albatros | texte
Donnerstag, 23. April 2015

„Austerity heavy and austerity light“

Im britischen Wahlkampf kann man etwas sehen, was es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben hat: Diskussionen mit allen größeren Parteien vor der Wahl – wenn auch einschließlich der äußersten Rechten. Es gab auch eine mit allen Spitzenkandidaten, nicht nur ein kleines „Kanzler-Duell“. Hart von der Moderatorin nach der Stoppuhr gesteuert. Inhaltlich kontrovers, und da ist ja auch in der Gesellschaft einiges in Bewegung gekommen. Einige erwarten ein „hung parliament“. Man erkennt die gewohnten Interessen wieder, wenn auch die britischen Grünen sich aus deutscher Sicht ungewohnt links positioniert zeigen: Man habe bei den Konservativen und Labour die Wahl zwischen „austerity heavy and austerity light“. Die Vertreterinnen aus Schottland und Wales sprechen betont mit lokalem Akzent – akustisch und inhaltlich. Die Folgen der Finanzkrise spielen immer noch eine große Rolle, aber anders als bei uns. Die traditionelle soziale Spaltung der britischen Klassengesellschaft schlägt auch hier durch. Der Sozialabbau im öffentlichen Gesundheitswesen ist besonders umstritten. Parallel dazu schreibt Benjamin Fox im EUobserver über die Diskussion um ein Referendum über den Verbleib in der EU nach der Wahl, während Steve Peers die Auswirkungen der Wahl auf das Verhältnis zur EU analysiert (via Verfassungsblog).

Eher kurios erscheint dagegen, daß der vermutliche Account des konservatien Parteivorsitzenden in der englischen Wikipedia wegen manipulativer Bearbeitungen als Sockenpuppe gesperrt wurde.

Montag, 20. April 2015

In der Zugangsgesellschaft II

Andrej Tschitschil zeichnete bereits im vergangenen Februar in der Sendung „Broadcast yourself, oder: Wie das Internet die Massen mobilisiert“ – mp3 – im Zündfunk Generator auf Bayern 2 ein leider einseitiges und weitgehend unkritisches Bild des Amateurs im Self-Publishing, in Blogs und in den kommerzialisierten Vlogs auf YouTube bis hin zu den Citizen Scientists, die Daten aus eigenen laienhaften Naturbeobachtungen an Wissenschaftler weitergeben oder die auf ihren eigenen Computern Rechenzeit für wissenschaftliche Projekte zur Verfügung stellen. Andrew Keens klassische Kritik des Web 2.0, „Die Stunde der Stümper“ (The cult of the amateur), ist denkbar weit entfernt von dieser affirmativen Darstellung. Und auch der eher am Rande erwähnte Hinweis auf Christoph Kappes' Essay über die Anwendung von Paradigmen aus der Softwareentwicklung auf den Journalismus wirkt eher wie ein Fremdkörper – Teamarbeit, Prozesse, Umgang mit Fehlern, Experten als Stichwortgeber, Loslösung vom „Artikel“, hin zum Journalismus als Wiki. Dabei weist er in die richtige Richtung. Auch weil er zeigt, daß dem Amateur als Publizist Grenzen gesetzt sind, die durch den Prozeß und seine Kompetenz vorgegeben werden. So wäre es an der Zeit, einmal die Stellen auszuloten, an denen Experten benötigt werden, an denen es ohne sie nicht geht.

Sonntag, 19. April 2015

„Poesie der Großstadt. Die Affichisten“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main

Am Eingang zur Ausstellung, noch im Treppenhaus beim Weg nach oben, steht ein Bild, das den aggressiven Vorgang des Plakatabreißens zeigt: Der „Affichist“ bei der „Décollage“, beim Abreißen von Plakaten von der Wand, auf die sie geklebt wurden. Was man heute nur noch von Litfaßsäulen kennt, fand damals in Paris auf den bloßen Wänden der Häuser statt: Plakate, die in mehreren Schichten übereinander immer wieder überklebt wurden, als Bekanntmachung, zur Werbung, kommerziellen wie politischen Inhalts. Bunt und in der Bildersprache ihrer Zeit. Es war die Nachkriegszeit, bis in die 1960er Jahre hinein.

Und diese abgerissenen Plakate nahmen sie dann mit, um sie weiter künstlerisch zu verarbeiten. Juristen deklinieren beim Betrachten der Bilder im Geiste die Tatbestände der Eigentumsdelikte durch: Fremde bewegliche Sache, Wegnahme, Zueignungsabsicht – alles gegeben. Aber daraus wurde dann ein Kunstwerk, und anscheinend gab es keine Kläger und infolgedessen auch keine Richter. Manche komponierten die abgerissenen Papierfetzen neu, erstellten also aus der „Décollage” neue „Collagen“, manche stellten die Rückseite aus, meist war aber die Vorderseite zu sehen. Dekonstruktionen von schnöder Gebrauchsgrafik wurden dabei ins Museum und in sonstige Ausstellungen getragen. Die Straße wurde ins Museum gebracht, wurde selbst konserviert und museal, wenn auch nur bruchstückhaft.

Manche Künstler beschäftigten sich auch mit der Sprachkunst, sprachen Gedichte in Kunstsprachen auf Band, filmten sich bei der Arbeit, erstellten experimentelle Filme, spielten mit Mustern und Formen. Am Ende wurde die Décollage politisch, sowohl der Krieg im Maghreb wurde aufgegriffen als auch die Entwicklung im geteilten Deutschland. Und sie überschritt dabei die Grenzen des französischen Sprachraums. Die Destruktion des Plakate ging am Ende über in eine Konstruktion, die Übergänge zur Pop Art wurden fließend und weisen auf die postmoderne Lust am Auseinandernehmen und Neuzusammensetzen voraus.

Poesie der Großstadt. Die Affichisten. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Kuratoren: Esther Schlicht (Schirn) und Roland Wetzel (Museum Tinguely Basel). Bis 25. Mai 2015.

Samstag, 18. April 2015

Opting out

Im Blog der Paris Review denkt Sadie Stein über die Flucht im Geiste nach: „Escapism has become something of a pejorative. But escape isn’t easy, and it doesn’t always entail the pursuit of dumbed-down entertainments … Of course, second best is ignorance: it may not be bliss, but it’s an effective form of opting out.“

Freitag, 17. April 2015

Wie im Traum

Es gibt Sätze, die man so bald nicht vergißt. Dieser gehört dazu: „Du hast eine Schrift wie ein EKG.“ Mitten zwischen Photos, die Straßenszenen zeigen wie im Traum, so wahr.

In der Zugangsgesellschaft

Während sich die TU Darmstadt vor dem Bundesgerichtshof gegen den konfliktlustigen Eugen Ulmer Verlag weitgehend durchgesetzt hat (via Inetbib), bietet JSTOR seinen zahlungskräftigen Kunden neuerdings einen „unbegrenzten, DRM-freien Zugriff“ auf seine E-Books: Herunterladen, drucken und kopieren ohne irgendwelche Schranken (via LIBLICENSE). Erinnert an die Musikindustrie, die auch irgendwann DRM aufgab. Der nächste logische Schritt wäre es, die Onleihe anzugehen und hier auch nach neuen Wegen zu suchen und Spielräume zu erkunden. Während sich ebenfalls bei LIBLICENSE, eine Diskussion über die Zukunft des Buchs findet: Sie dreht sich eher um sein Wesen – ist es linear aufgebaut oder eher ein komplex komponiertes Ensemble, das der Leser bei der Lektüre sich erst zusammensetzen muß? Was durch die derzeitigen digitalen Formate eher erschwert denn erleichtert wird?

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XVII

„Bemerken Sie eigentlich, daß die Computer heute nachmittag und heute abend uns Rätsel aufgeben?“ – ? – „Der Kauf einer Sitzplatzreservierung für den ICE kommende Woche am Automat gelang erst im vierten Anlauf. Im PC-Pool funktionierte die Virtual Machine gar nicht, sowohl der Lehrer- als auch die Schüler-Rechner fuhren in Zeitlupe hoch und froren kurz darauf ein – mitten im April. Und in dem Raum, auf den wir auswichen, fiel dann das Internet für eine Dreiviertelstunde vollständig aus. Und nun noch der Fehler beim Layout auf Antville.“ – „Immerhin, der war zu beheben.“ – !

Donnerstag, 16. April 2015

Demokratie im Stealth Mode

Gegenargumente zu dem Eiertanz um die Vorratsdatenspeicherung: Ein sehr intensiver Eingriff in die Grundrechte von Online-Nutzern, ohne sachlichen Grund, sagt Peter Schaar. Der Nutzen sei auch fünf Jahre nach dem abschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht erwiesen: „Telefonieren denn nur Verdächtige? Das stimmt doch nicht. … Ich würde sagen, dass diese Gefährdungssituation nicht rechtfertigt, dass wir in unserem kompletten Kommunikationsverhalten, das ja zunehmend übers Internet abläuft, und im Telefonverhalten mit unseren Daten längerfristig gespeichert werden müssen. In der Tat, das würde ich so nicht für gerechtfertigt halten.“ Auch Thomas Stadler meint, die Diskussion dürfe „nicht von falschen und heuchlerischen Thesen zur angeblichen Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit einer Vorratsdatenspeicherung dominiert werden.“ Er bezieht sich auf Christoph Kappes, der die Verrechtlichung der Diskussion moniert, aus der die Legitimität und die Nützlichkeit der Maßnahme allein noch nicht hergeleitet werden könne. Betroffen seien wirklich alle, ohne Unterschied: „Wer nicht absichtlich in den ‚Stealth Mode‘ geht, wird Unmassen von Datenspuren hinterlassen.“ Aber was ist die Perspektive: „Wie soll unsere Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren mit Daten umgehen?“ Die Menschen verschließen sich schon heute immer mehr, die Gesellschaft wird dadurch ärmer, Kommunikation wird erschwert oder gar faktisch unterbunden, die Demokratie nimmt dadurch Schaden.

Schwach und blaß III

Auch in Norditalien war die FAZ vom 14. April 2015 ein Ladenhüter, berichtet Martin Lüdke bei Faust-Kultur: „Eher vom Vordertaunus inspiriert. Provinziell.“ Früher schrieb er bei der Frankfurter Rundschau, bevor sie von der FAZ gekauft wurde. Die Kulturportale im Netz entwickeln sich zunehmend zu einem Forum für melancholische Rückblicke auf die alte Zeit der Print-Feuilletons.

Mittwoch, 15. April 2015

Ich wundere mich

Zwei kritische Stimmen zur Digitalisierung, die thematisieren, daß jeder selbst Teil des Problems ist:

  • Günter Grass, 2013 (via Open Culture): „… In meiner Werkstatt gibts keinen Computer. Ich habe selbst kein Handy. Für mich wäre die Vorstellung, ein Handy dabei zu haben, das heißt dauernd erreichbar zu sein, und wie ich mittlerweile weiß, auch dauernd überwacht zu werden, eine grauenhafte Vorstellung, und ich wundere mich, daß nach diesen neuesten Erkenntnissen nicht Millionen Menschen sich von Facebook und all dem Scheißdreck distanzieren und sagen: ‚Damit will ich nichts zu tun haben!‘ Wenn ich Informationen haben will, mache ich mir die Mühe und recherchiere. Gehe in die Bibliothek und gucke in Bücher. Das geht alles langsam, ich weiß, man kann mit Hilfen das alles beschleunigen, aber zum Beispiel läßt sich Literatur als Arbeitsvorgang nicht beschleunigen. Wer es macht, macht es auf Kosten der Qualität.“
  • Harald Welzer, 2015 (via BILDblog): „… Es wäre doch Micky-Maus-Denke, anzunehmen, dass eine Veränderung der Verhältnisse an einem so entscheidenden Punkt zu haben wäre, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Widerstand kostet. Schlimmstenfalls das Leben, wie wir aus der Geschichte wissen. Uns hingegen erscheint es schon als zu teuer bezahlt, wenn wir auf Whatsapp verzichten sollten. Obwohl wir wissen, dass wir uns mit jeder Message einer Totalüberwachung ausliefern. … E-Mails schreibe und lese ich noch. Auch Suchmaschinen benutze ich. Aber ich bin weder bei Facebook noch bei Xing. Ich habe auch kein Smartphone und werde mir ganz sicher nie eines zulegen.“

Soziale Probleme können nicht durch Technik, sondern nur durch eine andere soziale Praxis gelöst werden.

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