Die Diskussion um Fake News geht leider weitgehend am Thema vorbei. Anstatt sich zu fragen, ob und in welchem Umfang es solche Meldungen gegeben hatte oder noch gibt und welche Folgen sie gehabt haben könnten, sollte man sich eher die Frage vorlegen, warum sie überhaupt beachtet werden? Ausgangspunkt ist ihr Ort: Wie kommt es, daß Menschen meinen, auf Sozialen Netzwerken finde man noch mehr vor, außer heißer Luft und einer Gelegenheit, seine guten Daten abgeben zu dürfen? Daß man dort auch noch irgendetwas erfahren könne, etwas Neues und Richtiges noch dazu. Das ist eine wirklich drollige und insgesamt so abwegige Vorstellung, daß man schon daraus ersehen kann, daß die Ideen darüber, woher man sich informieren könne, völlig durcheinander gekommen sind. Das gleiche gilt für Suchmaschinen, die ebenso wie Soziale Netzwerke, Werbeplattformen sind und also auf Desinformation zugeschnitten wurden. Sie sind sozusagen der Fake an sich. Das gleiche gilt natürlich auch für die „Online-Ausgaben der Zeitungen“, die ihre Meldungen ganz anders anordnen als in der Print-Ausgabe, was sich ebenfalls nachteilig auf die Qualität auswirkt. Und überhaupt: Zeitungsenten gabs eigentlich schon immer.
Trotzdem hat das Nachdenken eingesetzt. Auf der anderen Seite des Informationsspektrums, sozusagen. Ein schönes Beispiel dafür ist der Tagungsbericht Der Intellektuelle in postfaktischen Zeiten – Das „Denk-Festival“ in Weimar, der am 1. Dezember 2016 im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde. Zwei Zitate:
Wer behält den Durchblick mit welchen Argumenten?
Wir haben doch einen Zerfall von Öffentlichkeit in User-Gemeinden. Wir kennen die Subjektivierung der Wahrheit, die Reduktion der Wahrnehmung auf das Passende. Und da spielen wir – gemeint sind Intellektuelle – einfach eine geringere Rolle, wir sehen das doch auch empirisch: Wo ist unser Platz geblieben, den wir noch vor zehn Jahren in der „Zeit“ gehabt hätten? Es sind nur noch wenige Presseorgane, in denen wir überhaupt noch mit unseren Auffassungen zur Geltung kommen können. Ich glaube, daß am Ende unserer Zukunfts-, unserer Fortschritts-, unserer Emanzipationserzählung es nicht mehr die Intellektuellen sind, sondern, um es brutal zu sagen, die Social Bots, also die Beeinflussungsalgorithmen, die ganz anderswo diskutiert werden als in dem, was wir aufrufen, wenn wir von Voltaire bis Gramsci sprechen.
Aber auch das ist nicht wirklich neu, sondern genaugenommen nur eine weitere Spielart der Dialektik der Aufklärung reloaded. Es ist der alte Konflikt zwischen Vernunft und Kulturindustrie, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der alte Presseausweis ist wieder da. Der Deutsche Presserat und die Innenministerkonferenz (IMK) haben sich darauf geeinigt, die Vergabe der Presseausweise wieder zu reglementieren. Eine ständige Kommission, die zu gleichen Teilen mit Vertretern des Presserats und der IMK besetzt sei, werde darüber entscheiden, welche Berufsverbände den neuen bundeseinheitlichen Ausweis vergeben dürften.
Die Kriterien für die Anerkennung eines Verbands, sozusagen „würdig“ zu sein, den Presseausweis zu erteilen, sind noch nicht bekannt geworden. Aber wenn es ein einheitlicher Ausweis sein soll, wird es mit der Vielfalt bei den Vergabekriterien dann wohl vorbei sein.
Die Kritiker nehmen die Richtung des Prozesses dementsprechend vorweg und mutmaßen, für nebenberufliche Journalisten und Blogger solle es wohl schwerer gemacht werden, einen Ausweis zu erhalten.
Ein Backlash also, wo anderenorts die Blogger Relations blühen. Ein weiteres analoges Rückzugsgefecht, das versucht, das Publizieren und die Angehörigkeit zu den Publizisten wieder exklusiv zu machen, was aber nicht gelingen kann, denn das ist es schon lange nicht mehr.
Folglich wird der neue Presseausweis durch so einen Kurswechsel nicht an Wert gewinnen, sondern, im Gegenteil, an Wert verlieren. In einer Welt ohne Gatekeeper ist am Ende nicht der Ausweis der Nachweis der publizistischen Tätigkeit, sondern das Blog, das Social-Media-Profil oder allgemein: die dementsprechende authentische Aktivität im Netz. Das sogenannte Soziale, für jeden unmittelbar nachvollziehbar, was schreibt er denn, ersetzt einen externen Beleg endgültig. Der Versuch, den Kontrollverlust wett zu machen und die entglittene Deutungshoheit zurück zu gewinnen, wird fehl laufen – wenn es so kommen sollte.
Le Monde erzählt heute (leider nur für Abonnenten bzw. in der gedruckten Ausgabe vom 1. Dezember 2016 auf Seite 2) von der 89-jährigen Gertrude aus Wien, die in einem Video zur Wahl Van der Bellens bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl am kommenden Sonntag aufruft, weil sie die FPÖ aus vielen Gründen als nicht vertrauenswürdig durchschaut hat. Sie versuche, das Niedrigste aus den Leuten herausholen, nicht das Anständige … und das war schon einmal der Fall. Der Appell, der an die Intervention Empört Euch! erinnert, mit der der 93-jährige Stéphane Hessel 2010 zu mehr politischem Engagement aufgerufen hatte, sei auf mehreren Kanälen über drei Millionen mal abgerufen worden. Ursprünglich wurde er von der Kampagne Van der Bellens auf Facebook veröffentlicht. Im Abspann heißt es, Gertrude sei im Alter von 16 Jahren mit ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Brüdern nach Auschwitz deportiert worden; sie habe als einzige überlebt. Sie sagt, es sei wahrscheinlich die letzte Wahl, an der sie teilnehmen könne.
Im Deutschlandfunk wies die Chefredakteurin des Standard Alexandra Föderl-Schmid auf die psychologischen Tricks der FPÖ-Politiker hin, die sich bei ihren Auftritten Verfahren aus dem Neuro-Linguistischen Programmieren (NLP) bedienten. Für österreichische Verhältnisse sei dieser Wahlkampf extrem schmutzig gewesen, sagte sie. Er habe Spuren hinterlassen.
Solchen Leuten muß man entgegentreten. Man muß zeigen, daß man sich gegen sie wendet. Und man muß sich dazu auch zusammentun. Christoph Kappes ruft in seinem Blog Gleichgesinnte zu einem Projekt Schmalbart auf, das sich der angekündigten deutschen Ausgabe des rechtsgerichteten Online-Magazins Breitbart entgegenstellen will. Er schreibt: Mein persönlicher Eindruck ist, dass es an Zivilcourage in der bürgerlichen Mitte fehlt – und zwar genau deswegen, weil man in der „Mitte“ eine Normalität von Gesellschaft empfindet, ohne ihre Fragilität zu sehen, und man seit Nine-Eleven und der Finanzkrise das ständige Mitlaufen einer Krise spürt und aus Angst lieber wegschaut.
Das Gesetzgebungsverfahren für ein neues Urhebervertragsrecht ist vertagt worden, es wird also dieses Jahr nicht mehr abgeschlossen.
Der VGH Baden-Württemberg hat beschlossen, daß der Bürger keinen Anspruch auf Einsicht in die Fachliteratur hat, die in einer Gerichtsbibliothek vorhanden ist. Der Kläger hatte Prozeßkostenhilfe für eine dementsprechende Feststellungsklage begehrt, weil er einen juristischen Kommentar zum Verwaltungsvollstreckungsgesetz in der Bibliothek des Verwaltungsgerichts einsehen wollte. Der Sachverhalt trägt durchweg skurrile Züge: Ein Schriftsatz verschwand spurlos, so daß die Beschwerdefrist verstrich. Eine Abschrift wollte der Kläger aber nicht vorlegen, weil er „Verwechselungsgefahr“ befürchtete. Dann hatte er zwei Richter des erkennenden Senats – erfolglos, natürlich – wegen Befangenheit abgelehnt. Am Ende wird es slapstickhaft, denn der VGH versagt ihm den Zugang zur Gerichtsbibliothek ausgerechnet unter Rückgriff auf das Landesinformationsfreiheitsgesetz Baden-Württemberg, weil juristische Literatur, die im Buchhandel käuflich ist, keine amtliche Informationen seien, zu denen man auf diesem Wege Zugang erlangen könnte. Das ist zwar an sich richtig, das Urteil ist aber vor allem ein Musterbeispiel für den Umgang der Justiz und der Verwaltung mit vermeintlichen Querulanten geworden. Die Urteilsbegründung ist selbst ein Beispiel für ein über das Ziel hinausschießenden Staat, der die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr wahrt. Richtig daher – wenn auch wiederum sprachlich unangemessen – die Anmerkung bei Archivalia: Unzählige Gerichtsbibliotheken sind ohne weiteres für die Öffentlichkeit zugänglich, ohne dass der Geschäftsbetrieb gestört wird. … Was vom Bürger bezahlt wird, muss ihm auch zur Verfügung stehen. (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Oktober 2016 – 1 S 1122/16, JurPC Web-Dok. 173/2016).
Der SPD-Wahlkampfberater Frank Stauss hat in seinem Blog die Narrative dekonstruiert, mit denen hierzulande versucht worden ist, den Wahlsieg Donald Trumps zu verarbeiten. Er macht schon seit Monaten auf allen möglichen Kanälen Stimmung für seinen Auftraggeber. Anscheinend auch auf Wikipedia: Sein Wikipedia-Artikel hat 2013 ein Benutzer angelegt, der so heißt wie seine Werbefirma: Butter pr. Er ist bis heute kaum geändert worden. Aber sei's drum – Stauss argumentiert: Nicht Trump habe die Wahl gewonnen, sondern Clinton habe sie verloren, und zwar weil sie die Rainbow-Coalition nicht ausreichend habe mobilisieren können. Das Konzept für Frauen, LGBT, Latinos, African Americans… habe am Ende nicht ausgereicht; es wäre möglich gewesen, diese Wählerschaft für die Demokraten zu gewinnen, aber nicht für die Clintons. – Stammt denn das Rätselspiel um den Spitzenkandidaten der 20-Prozent-Partei, das derzeit in den Nachrichten zelebriert wird, auch von Stauss? Wirklich kritisch wäre es gewesen darüber nachzudenken, wieviele Prozent der Wähler an dem Spektakel in Übersee überhaupt teilgenommen hatten.
Jens Milker greift in einem Beitrag auf JuWiss die Frage auf, ob der Betrieb von Social Bots in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit falle. Die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Verfassungsdokmatik hatte schon Adrian Lobe in der Zeit beschrieben: Die Meinungsäußerungsfreiheit im amerikanischen Verfassungsrecht gehe so weit, daß es nicht auf den Grundrechtsträger ankomme – der Programmierer? der Betreiber? der von den Äußerungen des Bots Begünstigte? oder derjenige, der wirtschaftlich von dem Bot profitiert? –, sondern auf die Meinungsäußerung selbst abzustellen sei. Auch Maschinen käme demnach freedom of speech zu. Das ist auch in den USA nicht unbestritten, hierzulande würde man es erst recht nicht so ohne weiteres annehmen, und Milker referiert infolgedessen das bekannte Inventar des Staatsrechts zum Wettbewerb der politischen Parteien und zu Meinungsäußerungen im Wahlkampf – lesenswert, so knapp gefaßt wird man es kaum woanders finden. Mit dem Argument, das ist nicht von uns, das macht der Algorithmus!, war Google schon in der Autocomplete-Entscheidung des Bundesgerichtshofs 2013 gescheitert. Ärgerlich ist, daß Milker kritiklos bleibt, wo es heißt, Täuschungen und Lügen kann man mit Mitteln einer Gegendarstellung im Meinungskampf entgegentreten. Das ist ja gerade die Frage, ob man unter den Bedingungen der in jeder Hinsicht entgrenzten digitalen Öffentlichkeit so etwas noch kann, wenn Wahlkampf von – ggf. im Ausland sitzenden – Trolls und Hackern auf Facebook und Twitter geführt wird, für den normalen Bürger nicht mehr nachvollziehbar, der von seiner Plattform gewöhnt ist, die Filterblase seines Vertrauens vorgespiegelt zu bekommen. Wo soll hier eine Gegendarstellung erfolgen? Sie ist in der Filterblasen-Technik der sozialen Medien ja gerade nicht mehr vorgesehen. Das wäre demnach eine der ersten Vorkehrungen, die der Gesetzgeber sicherstellen müßte, um den Wettbewerb der politischen Meinungen im Wahlkampf sicherzustellen: Einen Gegendarstellungsanspruch, eine widersprechende und korrigierende Nachricht, die an alle ausgeliefert wird, die die monierte Botschaft vorher erhalten hatten. Also das Aushebeln des Geschäftsmodells dieser Plattformen: Daß es keinen Widerspruch mehr geben soll. Unvollstreckbar in den USA, weil das angesichts der Meinungsäußerungsfreiheit gegen die ordre public verstoßen würde. Obwohl das Ende des Widerspruchs gerade der Ausschluß jeglicher Diskussion ist, der sich selbst auf die Meinungsfreiheit berufen sollte? Die Entgrenzung, die mit den amerikanischen Plattformen Wikipedia und Google begonnen hatte, ist 2016 auch in Deutschland bis in den demokratischen Prozeß vorgedrungen. Der Geist ist aus der Flasche. Der Wettbewerb setzt aber aus technischer Sicht vor allem voraus, daß Meinungsäußerungen überhaupt noch transportiert werden und an den Rezipienten gelangen können. Wahrscheinlich kann bis auf weiteres keine Seite auf den Einsatz von Social Bots verzichten, um eine gewisse Waffengleichheit im Wettbewerb herbeizuführen – auch wenn es sich um eine in jeder Hinsicht regelwidrige und unfaire Technik handelt. Und das wird Rückwirkungen auf das Recht haben. Code is law.
Die Internetangebote der Presseverlage haben eine neue Runde eingeläutet: Sie beginnen damit, sehr viel mehr zu nerven als bisher. Die Website der Süddeutschen Zeitung (mit immerhin 25 eingebundenen Tracking-Diensten) läßt sich seit ein paar Wochen nur noch lesen, wenn der Werbeblocker oder Java-Script deaktiviert sind. Schaltet man den Werbeblocker ab, belästigt einen die Seite mit aufdringlichen Videos und großflächigen animierten Anzeigen, die den halben Bildschirm ausfüllen. Ähnliches findet man bei Axel Springers Welt (mit immer noch 8 Tracking-Diensten). Wie gelange ich dorthin? Über Links in der Presseschau des Verbraucherzentrale Bundesverbands. Hm. Man hört auf, solche Seiten zu nutzen. Es gibt Pressearchive, wenn es Journalismus sein soll. Es gibt NoScript und noch mehr Erweiterungen, um so etwas abzuschalten. Warum muß man das überhaupt abschalten, warum spielen unsere Browser, auch Firefox, solche Inhalte standardmäßig ab? Man merkt jedenfalls: Man ist darauf nicht angewiesen, um sich informiert zu halten. Anderes ist besser, und weniger ist mehr.
Hintergrundbeiträge zur Präsidentschaftswahl in den USA und zu Trends im politischen Diskurs:
John Nichols: Der Anfang vom Ende? Demokraten, Republikaner und die Krise der US-Politik. Rosa-Luxemburg-Stiftung New York. November 2016. – Zeichnet den Wahlkampf nach und erklärt den Aufstieg von Donald Trump unter anderem damit, daß die amerikanischen Fernsehnachrichten ihn als Quotenbringer gebrauchen konnten, was wichtiger gewesen sei als eine umfassende Berichterstattung. Bernie Sanders habe deshalb seine Wähler währen der demokratischen Vorwahlen vor allem über soziale Netzwerke erreicht; die Über-50-Jährigen orientierten sich aber weiterhin am Fernsehen. Das relativiert den Einfluß der sozialen Medien auf die Meinungsbildung. Er resumiert, das derzeitige politische System der USA halte wirklich niemand mehr für akzeptabel.
Politische Kommunikation und Sprache der Rechtspopulisten. Postfaktisches Zeitalter, Framing und Desinformat. Moderator: Philip Banse. Diskutanten: Elisabeth Wehling, Anatol Stefanowitsch, Simon Hegelich. Deutschlandradio Kultur. Breitband. 12. November 2016. – Über die Bedeutung des Gebrauchs der Sprache und kognitiv-psychologische Tricks in der politischen Debatte.
Simon Hegelich: Social Bots. Invasion der Meinungs-Roboter. Analysen und Argumente 221/2016. Konrad Adenauer Stiftung. Sankt Augustin. 27. September 2016. – Beschreibt, wie der politische Diskurs in sozialen Netzwerken durch den Einsatz von Bots simuliert, inszeniert und manipuliert wird.
Mathias König, Wolfgang König: #MythosTwitter. Chancen und Grenzen eines sozialen Mediums. Otto Brenner Stiftung. OBS-Arbeitspapier 24. 6. Oktober 2016. – Auch in sozialen Netzwerken wirken die klassischen journalistischen Gatekeeper als Multiplikatoren für Themen und Beiträge.
Die Amerikaner wählen im Zweifel nicht das „kleinere Übel“.
Das amerikanische politische System ermöglicht wirkliche personelle Veränderungen, die hierzulande unbekannt sind. Eine Clique kann durch eine andere ausgetauscht werden, und zwar durch Wahlen.
Erstellt von schneeschmelze2 um 23:33
in recht, politik
Peter Schaar weiß es auch nicht: …bleibt uns beim Datenschutz – wie in vielen anderen Politikfeldern – nichts anderes übrig, als abzuwarten, welchen Kurs die neue Administration einschlagen wird. Alles andere wäre hoch spekulativ…
Erstellt von schneeschmelze2 um 17:58
in politik, meinung
In dem Text wird eigentlich vom Klassenkampf in Amerika erzählt: Es gebe da Verlierer, die sich rächen wollten. Dazu wird ein doppelter Boden aus Tiefenpsychologie eingezogen (narzißtische Kränkung, Wut und Revanche). Schließlich kommt aber die reaktionäre Volte, zurück zur Elite, gegen das Volk, das aus irrationalen Gründen dem Demagogen nachlief, und die Autorin zieht einen ziemlich abwegigen Schluß:
Wählen, was einem gut tut, zerstört Demokratien. Die Wahl eines strongman wie Donald Trump zum mächtigsten Mann der Welt zeigt, von wem heute die grösste Gefahr für die Volksherrschaft ausgeht: vom Volk.
Aus: Sieglinde Geisel. Wir können auch anders! Die Gekränkten Amerikas haben sich einen starken Mann gewählt und die Welt damit schockiert. Was heißt das für die Zukunft der Demokratie? In: tell-review.de. 9. November 2016.
Das greift ganz sicherlich zu kurz. Wenn wir vom Narzißmus sprechen, so wäre zuerst vom Narzißmus des Kandidaten zu handeln, der noch in der acceptance speech ausschließlich von sich selbst inmitten lauter ehrenwerter Leute gesprochen hat. Das ist ein Vorgeschmack auf das Niveau, das in den nächsten vier Jahren aus dem Weißen Haus zu hören sein wird. Unreflektiert, phantasielos, machtfixiert und egozentrisch. Und das schien seinen Wählern attraktiv.
Wenn die westliche Demokratie derzeit ein Repräsentationsdefizit hat, dann ist es hier zutage getreten, denn es gab offensichtlich die Wahl zwischen zwei unfähigen Kandidaten, die keiner wirklich wollte. Am Ende wählten aber die meisten denjenigen, der sie – aus ihrer Sicht – noch am besten repräsentiert. Daß sie dazu in eine Schweigespirale eingetreten sind, mag dahinstehen. Es gibt viele Gründe, warum Meinungsumfragen heute nicht mehr so funktionieren wie einst.
Das ist aber kein Grund, sich gegen das Volk zu wenden und reaktionär von alten Zeiten zu träumen. Ein kritischer Ansatz wäre vielmehr zu fragen, warum nicht nur die Wählerschaft, sondern auch die Elite der USA gespalten ist, die ja selbst durch so verschiedene und allseits untragbare Kandidaten repräsentiert worden ist? Nicht nur zwischen den Wählern und den Gewählten, sondern auch innerhalb der Eliten gibt es ein Repräsentationsdefizit. Dieses Defizit ist sozusagen gestuft vorhanden, nicht nur zwischen „oben und unten“, sondern auch innerhalb des „Oben“. Die Führungsschichten zerreiben sich, desintegrieren sich, und sie offenbaren dabei selbst noch im Verfall eine absurde Unfähigkeit, ihre Rolle noch auszufüllen.
Keine gute Zeit, auf „das Volk“ herabzuschauen oder sich sonst von ihm zu distanzieren. Zumal die Wahlentscheidung der Amerikaner sicher nicht eine reine Bauchentscheidung war. Wer aus ökonomischen Gründen wählt, hat handfeste Gründe auf seiner Seite, verfolgt – in diesem Fall ganz klar – sogar dasselbe Kalkül wie der Kandidat. Die Wahl offenbart insoweit am ehesten noch ein Bildungsdefizit und einen Ausfall an weitergehender Urteilkraft, ist aber ansonsten deutlich von materiellen Interessen geleitet. Eine späte Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Man könnte aber auch, wenn man sich die Lage etwas näher betrachtet, an einen wie Berlusconi denken, der seinerzeit frank und frei erklärt hatte, er sei in die Politik gegangen, weil er nicht ins Gefängnis habe gehen wollen. Wir kennen die weitergehenden Motive des Wahlgewinners noch nicht näher. Um die amerikanische Präsidentschaftswahl erklären zu können, fehlt also noch ein Puzzle-Teil; ein missing link zwischen gesellschaftlichem Umfeld, privaten Ambitionen und dem resultierenden Rechtsruck, auf den man gespannt sein darf.
Giacometti geht immer, begann der Kollege vom Wiesbadener Kurier seinen lesenswerten Beitrag über die Giacometti-Nauman-Ausstellung, die derzeit in der Frankfurter Schirn zu sehen ist. Kein Besucher wird auf dem Absatz kehrtmachen, weil sich jetzt in der Frankfurter Kunsthalle Schirn die spindeldürren Plastiken des Graubündner Jahrhundertbildhauers den Platz mit Objekten, Skulpturen und Installationen des amerikanischen Multimediakünstlers Bruce Nauman teilen. Obwohl er im weiteren Verlauf seiner Rezension denn doch eine gewisse Fallhöhe zwischen den beiden bemerkt.
Zu Recht. Denn natürlich ist die Zusammenstellung vollkommen willkürlich und weder die übliche Kuratorenlyrik der Pressetexte noch die Demandtsche Mathematik (Das ist für mich die absolute Königsklasse im Kuratieren, wenn man so etwas hinbekommt … Dann wird aus zwei plus zwei eben nicht vier, sondern sechs, oder sogar acht) können darüber hinwegtäuschen, daß es hier gehörig knirscht im Gebälk. Man erinnert sich an die Letzten Bilder, die vor drei Jahren ebenso unvermittelt und beziehungslos an gleicher Stelle nebeneinander hingen.
Giacometti lohnte sich – für mich, weil ich bisher nur seine kleineren Arbeiten kannte und denn doch überrascht war ob der Wirkung der „Grande Femme IV“ oder des „Walking Man“, beide von 1960, die lebensgroß vor einem stehen, strahlend und energisch. Und nachdem ich mich vor ein paar Jahren auch noch einmal mit Beckett beschäftigt hatte, zu dessen „Godot“ Giacometti das klassische Bühnenbild beisteuerte, war ein Gang durch diesen Teil der Ausstellung eher mit bekannten Eindrücken verbunden.
Die Beschäftigung mit der Leere, die „nicht nichts“ sei, wie die Einführung Digitorial erzählt, gleich zu Anfang im ersten Raum der Schau, hinterläßt den meisten Nachdruck. Dort wird L'objet invisible (Mains tenant le vide) von 1934 dem Lighted Center Piece Naumans von 1967 gegenübergestellt. Einerseits die ruhige und aufrechte, fast thronende Figur, die in ihren Händen deutlich etwas hält, das man offenbar nicht darstellen kann, das aber gleichwohl vorhanden ist und das auch – ihrer Haltung nach zu urteilen – so kostbar ist, daß es gut geborgen und beschützt bleiben muß. Auf der anderen Seite vier 1000-Watt-Lampen, die unverhandelbar und sehr aggressiv eine kleine quadratische Fläche ausleuchten, auf der, um es mit Ror Wolf zu sagen, „plötzlich nichts geschieht“. Dieser Raum, der zunächst eher wie eine Notlösung wirkt und gleich zu Anfang den Besucher mehr kalt erwischt und verwirrt als ihn zu empfangen, ist genaugenommen die eindrücklichste Szene der ganzen Ausstellung, weil sie mich berührt und Auskunft fordert, die nicht erteilt werden kann – das spätere Godot-Motiv vorwegnehmend.
Giacometti–Nauman. Bis 22. Januar 2017 in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main. Kuratorin: Esther Schlicht. – Katalog (Schnoek, Köln, vor Ort: 35 Euro), Begleitheft (7,50 Euro). – Digitorial und eine recht gehaltvolle Broschüre (für Besucher kostenlos).