Herwarth Walden: Betrieb
Es wird gewählt. Das deutsche Volk politisiert sich. Immer und nur, wenn gewählt wird. Da dieses Volksvergnügen seltener stattfindet als der Karneval, sind Vorbereitung und Stimmung um so größer. Namentlich die Intellektuellen machen von sich reden und reden. Sonst außerhalb der Karnevalszeit sind sie grundsätzlich unpolitisch. Grundsatz ist bekanntlich das Zeichen des Charakters. Von dem der große Dichter Paul Scheerbart die klare Erklärung gab: Charakter ist nur Eigensinn. Aber die Intellektuellen haben Charakter. Während des Karnevals. Unter Intellektuellen versteht man die klassenlose Klasse der Menschen, die andern den Geist einreden wollen, den sie nicht haben. Sie beschäftigen sich während dieses Schlafzustandes mit den freien Berufen. Das sind die Berufe, die viel Geld kosten, aber keins einbringen, wenn man keins hat. Dafür ist die Beschäftigung interessant. Das Leben Gottes, das Liebesleben Goethes, die Suche nach Bazillen, die Rechtsfindung im Unrecht, die Ausgrabung alter Steintöpfe, die Beschilderung der Natur nebst sämtlichen Lebewesen. Das sind so Berufe an sich, jetzt aber heißt es wählen. Alle sind Professoren. Kandidaten sind aufgestellt oder stellen sich auf und alle Professoren können prüfen. Sie wissen genau soviel von ihnen wie die Professoren, die es auch außerhalb des Karnevals sind. Man liest von ihnen, man hört von ihnen, sie werden von Künstlern oder Fotografen verunbildet. Kurz, man macht sich seine Meinung. Der eine Kandidat versprach und der andere verspricht. Gibt es eine schönere Zeit zu träumen, als Karneval oder Wahl? Vergangenheit und Zukunft werden lebendig. Zum Karneval gehört die Mode von gestern oder von morgen. Nur nicht die schale Gegenwart. Gestern und morgen sind die ewigen Parolen. Parolen müssen sein. Ein letzter militärischer Schimmer. Fahnen und Musik. Karneval.
Aus: Herwarth Walden. Betrieb. In: Der Sturm 21, Nr. 3, 1932, S. 65f, 65. [1]
Fixing Thunderbird 52.0
Das gestrige Update auf Thunderbird 52.0 war eine erste bittere Pille mit entsprechenden Nebenwirkungen:
-
Aus dem Client heraus konnten danach keine Weblinks mehr geöffnet werden. Abhilfe verspricht das Löschen der Dateien places.sqlite, places.sqlite.corrupt, places.sqlite-shm und places.sqlite-wal im Benutzerprofil.
-
Außerdem funktioniert das Add-on MoreFunctionsForAddressbook nicht mehr. Das wollte man mal haben, um eine korrekte Unterstützung von vCard und eine bessere Sortierbarkeit des Adreßbuchs nachzurüsten. Nun hat es ausgedient und legt stattdessen die Adreßvervollständigung lahm – ein weiteres Feature, in das die Erweiterung eingreift. Man muß es daher deaktivieren.
Meine Prognose wäre, daß Thunderbird durch die Umbauarbeiten in der nächsten Zeit zu einer Dauerbaustelle werden wird. Ja, ich kann die Leute verstehen, die auf ihre Mail nur noch übers Webinterface des Providers zugreifen. Und nein, ich möchte meinen Workflow, nicht ändern…
TeX und Typographie
Zwei Neuigkeiten aus den letzten Tagen für TeX-Anwender und alle, die an Typographie interessiert sind:
- Beim Project Gutenberg gibt es eine „Neuerscheinung“ zu vermelden: Edmund G. Gress. The Art & Practice of Typography. A Manual of American Printing etc.. Second Edition, Oswald Publishing Company 1917.
- Dick Koch weist auf der OS-X-TeX-Mailingliste darauf hin, daß es wiederum ernste Probleme mit PDFKit unter Sierra gebe, die sich auf die Vorschau, TeXShop, Skim und wahrscheinlich noch weitere Programme auswirken. Vor allem die Benutzer des Präsentationspakets Beamer sollen betroffen sein. Er rät deshalb vom Update auf Sierra 10.12.4 nachdrücklich ab.
Frühling 2017
Und so ist die Welt auf einmal wieder warm und bunt und laut geworden. Schon die kleinen Blättchen an den Bäumen und an den Sträuchern füllen den Raum und machen ihn schwerer durch-schau-bar. Die Kröten sind schon gewandert, und die Vögel zwitschern, als hätten sie etwas ganz wichtiges zu erzählen, das jetzt keinen Aufschub mehr dulde. Zwischendrin rote, weiße und gelbe Tupfer von Blüten; die ersten fallen schon wieder ab. Und auch die Hummeln sind schon unterwegs und die Wespen – im März/April. Meine Hausspinne krabbelt einen Tick sportlicher als sonst an der Wand entlang und über den Boden weg. Und am Mainufer fängt sich die Sonne.
DMOZ, 1998–2017 II
Aus den Augen, aus dem Sinn. DMOZ existiert weiter, sozusagen als Ausgabe letzter Hand, unter dmoztools.net. Im Footer der Seiten heißt es: This site is an independently created static mirror of dmoz.org and has no other connection to that site or AOL. Ein Archiv, also, und daran werde sich wohl bis auf weiteres auch nichts ändern, heißt es dazu im Forum. Auch der weitere Umgang mit der Vorlage auf Wikipedia ist ungewiß.
Der neue Gesandte VI
Und man fragt sich doch, warum das Ergebnis der jüngsten Wahl nicht als das bezeichnet wird, was es doch eigentlich war – wenn die linkeren Parteien jeweils Stimmen verloren und die rechten welche hinzugewonnen haben: Ein Rechtsruck.
Thunderbird löst sich von Mutter Mozilla
Sehr lesenswert derzeit: Die Diskussion um die Ablösung von Thunderbird von Mozilla Firefox auf der moderierten Mailingliste tb-planning. Firefox wird ab dem Herbst Add-ons in XUL nicht mehr unterstützen, sondern ausschließlich auf Web Extensions setzen (davon abgesehen gibts noch einen neuen Skin, der größtenteils von Google Chrome abgekupfert ist).
Nachdem alles, was sowohl Firefox als auch Thunderbird als Tool für die tägliche Arbeit auch weiterhin wirklich interessant macht, in Erweiterungen outgesourct worden war, ist so eine Veränderung natürlich ein Riesenproblem, denn viele Entwickler haben schon angekündigt, daß der Neuschrieb ihres Add-ons für sie zu aufwendig würde. Zur Erinnerung: Thunderbird ist bis heute an vielen wichtigen Stellen so rudimentär und vorläufig geblieben, daß weder die Anordnung der Konten noch der Ordner in der Liste zuverlässig funktioniert, wenn man dazu nicht die Erweiterung Manually sort folders installiert – und selbst dann kann es Ungereimtheiten und Probleme geben. Auch mehrere E-Mail-Signaturen kann der Client nur mit der Erweiterung Signature Switch handhaben. Vom Adreßbuch, das erst mit MoreFunctionsForAdressBook wirklich brauchbar wird, ganz zu schweigen. (Allerdings steht natürlich auch eine vollwertige Unterstützung fürs Arbeiten in Esperanto zur Verfügung – aber das nur am Rande).
Die Mutter Mozilla hatte bereits 2012 bekanntgegeben, daß man sich aus der aktiven Entwicklung zurückziehe. Seitdem verschwand der Mail-Client von der Startseite von Mozilla, und es gab nur noch regelmäßige Bugfixes und einige kleinere Veränderungen der Oberfläche, aber keine neuen Features mehr. Drei Jahre später gabs den zweiten Tritt von Mozilla-Chefin Mitchell Baker, die sich für die Trennung des Thunderbird-Projekts von Firefox aussprach, weil es das Voranbringen des Webbrowsers zu sehr behindere, weiterhin Rücksicht auf den Mail-Client zu nehmen.
Außerdem benutzen immer weniger, die überhaupt noch E-Mail verwenden, einen Mail-Client und weichen auf die Web-Oberflächen der Mail-Provider aus. Der Thunderbird-Support weiß von verwunderten Benutzeranfragen zu berichten, warum Thunderbird kein eigenes Konto bereitstelle, das sei man von den anderen Providern, die man bisher im Webbrowser benutzt habe, so gewöhnt gewesen…
Seitdem hält ein tapferes Team von Thunderbird-Entwicklern, das mitunter an das bekannte kleine gallische Dorf erinnert, den Quellcode am Leben und sorgt dafür, daß bei dem geschwinden Voranschreiten des Feuerfuchses der Donnervogel auch weiterhin überhaupt noch kompiliert werden kann. Die Diskussion im Heise-Forum Anfang dieses Jahres zeigte: Wir befinden uns technisch, personell und wohl auch, was die sonstigen Ressourcen angeht, in jeder Hinsicht am Limit. Und so nimmt es nicht wunder, daß die Einführung in das MozillaZine-Forum zu Thunderbird überschrieben ist: Is Thunderbird dead and other FAQ.
Thunderbird möchte in der nächsten Zeit zweierlei angehen: Sein Image-Problem (so gut wie scheintot zu sein, trotz einer deutlich achtstelligen Zahl von aktiven Installationen weltweit) und die durch die Abkoppelung von Firefox ab Ende 2017 notwendig gewordene Trennung der Codebasis vom einstigen Mutterprojekt. Ben Bucksch schlägt vor, Thunderbird in JavaScript neu zu schreiben und dabei den alten Client so gut wie möglich nachzubauen. Dafür veranschlagt er insgesamt ungefähr drei Jahre. Wir sprechen uns also wieder im Jahr 2020.
In der darauffolgenden Diskussion, die noch andauert, wurde schnell klar, daß es damit nicht getan sein wird. Auch das Portal für Add-ons, das sich Thunderbird bisher mit Firefox geteilt hatte, wäre zu klonen, zu sichten, kräftig auszumisten und anzupassen, denn dort sammeln sich inzwischen die Karteileichen, die nur noch mit längst veralteten Versionen funktioniert hatten, aber heute schon nicht mehr aktuell sind. Man wird also auch einen eigenen Review- und QS-Prozeß brauchen.
Daneben ist wohl eine Werbe- und PR-Kampagne angedacht, um das etwas angestaubte Image des E-Mail-Clients wieder aufleben zu lassen – der letzten Post im Thunderbird-Blog datiert vom Dezember 2015.
Nachdem ich jahrelang auf dem Mac ausschließlich mit Apple-Produkten gesurft und gemailt hatte, war ich in den beiden letzten Jahren sukzessive zu Tor-Browser, Firefox ESR und Thunderbird zurückgekehrt und finde dort eine Umgebung vor, die im wesentlichen immer noch derjenigen entspricht, die ich Mitte der 1990er Jahre auf meinem ersten richtigen Computer, einer AIX-Workstation an der Uni, im Netscape 3 kennengelernt hatte. Diese Tools sind für mich so unverzichtbar wie Emacs, LaTeX – und mit etwas Abstand auch LibreOffice. Insoweit wünsche ich natürlich auch den Mozilla-Produkten und ihren Nachfolgern ein langes Leben…
In der Elefantenschule
In der Elefantenschule kommen alle kleinen Elefanten jeden Tag zusammen und lernen, was man als Elefant so alles wissen muss: Wie man mit dem Rüssel trinkt und alles, was gut schmeckt, vom Boden aufliest und in den Mund steckt. Wie man mit den großen Ohren wackeln kann. Und wie man in den Fluss hinein und wieder heraus kommt, wenn die Herde, geführt von der ältesten Elefantin, umherzieht.
Das dauert nur ein paar Jahre, dann wissen alle Bescheid und sind am Ende, wenn sie die Schule durchlaufen haben, zwar noch keine ganz großen, aber schon etwas größere Elefanten geworden.
Der neue Gesandte V
Aber man kann es ja mal mit einem anderen probieren, schrieb Stephan Lessenich gestern in der Süddeutschen Zeitung. Natürlich, das ist möglich. Sie sind alle austauschbar. Oder man stellt sich zumindest vor, sie wären es. Der eine so gut wie der andere. Und wenn das eine Fahrrad nicht mehr fährt, dann nehme ich eben das andere. Bloß daß ich es bin, der in die Pedale treten muß, beidesmal. Der eine statt der anderen – aus Angst vor wirklicher Veränderung und um weiter leugnen zu können, daß es doch nicht so weitergehen könne wie früher. Alles soll wieder so sein wie damals. Und so reichen sie ihm die Hand, von allen Seiten, auch von der linksgelegenen Seite, wo es heißt, man müsse sich jetzt darauf einstellen. Es könnte weitergehen, ohne daß es wirklich anders wird – auch für sie ein großes Versprechen. Und man müsse dabei sein, wenn es dazu käme. Unbedingt.
„Wir hatten ‚unsere‘ Blogwelt“
Die Literaturkolumne von Ekkehard Knörer im Merkur vom März 2017 ist mehr als ein nostalgischer Text. Es ist zumindest auch ein melancholischer Beitrag zur Netzgeschichte, zum Untergang der Blogwelt, in die hinein ich ja auch in den 1990ern sozialisiert worden war und die jetzt ein Ding der Vergangenheit geworden ist angesichts der fragmentierten Teilöffentlichkeiten, die die Leute seit ein paar Jahren für das Netz halten.
Das Netz, das sich im Zuge seiner Fragmentierung aufgelöst und in die Gesellschaft hinein verloren hat – während – umgekehrt – diese Gesellschaft ins Netz geströmt ist wie die Lemminge, ohne kritischen Impetus, unter Verweigerung der Selbstfindung mit einem ziemlich klaren instrumentellen Verhältnis zum ganzen. Man ist nicht mehr im Netz, um zu sein und zu werden, sondern aus einem ziemlich banalen Kalkül heraus. So trivial, daß wir darauf oft gar nicht so ohne weiteres kommen würden – „wie, jetzt ist schon ‚jetzt‘?“
Allein die Rechnung, die Knörer unter Bezug auf Christian Buggischs Durchhalte-Blogpost von 2016 aufmacht – 200.000 Blogs in Deutschland, mehr Seitenabrufe als alle großen Traditionsmedien pro Monat zusammengenommen – findet keine rechte Stütze in der Medienforschung, wo das Lesen von Blogs mindestens einmal wöchentlich seit Jahren schon im deutlich einstelligen Prozentbereich bleibt. Während die großen Traditionsmedien immer noch ihre jeweilige Gemeinde sammeln, bleiben die Leser von Blogs und Wikis zerstreut, ebenso zerstreut wie die Blogs und die Wikis. Ihre Wirkung ist also diffus, schwer greifbar und daher auch kaum zu rekonstruieren.
Immerhin, von dem Beitrag habe ich als erstes über den Kutter erfahren, noch bevor der Merkur-Newsletter bei mir eintraf. Die alten Kanäle, sie funktionieren also noch.
Und selbstverständlich heißt es das Blog.
Knörer, Ekkehard. „Feuerzeug, du. Literaturkolumne.“ In: Merkur 71, Nr. 814 (2017): 62–68.