Eiskalte Wärme
Ein Moment aus den letzten Tagen, der mir nicht aus dem Sinn geht. Ein Bericht über eine spontane ehrenamtliche Hilfsaktion für Flüchtlinge, die vor einer Woche am Frankfurter Hauptbahnhof stattfand. Die wenigen wütenden Stimmen, die laut werden, gehören meistens Obdachlosen, die neidisch auf die Lunchpakete blicken, die so nah und doch so fern sind. „Ich bin auch Flüchtling, ich lebe auf der Straße“, brüllt einer, aber die Menschenkette wankt nicht. Sie „wankt nicht“, heißt es im Bericht auf der Website der Frankfurter Rundschau.
Eine vergleichbare Hilfsbereitschaft hat es gegenüber Menschen, die schon in Deutschland leben, noch nie gegeben. Bei den sogenannten Tafeln wurden stets nur Abfälle verteilt, und das ist von Anfang an ein gutes Geschäft gewesen. Es zeichnet sich auch nicht ab, daß ein sozialer Turn im öffentlichen Diskurs eingeleitet worden wäre.
Diejenigen, die dort versammelt waren, haben verinnerlicht, daß es Klassen von Armen gibt, und sie haben nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Im Gegenteil: Sie erhalten diesen Zustand aufrecht. Es ist eine eiskalte Wärme, die sich hier zeigt.
Es soll eine Querfinanzierung im Bundeshaushalt geben, das heißt, die Mehrausgaben, die von jetzt an entstehen, werden an anderer Stelle abgezogen. Es wird auf eine Umverteilung von unten nach unten hinauslaufen, und es ist absehbar, daß das auf eine breite Akzeptanz stoßen wird. Denn die Menschenkette wankt nicht.
Flucht und Recht
Es kommt selten vor, daß aktuelle Rechtswissenschaft in die Massenmedien findet, noch viel, viel seltener als Naturwissenschaft. Daher umso überraschender das Gespräch, das Karin Beindorff in „Essay und Diskurs“ mit Katja S. Fischer von der Universität Leicester über deren einstiges Dissertationsthema geführt hat, die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Verursachung von Flucht, die sie als einen Eingriff in die Souveränität anderer Staaten ansieht. Ist zwar schon 15 Jahre her, daß sie über das Thema bei Christoph Gusy in Bielefeld gearbeitet hatte, aber derzeit sehr aktuell.
Das Bundesverfassungsgericht hatte gestern das Versammlungsverbot in Heidenau für mit Art. 8 I GG unvereinbar erklärt, den diesbezüglichen Beschluß des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung des Landratsamtes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge im Wege der Einstweiligen Anordnung wiederhergestellt (BVerfG, Beschluß vom 29. August 2015 – 1 BvQ 32/15).
Blogger rufen zu Spenden und zu Solidarität für die Flüchtlinge auf, die derzeit nach Europa kommen (via internet-law). Eine notwendige Aktion, um Flagge zu zeigen gegen Rechts.
Arctic Sunrise Arbitration
Rußland ist nicht nur wegen der Beteiligung an dem Krieg in der Ukraine Vorwürfen ausgesetzt, das Völkerrecht verletzt zu haben (ob das der Fall ist bzw. war, ist durchaus streitig). Es hat gerade auch den zweiten Prozeß im Zusammenhang mit einer Aktion von Greenpeace im arktischen Meer im Jahr 2013 verloren. Der Fall hat durchaus das Potential, bald zu einem der modernen Klassiker des Völkerrechts zu zählen.
Damals hatte Greenpeace mit seinem unter niederländischer Flagge fahrenden Schiff „Arctic Sunrise“ eine Ölbohrplattform von Gazprom in der Barentssee zu erklettern versucht, um auf die Gefahren des Rohstoffabbaus in der Arktis hinzuweisen. Die Aktivisten waren dabei aber auf den Widerstand der Russen gestoßen, die die „Arctic Sunrise“ kaperten und die Besatzung verhafteten.
Schon zwei Monate später, im November 2013, mußten die Greenpeace-Leute in einem Eilverfahren auf Antrag der niederländischen Regierung beim Hamburger Internationalen Seegerichtshof gegen Kaution freigelassen werden. Das weitere Verfahren findet vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag statt, der – auf weiteres Betreiben der Niederlande – nun die Rechtswidrigkeit des russischen Vorgehens festgestellt hat. In einem weiteren Schritt wird über den Schadensersatz zu entscheiden sein, den Rußland zu leisten hat.
Die russische Regierung ist den verhängten Auflagen bisher zwar nachgekommen, erkennt aber keine der Entscheidungen an und bleibt auch den Verhandlungen aus Protest fern, weil sie das Gericht nicht für zuständig halte.
Permanent Court of Arbitration, Arctic Sunrise Arbitration, Niederlande vs. Rußland, Case No. 2014-02, vgl. auch die Pressemitteilung vom 24. August 2015.
The unending chase for money
Der amerikanische Verfassungsrechtler Lawrence Lessig ist zum Exponenten einer Bewegung in den USA geworden, die sich gegen die Schieflage in der Finanzierung des politischen Betriebs wendet. Lessig hat angekündigt, bei den Präsidentschaftswahlen 2016 anzutreten, wenn es ihm gelinge, genügend Mittel per Crowdfunding einzusammeln. Democracy Now hat ihn hierzu interviewt.
Pikantes Detail am Rande: Die Mainstream-Medien hatten zwar darüber berichtet daß vor ein paar Monaten eine Drohne auf dem Rasen des Weißen Hauses gelandet war, der Hintergrund hierfür wurde aber zurückgehalten. Es war eine Aktion von Dough Hughes, und der Quadrocopter transportierte eine Ladung mit Briefen an alle Kongreßabgeordneten, in denen diese dazu aufgefordert wurden, die Wahlkampf-Finanzierung zu reformieren. The letter began with a quote from John Kerry’s farewell speech to the Senate: quote, "The unending chase for money I believe threatens to steal our democracy itself," Kerry wrote.
Ein Jahr Digitale Agenda
Eine ernüchtende und differenzierte Ein-Jahres-Bilanz der Digitalen Agenda der deutschen Bundesregierung – am ehesten anzusiedeln im Bereich der Groteske – geben Vera Bunse und Christian Heise bei Zeit Online: Deutschland verpasst den Anschluss (via).
Es ist soviel „von oben“ liegengeblieben und verhindert worden. Aber auch die Netzgemeinde hat sich immer mehr zurückgezogen, indem der Schritt vom Netz in die Politik endgültig gescheitert ist und alles seitdem den etablierten Parteien überlassen wurde.
Dialektik der Unruhe
Cornelia Coenen-Marx nähert sich im SWR2 Forum vom 11. August 2015 zum Thema „Ist der Mensch zur Unruhe verdammt?“ der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation schon ziemlich gut an:
Wir erleben das ja im Augenblick, daß viele Menschen sich fragen, ob zum Beispiel das Wachstumsversprechen oder das Versprechen, viele Optionen zu haben, tatsächlich noch hält. Oder ob das Versprechen, alles wissen zu können, tatsächlich noch hält. Indem wir nämlich Menschen sehen, die arbeitslos sind – trotzdem dauernd den Schrei nach Wachstum. Indem wir erleben, daß unsere Wissensgesellschaft im Internet gleichzeitig uns dazu zwingt, Daten und Privates aufzugeben. Indem wir eben erleben, daß man nicht alles haben kann, wie neuerdings in der Frauenbewegung immer wieder betont wird, also nicht Kind und Karriere und Familie – alles auf einmal. Sondern daß man wählen muß, und damit genau diese Fesselungen, Verbindlichkeiten erlebt … daß aber Leben offensichtlich ohne Wahl, ohne Verzicht, ohne Festlegung, ohne Rahmenbedingungen überhaupt nicht möglich ist. Und das Problem, was ich im Augenblick sehe, ist, daß viele, insbesondere auch jüngere Leute, diese Fragen stellen, daß wir aber offensichtlich als Gesellschaft keine Antwort haben. Also, wir diskutieren über Transformation und Veränderung in der Transformation im Hinblick auf Klima, im Blick auf Generationengerechtigkeit, im Blick auf globale Gerechtigkeit, aber man sieht Politik, man sieht Wissenschaft zu, und außer einigen Fragen gibt es wenig Antworten.
Wir erleben gewissermaßen das Ende der Moderne, die gekennzeichnet war als ein Zwang, zwischen Optionen auswählen zu müssen. Die fremdbestimmten Festlegungen nehmen wieder zu. Es gilt, sich zu erkennen und sich hiergegen zu behaupten.
Der tiefe Graben
In einem differenzierten Beitrag beschreibt Farhad Manjoo in der New York Times die europäisch-amerikanische Debatte um das Recht auf Vergessenwerden, die sich zwischen dem europäischen Datenschutz und dem amerikanischen Schutz von private information einerseits sowie der Informationsfreiheit andererseits bewegt. Google-Berater Jimmy Wales kommt auch darin vor, auf der Seite der amerikanischen Datenschutz-Gegner und -Nichtversteher.
Anlaß für Manjoos Betrachtung ist ein Vorstoß der französischen Datenschutzbehörde CNIL gegenüber Google, die von den Betroffenen monierten Suchtreffer nicht nur aus den Portalen zu entfernen, die sich an ein europäisches Publikum richten, sondern diese auch aus der „amerikanischen“ Ausgabe unter der URL google.com zu tilgen. Google hat das abgelehnt, jedoch die Einschläge kommen näher. Es dämmert nun auch den bedächtigeren Beobachtern auf der anderen Seite des Atlantiks, daß ein einheitliches Internet keine Einbahnstraße sein kann. Es könnte durchaus soweit kommen, daß europäische Behörden und Gerichte darüber entscheiden, welche Suchtreffer amerikanische Internetfirmen an amerikanische Benutzer ausliefern dürfen.
Petition für Netzpolitik.org
Der Online-Petition, die die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Netzpolitik.org fordert, haben sich bisher nur wenige Blogger angeschlossen. Bisher gibt es derzeit 845 Unterzeichner, stetig zunehmend, außerdem die Erstunterzeichner, die wohl aus dem engeren Netzwerk von Netzpolitik.org stammen. Viele Unterstützer kommen aus dem IT-Bereich, aber nicht nur. Es dürfte richtig sein, sich ihnen anzuschließen. Bloggen und twittern reichen nicht aus, um politisch wirksam zu werden. Grundrechte werden nicht dem Passiven gewährt, sie müssen aktiv erkämpft werden, und zwar immer wieder, auch und gerade gegen einen zunehmend repressiv auftretenden Staat. Man muß die Kräfte unterstützen, die Aufklärung betreiben.
Gleichzeitig gilt es aber auch, die weiteren politischen Entwicklungen im Auge zu behalten. Die Krise in Griechenland hat sich mittlerweile nachteilig auf den Erfolg linker Parteien in anderen südeuropäischen Ländern ausgewirkt.
Anmerkungen zum Fall Netzpolitik.org
Einige Anmerkungen zu der Diskussion um das Ermittlungsverfahren gegen netzpolitik.org wegen des Verdachts des Landesverrats:
- Die strafrechtlichen Vorwürfe sind offenbar unhaltbar. Das spricht für ein politisch motiviertes Verfahren, das rechtsstaatlichen Maßstäben nicht genügt. Der Generalbundesanwalt geht in Wildwest-Manier vor, ohne Beachtung der jüngeren Verfassungsrechtsprechung und der Literatur.
- Immer wieder werden Parallelen zur Spiegel-Affäre von 1962 hervorgehoben, in deren Verlauf immerhin Rudolf Augstein und mehrere Redakteure inhaftiert worden waren. Soweit ist es hier noch nicht, und auch das gesellschaftliche Umfeld in der Merkelschen Berliner Republik ist ganz sicher nicht mit dem Adenauer-Deutschland vergleichbar.
- Die Blogger-Kollegen Beckedahl und Meister werden fast durchweg als „Journalisten“ bezeichnet. Damit verschwindet in der Berichterstattung die Grenze zwischen Bloggern und Journalisten. Das Blog eines Netzaktivisten wird mit kommerziellen Zeitungen sprachlich und hinsichtlich des damit verbundenen rechtlichen Status gleichgestellt. Daß ich das noch erleben darf.
- Die Netzpolitik wird im Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Neuland-Zitat der Kanzlerin, zu einem Thema im Sommerloch, ist im Zentrum der politischen Debatte angekommen. Gleichzeitig wird der Ausfall der sozialen Netzwerke als einer Art „Speakers Corner“ deutlich: Viele wohlfeile Beiträge, die aus der oberflächlichen Aufgeregtheit des Moments hervorgegangen sind, wenig bis gar nicht reflektiert, in den seltensten Fällen sachkundig. Der Shitstorm als Normalfall reduziert die sozialen Netzwerke auf ein unsäglich blödes Palaver ohne Wert. Nachdenken und – in diesem Fall: strafrechtlich, strafprozeßrechtlich, verfassungsrechtlich – Einordnen, verbleibt den Fachbloggern. Denen soll man folgen. Netzpolitik.org zählt dazu.
- Gründliches Hinsehen dürfte sich beim Thema „Verbergen und Geheimhalten in der Republik“ lohnen, insbesondere im Überwachungsstaat. Wenn der Staat selbst definiert, was verborgen bleiben soll und gleichzeitig die Privatsphäre seiner Bürger seit längerem nicht mehr respektiert (vom Staatstrojaner bis zur Vorratsdatenspeicherung), stellt sich die Frage nach dessen effizienter Kontrolle. Die liegt institutionell bei der Justiz, die aber im Fall netzpolitik.org wiederum gegen die informelle Selbstregulierung der Gesellschaft durch kritische Medien in Stellung gebracht worden ist. So wird die Informationsfreiheit zum zentralen Merkmal der Rechtsbeziehung zwischen Staat und Staatsbürger, wird der Whistleblower als Held hingestellt, wird das Watchblog zum Normalfall – aber letztlich nur, weil die kommerzielle Presse seit langem als Kontrollinstanz weggefallen ist. Während es in den 1980er Jahren noch einen politischen Skandal nach dem anderen infolge von Presseveröffentlichungen gab, werden Politiker heute vom Guttenplag-Wiki zu Fall gebracht. Die Gleichstellung von „Blogger“ und „Journalist“ durch Journalisten will auch hierüber hinwegtäuschen: Den unaufhaltsamen Bedeutungsverlust der Massenmedien als Gatekeeper für den gesellschaftlichen Diskurs und für die politisch wirksamen Narrative.
128 Jahre Unua Libro
Aleksander Korjenkov erinnerte 2008 in „La Balta Ondo“ daran, daß das Unua Libro von Ludwig Zamenhof heute vor 128 Jahren veröffentlicht worden war, am 26. Juli 1887. Zamenhof entwarf darin zum ersten Mal die internationale Sprache Esperanto aus einem elementaren Wortschatz und einer Grammatik mit nur 16 Regeln. Die 42-seitige Broschüre erschien zunächst auf Russisch, später auch auf Polnisch, Deutsch und Französisch. Ein Faksimile der deutschen Ausgabe findet sich bei der Österreichischen Nationalbibliothek. Derzeit findet der 100. Esperanto-Weltkongreß in Lille statt. Medien werden auf Wikimedia Commons gesammelt.