schüler in diesen Weblog … unglaublich viel Material gefunden … Was wir natürlich gemacht haben, ist, dass wir kein Blödsinnsmaterial da reingestellt haben. Das wäre ja echt absichtliche Irreführung, das gehört sich nicht. Sondern wir haben unterschiedlichste Materialien, auch von unterschiedlichstem Schwierigkeitsgrad und unterschiedlichen Fragestellungen, auch von unterschiedlichen Dokumentensorten, also auch Videos und Bilder und nicht nur Texte, da reingestellt, die sowieso frei im Netz waren.

Und dann wurde der kompetente Umgang mit diesem Material eingeübt und auf dieser Grundlage weiter gearbeitet.

Fazit: Der Zug fährt schon längst in eine andere Richtung. Freie Lizenzen und Wikis, die bisher in der OER-Szene zentral standen, interessieren nicht mehr. Diese Diskurse waren wahrscheinlich nur eine notwendige Passage. Kollaborativ wird in Netzwerken mit mobilen Clients gearbeitet. Und der Schwerpunkt liegt nicht auf der Plattform oder auf der Rechtsform, sondern auf dem Ergebnis. Der Weg dorthin führt über die didaktische Kompetenz des Lehrers und die Herstellung von flachen pädagogischen Netzwerken. Man bedient sich ad hoc aus dem Netz. Und das ist ein langer Weg, der noch lange nicht vorbei ist.

…Wir sind mittendrin. Ich weiß nicht, was für einen Revolutionsbegriff du hast, aber weißt du wie lange die industrielle Revolution gedauert hat? Oder die Zeit zwischen der Erfindung des Buchdrucks 1400-Schieß-mich-tot von Gutenberg über die Reformation, über die Akkumulation des Kapitals, über die industrielle Revolution bis zum ausgereiften Kapitalismus, mehrere hundert Jahre. Das ist die Revolution. Die Revolution ist nicht der Sturm aufs Winterpalais. Das gibt es auch als Revolutionsbegriff, natürlich, der in einer Stunde stattfindet. Wir sind mitten in dieser Transformation drin, nur sind wir halt mitten im Wald. Und weißt, wenn man mitten im Wald ist, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht…

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