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Sonntag, 26. April 2015

Zwei Notizen

Über den Verteiler des Solarenergie-Fördervereins Deutschland lief gestern der Bericht eines Teilnehmers an der Hauptversammlung von RWE, die tags zuvor in Essen stattgefunden hatte: „Man ist in einer Welt, in der andere Werte und andere Einstellungen gelten, als sie einem Immanuel Kants Sittengesetz eingibt.“

Der Soziologe Tobias Scholz, der 2011 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über „Distanziertes Mitleid – mediale Bilder, Emotionen und Solidarität angesichts von Katastrophen“ promoviert wurde, weist in einem Interview, das heute morgen im Deutschlandfunk gesendet wurde, auf einen Zusammenhang in der öffentlichen Debatte zwischen der brüsken Ablehnung der griechischen Regierung und der Zuwendung zu anderen Schauplätzen hin. Das Maß an Mitgefühl, das man aufbringen könne, sei begrenzt. „Das flegelhafte Auftreten griechischer Politiker etwa empöre mehr als das Leiden der Bevölkerung. ‚Da kam es gelegen, dass man sein Mitleid woanders loswerden konnte‘, sagte Scholz im DLF.“

Samstag, 25. April 2015

Römerberggespräche über den „Islam – Partner oder Gegner der Zivilgesellschaft?“

Bei dem Thema „Islam“ denke ich zurück bis zu den frühen 1990er Jahren. Ich erinnere mich an die Diskussionen zum Zweiten Golfkrieg von George „Vater“ Bush, wo es schon um den Konflikt mit der westlichen Moderne ging, die der islamischen Welt fehle – eine Fragestellung, die schon zeigt, wie egozentrisch die westliche Perspektive üblicherweise in solchen Dingen ist. Der Westen setzt sich wie selbstverständlich in die Mitte und moniert, daß es noch etwas anderes gebe als seine Sicht, als sein Modell von Gesellschaft, Kultur, Staat, Wirtschaft. Der Fortschritt, die gesellschaftliche Dynamik, die sich gegen ständische Strukturen wendet und die zum Widerspruch auffordert gegen das Verharren und alles Rückwärtsgewandte. Die universal gesetzten Menschenrechte werden für die ganze Welt gefordert – und das ist ja auch richtig und notwendig.

Vor allem aber: Der Islam macht Angst. Er erscheint heute fast genauso angstbesetzt wie zu Zeiten des Kalten Kriegs der Osten. Das merkt man auch in den Fragen, die an ihn gestellt werden: Etwa ob der Islam in die säkulare Moderne „passe“ – was aber, wenn dabei herauskommen sollte, daß dem nicht so wäre? Auch wenn er nicht „paßt“, er ist ja schon da, mitten in Frankfurt, wo an der Ampel vor mir ein Auto hält, eine verschleierte Frau auf dem Beifahrersitz. Der Islam ist ein Teil des Westens geworden, er findet auch hier statt, was es wiederum erschwert, das Fremde zu erkennen, weil wir es selbst sind, die wir dort sehen, und gerade nicht das andere. Die Projektionsfläche wird mit eigenen Inhalten bespielt.

Über die radikalisierten Jugendlichen, die aus Deutschland nach Syrien gehen, und über das Ausmaß des Salafismus gebe es keine unabhängigen Studien, heißt es. Allgemeine Gründe für die Attraktivität des Radikalismus gebe es nicht. Ausgrenzung und Diskriminierung, ein defizitäres Elternhaus seien förderlich. Allesamt religiös schlecht Gebildete, daher für diesbezügliche Propaganda anfällig. Etwa 300 seien bisher wieder nach Deutschland zurückgekehrt, 10–15 Prozent der Betroffenen seien Frauen. Der „Islamische Staat“ selbst habe keine religiösen Ziele. Es gehe um Geld und politische Macht.

Es war eine differenzierte Debatte heute nachmittag bei den Römerberggesprächen über den „Islam – Partner oder Gegner der Zivilgesellschaft?“ im Chagallsaal des Schauspiels Frankfurt, befördert durch ein homogenes Panel und ein stark grün gefärbtes Publikum mit weiterhin ziemlich hohem Altersdurchschnitt. Probleme seien der Jugendsozialarbeit zu übergeben, zur „Deradikalisierung“, das Land Hessen sei hierbei führend. Und die „islamische Tracht“ sei nur „eine Mode“ – das Bundesverfassungsgericht war jüngst anderer Ansicht –, wer dies trage, betreibe eine „Selbstexotisierung“. Toleranz sei vonnöten, die USA wurden als Beispiel hingestellt. Es war ein gutes Modell für den zeitgenössischen Multikulti-Diskurs, seine lichten Momente und seine blinden Flecken.

Donnerstag, 23. April 2015

E-Book und Book-Book II

Ein weiteres Beispiel für die Kluft zwischen Netz und real life ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung für den weiteren Umgang mit E-Books, über den man heute im Börsenblatt lesen kann. E-Books werden demnach ab 2016 kraft gesetzlicher Regelung unter die Buchpreisbindung fallen. Eine Ausnahme soll es weiterhin für Flatrate-Modelle geben, bei denen Texte gegen ein pauschales Entgelt nur zeitweise zum Zugriff angeboten werden. Der Unterschied dürfte den meisten Benutzern gleichgültig sein, weil sie E-Books sowieso höchstens einmal lesen werden. Der Markt konsolidiert sich auch derzeit.

Crowdfunding

Während das Netz über „innovative“ Finanzierungsmodelle wie Crowdfunding im allgemeinen eine unkritische und eher diffuse Begeisterung an den Tag gelegt hat, war die öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Kleinanlegerschutzgesetz eher kontrovers verlaufen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven der Beteiligten heraus. Diskutiert wurde unter anderem über neue Regeln für Anlageprospekte. Die Stellungnahmen bewegten sich zwischen den Positionen der Finanz-Platzhirsche, Belangen des Verbraucherschutzes und sozialen sowie genossenschaftlichen Bedürfnissen. Bei der Abstimmung im Finanzausschuß gab es nur geringfügige Änderungen zum ursprünglichen Entwurf, er wurde aber im wesentlichen angenommen und soll heute im Parlament beschlossen werden. Demnach wird es die von der Opposition geforderte Aufsicht über Crowdfunding-Plattformen weiterhin nicht geben. Die Diskussion zeigt vor allem, wie groß die Lücke ist, die weiterhin zwischen der eher liberal bis libertär geprägten, im Netz veröffentlichten Meinung und dem real life sich auftut.

„Austerity heavy and austerity light“

Im britischen Wahlkampf kann man etwas sehen, was es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben hat: Diskussionen mit allen größeren Parteien vor der Wahl – wenn auch einschließlich der äußersten Rechten. Es gab auch eine mit allen Spitzenkandidaten, nicht nur ein kleines „Kanzler-Duell“. Hart von der Moderatorin nach der Stoppuhr gesteuert. Inhaltlich kontrovers, und da ist ja auch in der Gesellschaft einiges in Bewegung gekommen. Einige erwarten ein „hung parliament“. Man erkennt die gewohnten Interessen wieder, wenn auch die britischen Grünen sich aus deutscher Sicht ungewohnt links positioniert zeigen: Man habe bei den Konservativen und Labour die Wahl zwischen „austerity heavy and austerity light“. Die Vertreterinnen aus Schottland und Wales sprechen betont mit lokalem Akzent – akustisch und inhaltlich. Die Folgen der Finanzkrise spielen immer noch eine große Rolle, aber anders als bei uns. Die traditionelle soziale Spaltung der britischen Klassengesellschaft schlägt auch hier durch. Der Sozialabbau im öffentlichen Gesundheitswesen ist besonders umstritten. Parallel dazu schreibt Benjamin Fox im EUobserver über die Diskussion um ein Referendum über den Verbleib in der EU nach der Wahl, während Steve Peers die Auswirkungen der Wahl auf das Verhältnis zur EU analysiert (via Verfassungsblog).

Eher kurios erscheint dagegen, daß der vermutliche Account des konservatien Parteivorsitzenden in der englischen Wikipedia wegen manipulativer Bearbeitungen als Sockenpuppe gesperrt wurde.

Montag, 20. April 2015

In der Zugangsgesellschaft II

Andrej Tschitschil zeichnete bereits im vergangenen Februar in der Sendung „Broadcast yourself, oder: Wie das Internet die Massen mobilisiert“ – mp3 – im Zündfunk Generator auf Bayern 2 ein leider einseitiges und weitgehend unkritisches Bild des Amateurs im Self-Publishing, in Blogs und in den kommerzialisierten Vlogs auf YouTube bis hin zu den Citizen Scientists, die Daten aus eigenen laienhaften Naturbeobachtungen an Wissenschaftler weitergeben oder die auf ihren eigenen Computern Rechenzeit für wissenschaftliche Projekte zur Verfügung stellen. Andrew Keens klassische Kritik des Web 2.0, „Die Stunde der Stümper“ (The cult of the amateur), ist denkbar weit entfernt von dieser affirmativen Darstellung. Und auch der eher am Rande erwähnte Hinweis auf Christoph Kappes' Essay über die Anwendung von Paradigmen aus der Softwareentwicklung auf den Journalismus wirkt eher wie ein Fremdkörper – Teamarbeit, Prozesse, Umgang mit Fehlern, Experten als Stichwortgeber, Loslösung vom „Artikel“, hin zum Journalismus als Wiki. Dabei weist er in die richtige Richtung. Auch weil er zeigt, daß dem Amateur als Publizist Grenzen gesetzt sind, die durch den Prozeß und seine Kompetenz vorgegeben werden. So wäre es an der Zeit, einmal die Stellen auszuloten, an denen Experten benötigt werden, an denen es ohne sie nicht geht.

Sonntag, 19. April 2015

„Poesie der Großstadt. Die Affichisten“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main

Am Eingang zur Ausstellung, noch im Treppenhaus beim Weg nach oben, steht ein Bild, das den aggressiven Vorgang des Plakatabreißens zeigt: Der „Affichist“ bei der „Décollage“, beim Abreißen von Plakaten von der Wand, auf die sie geklebt wurden. Was man heute nur noch von Litfaßsäulen kennt, fand damals in Paris auf den bloßen Wänden der Häuser statt: Plakate, die in mehreren Schichten übereinander immer wieder überklebt wurden, als Bekanntmachung, zur Werbung, kommerziellen wie politischen Inhalts. Bunt und in der Bildersprache ihrer Zeit. Es war die Nachkriegszeit, bis in die 1960er Jahre hinein.

Und diese abgerissenen Plakate nahmen sie dann mit, um sie weiter künstlerisch zu verarbeiten. Juristen deklinieren beim Betrachten der Bilder im Geiste die Tatbestände der Eigentumsdelikte durch: Fremde bewegliche Sache, Wegnahme, Zueignungsabsicht – alles gegeben. Aber daraus wurde dann ein Kunstwerk, und anscheinend gab es keine Kläger und infolgedessen auch keine Richter. Manche komponierten die abgerissenen Papierfetzen neu, erstellten also aus der „Décollage” neue „Collagen“, manche stellten die Rückseite aus, meist war aber die Vorderseite zu sehen. Dekonstruktionen von schnöder Gebrauchsgrafik wurden dabei ins Museum und in sonstige Ausstellungen getragen. Die Straße wurde ins Museum gebracht, wurde selbst konserviert und museal, wenn auch nur bruchstückhaft.

Manche Künstler beschäftigten sich auch mit der Sprachkunst, sprachen Gedichte in Kunstsprachen auf Band, filmten sich bei der Arbeit, erstellten experimentelle Filme, spielten mit Mustern und Formen. Am Ende wurde die Décollage politisch, sowohl der Krieg im Maghreb wurde aufgegriffen als auch die Entwicklung im geteilten Deutschland. Und sie überschritt dabei die Grenzen des französischen Sprachraums. Die Destruktion des Plakate ging am Ende über in eine Konstruktion, die Übergänge zur Pop Art wurden fließend und weisen auf die postmoderne Lust am Auseinandernehmen und Neuzusammensetzen voraus.

Poesie der Großstadt. Die Affichisten. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Kuratoren: Esther Schlicht (Schirn) und Roland Wetzel (Museum Tinguely Basel). Bis 25. Mai 2015.

Samstag, 18. April 2015

Opting out

Im Blog der Paris Review denkt Sadie Stein über die Flucht im Geiste nach: „Escapism has become something of a pejorative. But escape isn’t easy, and it doesn’t always entail the pursuit of dumbed-down entertainments … Of course, second best is ignorance: it may not be bliss, but it’s an effective form of opting out.“

Freitag, 17. April 2015

Wie im Traum

Es gibt Sätze, die man so bald nicht vergißt. Dieser gehört dazu: „Du hast eine Schrift wie ein EKG.“ Mitten zwischen Photos, die Straßenszenen zeigen wie im Traum, so wahr.

In der Zugangsgesellschaft

Während sich die TU Darmstadt vor dem Bundesgerichtshof gegen den konfliktlustigen Eugen Ulmer Verlag weitgehend durchgesetzt hat (via Inetbib), bietet JSTOR seinen zahlungskräftigen Kunden neuerdings einen „unbegrenzten, DRM-freien Zugriff“ auf seine E-Books: Herunterladen, drucken und kopieren ohne irgendwelche Schranken (via LIBLICENSE). Erinnert an die Musikindustrie, die auch irgendwann DRM aufgab. Der nächste logische Schritt wäre es, die Onleihe anzugehen und hier auch nach neuen Wegen zu suchen und Spielräume zu erkunden. Während sich ebenfalls bei LIBLICENSE, eine Diskussion über die Zukunft des Buchs findet: Sie dreht sich eher um sein Wesen – ist es linear aufgebaut oder eher ein komplex komponiertes Ensemble, das der Leser bei der Lektüre sich erst zusammensetzen muß? Was durch die derzeitigen digitalen Formate eher erschwert denn erleichtert wird?

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