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Sonntag, 29. August 2021

Der Wanderer LXVIII

Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.

Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.

Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?

Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.

Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)

Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:

Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!

Sonntag, 11. Juli 2021

Der Wanderer LXVII

„Die Formel, die ich wählen würde, wäre: Wir müssen rückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Und das scheint mir genau das Problem zu sein. Es gibt Rückkehr, und wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn man ganz ehrlich ist, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität ist, die auch andere Vulnerabilitäten mit sich bringt, andere Aufmerksamkeiten nötig macht. Auch ein neues Verständnis des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Also, was bei allen Pandemien in der Weltgeschichte so war: Die haben immer zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt. Davor stehen wir auch, vor diesem Problem, jetzt wieder. Und das ist total interessant, und ich stimme Ihnen zu, dass die politischen Anbieter dieses Problem noch nicht richtig verstehen.“ (Heinz Bude im taz Talk am 9. Juli 2021).

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Es gibt kein Zurück. Es geht nur vorwärts. Bei disruptiven Entwicklungen gibt es keine Wiederholungen mehr. Es entstehen unwirkliche Zwischenräume: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue funktioniert noch nicht.

Nehmen wir die Entwicklung im Verlagsbereich. Blicken wir zurück. Den Umbruch zu einem öffentlich verpflichtenden Open Access. Der Wissenschaftsfreiheit war Genüge getan, weil eine Print-Veröffentlichung immer noch möglich blieb. Alles gut.

In den Bibliotheken voller Bleiwüsten zwischen Buchdeckeln, in denen wir noch studiert hatten, schien das letzte Abendglimmen einer untergehenden Verlagslandschaft noch einmal kurz auf, und wir waren am Ende tatsächlich die letzte Generation, für die das noch dazugehört hatte: Die Bücherwelt, bevölkert mit Büchermenschen wie wir.

Als die Bücher lastwagenweise angeliefert wurden. Kartonweise. Palettenweise. Am Anfang hatte es noch etwas Beruhigendes. Als sie die Regale füllten in einem steten Strom, der nie zu enden schien, der aber schließlich dann doch versiegte. Das gedruckte Buch gab es seitdem nur noch zum vertieften Studium – oder als Coffee Table Book, weil es so schön war. In Einzelanfertigung, auf Anfrage.

Zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren.

Es dauerte keine zwei Jahre mehr, bis die Magazine abgebaut waren, weil sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Umstellung ging am Ende schneller als man je gedacht hätte. Und die Studenten waren sowieso schon seit mehreren Generationen daran gewöhnt, ihre Zeitschriften online zu lesen. Erst auf dem Laptop, später auf dem iPad. Der Übergang verlief ziemlich geräuschlos, denn das Geschäftsmodell Zeitschrift funktionierte ja auch schon lange nicht mehr. Erst gab es zu den Print-Abos die Online-Fassung dazu, später war es umgekehrt, schließlich fiel Print ganz weg, schließlich die Zeitschrift.

Die Älteren erinnerten sich noch an das Blättern in gedruckten Büchern, die Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer Erhaltung – wie sie aufzustellen wären, wie sie zu greifen wären, damit sie möglichst langsam verschleißten. Nach Größe sortiert ins Magazin gestellt. Überhaupt: Magazine. Speicherplatz ist billig.

Was blieb, war der reine Content. Der bloße Text auf dem Bildschirm, flüchtig und austauschbar und seelenlos und leer. Und diese Leere übertrug sich beim Lesen und erfüllte uns schließlich ganz. Etwas fehlte.

Ein Ort, an dem wir noch nicht waren.

Wir kamen dorthin, ziemlich unbemerkt. Plötzlich fanden wir uns in einer ganz anderen Gegend wieder, fast wie in einem Roman von Ror Wolf. Kaum Widerstand, nur wenige wünschten sich in die alte Welt zurück. Als die Pandemie begann, waren wir genaugenommen schon lange an dem neuen Ort, aber erst damals merkten wir es so richtig, wir mussten uns nur noch darin zurechtfinden.

Als die Bibliotheken schlossen und nur noch E-Books und E-Journals und Dokumentenserver verblieben: Fehlte uns eigentlich nichts. Als die Pandemie Lücken in den Printbestand riss: Merkten es nur wenige. Denn die Bibliothek war längst schon überall, wo man Zugriff auf ihre digitalen Bestände hatte. Also überall. Und eine Bibliothek, die nicht überall war, war nirgends. War gar nicht. Es gab sie gar nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Als der alte Raum nicht mehr passte, entstand ein neuer Rahmen. Und es galt, das Neue im Neuen zu finden und von nun an zum Ausgangspunkt zu machen für alles, was folgte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren, war der Ort, von dem nun alles weitere seinen Gang nahm.

Donnerstag, 24. Juni 2021

Der Wanderer LXVI

Der Handwerker kniet auf dem Boden und schlägt mit dem Hammer auf eine lange Holzlatte ein, die vor ihm liegt. Kreissägen kreischen durch das Erdgeschoss, und es riecht nach Farbe.

Nach mehr als einem Jahr bin ich in eines der größeren Kaufhäuser gegangen. Letztes Jahr war Ausverkauf. Also wirklich Aus-ver-kauf. Sie haben auch heute keine zu früher vergleichbare Auswahl bei den Produkten. Alles ist geschrumpft, und es gibt viel Platz zwischen den Regalen und den Warentischen. Auch kaum Personal.

Ich suche nach der Kasse. Das Schild, das den Weg weist, zeigt ins Nichts. Die Kasse ist leider nicht besetzt. Sie können entweder nach unten gehen zu den Süßwaren oder ein Stockwerk höher, da hinten ist die Rolltreppe. Nein, die geht nicht, die ist außer Betrieb. Also nach unten. Eine lange Schlange. Es dauert ewig. Also doch nach oben. Umweg: Es gibt noch eine andere Rolltreppe. Eine kürzere Schlange. Möchten Sie eine Plastiktüte für zehn Cent? Nein, danke, ich habe einen Baumwollbeutel dabei. Die Plastiktüte war früher ein stolzer und moderner Werbeträger, heute ist sie ein teures Teil, das keiner mehr haben will. Nicht wirklich.

Zur Projektplanung setze ich seit vielen Jahren auf analoges Werkzeug: Einen schönen Taschenkalender und ein farblich dazu passendes Clairfontaine-Heft. Der Kalender ist bestellt. Das Heft gabs nicht kariert. Also linierte Kladden vom selben Hersteller. Hatte ich zum letzten Mal 2016. Als das alles begann. Und lange vor dem ganzen Rest. Also genaugenommen ein gutes Zeichen.

Auch die Bauarbeiten in den Geschäften könnte man positiv sehen, es wird investiert. Aber mit fremdem Geld, das man ohne weiteres verbrennen kann, ohne dass es weh täte, wenn es später abgeschrieben würde.

Auch auf der Straße: Bauarbeiten. Dauerregen auf die Baustelle.

Das Bild, das die Geschäfte und die große Einkaufsstraße bieten, wirkt wie eine Metapher für die verwundete Gesellschaft im ganzen. Sie lässt mich fassungslos zurück.

Sonntag, 20. Juni 2021

Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz

Es ist jetzt der zweite Durchgang des Bachmannpreises, den ich beruflich bedingt nicht live verfolgen konnte, und am Ende schaut man sich die Videos dann ja doch nicht mehr alle an. Man sucht Zuflucht bei den Zusammenfassungen in den Feuilletons oder beim Literaraturcafé-Podcast, wo Andrea Diener und Wolfgang Tischer auch in diesem Jahr tapfer nacherzählen, was passiert war. Andrea trotz Impfung in ihrer mollig warmen Frankfurter Dachgeschosswohnung, und Wolfgang dieses Jahr getestet vor Ort in Klagenfurt, wo sich die Getesteten, Geimpften und Genesenen beim Public Viewing in der Hitze trafen.

Risikogruppe, anyone? Der gerade verrentete Hubert Winkels ließ sich für seine Rede zur Literaturkritik aus der Ferne zuschalten. Und die Jury kam diesmal im Studio zusammen, nur die Schriftsteller wurden per ORF-iPad hinzugeholt. Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz und lokal. Sie nannten es „hybrid“. Vielleicht tut man sich dann leichter, in die Ferne hinaus auszuteilen?

Heike Geißler ließ jedenfalls ihrem Unmut über die teils ganz offen dilettantische Performance einiger Jurymitglieder im Deutschlandfunk Kultur freien Lauf – und ging danach natürlich bei den Preisen leer aus. Klar.

Ganz knapp gehaltene Berichterstattung in der taz, von einer Autorin, die nicht vom Fach ist, sich aber Mühe gibt, den dünnen Wettbewerb auf den Punkt zu bringen, was ihr am Ende auch gut gelingt:

In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „… manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an einem bereits feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild für Gegenwartsliteratur gefunden.

Übrigens lag ich mit meiner Prognose völlig daneben. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte.

Sonntag, 13. Juni 2021

Der Wanderer LXV

Der Weg führt am Fluss entlang, hinein in die Stadt. Die Sonne scheint, und es ist so warm, dass es fast schon wieder zuviel an Wärme ist, so schnell war der Übergang vom kalten Spätfrühling zum Sommerbeginn.

Ein Jahr, in dem so viel passiert war. Ein Jahr, in dem auch so wenig passiert war. Eine Wohnung kann groß sein, und dann auch wieder so klein.

Und jetzt nach mehr als einem halben Jahr zurück in die Stadt hinein, am Fluss entlang. Den Weg, den ich fast ein Vierteljahr lang immer wieder gegangen war.

Die Gänse am Ufer, wie vor vier Jahren, als das alles begann. Als ich wieder fliegen lernte, als ich mit anderen um die Wette ins helle Licht lief, und der Körper viel schneller war als die Seele, die erst nachkommen musste. Also innehalten und abwarten. Und weiter. Und immer weiter. Aufstehen. Aufstehen. Aufstehen.

Am Fluss entlang hinein in die Stadt. Wo sehr viel weniger passiert als damals. Beruhigung, Entschleunigung. Die große Bremse, die alles anhielt.

Eine Gruppe junger Leute, die auf dem Rasen am Ufer sitzen und sich auf Englisch unterhalten. Werden es genug Antikörper sein, wenn es darauf ankommen sollte? Die Gänse am Ufer. Die Gänse auf dem Rasen.

Eine Gruppe junger Mütter bei der Gymnastik am Fluss. Sie bilden einen Kreis, und die Kleinen in der Mitte. Und dort ist die Brücke, über die ich so oft schon gegangen war. Kaum Touristen, wo man früher so viele verschiedene Sprachen hörte.

Das Café, in dem ich so viele Stunden verbracht hatte, gibt es nicht mehr. Ausgeräumt. Stühle und Tische sind verschwunden, für immer, wie es scheint. Seelenlose Gassen, fast menschenleer. Ein Disneyland in Fachwerk. Da drüben ist der Dom. Ein älteres Paar läuft über den Platz, telefoniert gemeinsam mit lautgestelltem Handy auf Italienisch als verstände es keiner um sie herum. Sie ist auffällig blondiert, und sie hält das Gerät vor sich als wäre sie sechzig Jahre jünger, mindestens.

Nur die Sonne ist wie früher. Und werden die Antikörper dann reichen? Auch in diesem Café war ich oft. Früher immer gut besucht. Heute kaum Gäste. Der Kellner trägt Maske. Kenne ich ihn? Er langweilt sich. Er nickt. Er geht wieder hinein. Zwei Besucher sitzen draußen an Tischen in der Sonne.

Weiter zum Museum. Es hat geschlossen. Auch gegenüber. Auch der Laden, wo es die Wolldecken gibt, ist noch da, aber geschlossen. Sie hatten immer kleine Elefantenfiguren aus buntem Filz im Angebot. Heute aber nicht.

Weiter über die Straße. Links bei Tchibo läuft der Verkauf. Man wird die Behandlung bald wiederholen müssen, sonst verliert sich der Nutzen und es reicht nicht mehr. Ob das überhaupt geht?

Weiter auf der anderen Straßenseite. Die Apotheke mit einem Schild an der Tür: Today no testing. Der Handyladen: Als wäre nichts gewesen. Der Second-Hand-Laden daneben dito. Offene Türen, aber keine Kunden in den Läden.

Jetzt kommt die große Fußgängerzone. Ich schaue mich um, um mich des Orts zu versichern: Ich bin jetzt mitten in der Stadt, wo früher ganz viel eingekauft wurde. Die großen Läden haben wieder geöffnet. Die kleinen auch. Es ist ein bisschen wie bei der Müttergymnastik: Die Großen drumherum und die Kleinen in der Mitte. Riesige Schilder, auf denen ebenso riesige Rabatte angekündigt werden. Die Sparkasse. Mit Sicherheitsmann am Eingang. Hier haben sie ihn also noch. Und der große Platz, heute ohne Markt. Fahrradfahrer kreuzen meinen Weg. Ich bleibe stehen, ich weiche aus. Ob man es überhaupt wird wiederholen können, wenn es nötig sein wird? Die Rolltreppe nach unten.

Die Geschäfte unter der Erde, auf dem Weg zur S-Bahn. In allem und in allen strahlt die Angst. Warten am Bahnsteig. Viel zu lang dauert es. Es ist viel zu eng hier für die vielen Menschen. Die nächste Bahn nehme ich ganz bestimmt. Die Türen gehen auf, der Zug leert sich, ich gehe hinein, die Türen schließen sich, der Zug fährt an, fährt, fährt, fährt mit mir weg. Durch den Tunnel. Weg aus dieser fremden und leeren Welt ohne Wärme, da ist nur die Hitze am Mittag. Ich traue mich kaum zu atmen. Das ist eine Verbindung, die mich zurück zu der Wohnung bringt, aus der ich aufgebrochen war am Morgen. Mit ihr fliege ich zurück in mein vorübergehendes Leben. Die Tür geht auf, ich verlasse den Zug. Die Maske weiter aufbehalten, bis man den Bahnhof ganz verlassen hat. Ob es ausreichen wird? Und weiter nachhause.

Ich warte auf den Abend.

Donnerstag, 3. Juni 2021
Montag, 24. Mai 2021

Der Wanderer LXIII

Müde laufe ich durch die Stadt. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt, dass die Wärme der Sonne dagegen nicht ankommt. Die Winterjacke ist noch zu warm, aber die Sommerjacke zu dünn. Es passt nicht.

Als ich hier das letzte Mal vorbeikam, blühte noch der Ginster. Jetzt sind die Sträucher grün geworden. Aber die Werbung an der Litfaßsäule ist immer noch die gleiche. Vom Februar. Vom Februar vor einem Jahr. Vor einem Jahr, als das alles begann. Als die Geschäfte zum ersten Mal geschlossen wurden. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die digitale Bohème flächendeckend wurde und Homeoffice hieß, jetzt, wo sie bieder geworden war und für alle.

Zuhause bleiben und in den Computer tippen und alles über Video, wie früher in meinem alten Leben auch schon, aber für die anderen war das ganz neu. Als wir das erste Mal alle zuhause waren. Als die Sonne schien, als ginge es um ihr Leben. Als die Sonne schien, als würde das niemals enden. Als der Ginster blühte. Als die Bäume wieder grün wurden. Als es noch kalt war, aber die Sonne wurde immer wärmer.

Und jetzt ist es wieder Mai, und ich laufe müde durch die Stadt. Aber anders als damals.

Der Laden dort hat schon seit einem Jahr geschlossen. Jetzt haben sie Zeitungspapier hinter das Schaufenster geklebt. Haben sie es überhaupt geklebt, oder warum sieht man keine Spuren von Klebstoff an der Fensterscheibe?

Vor einem Jahr hatte die Sonne auch so geschienen, aber dieses Jahr gibt es immer wieder Regen. Und abends heizt man, sonst ist es zu kühl ohne die Heizung. Es ist Ende Mai, und der Wind ist so kalt. Und es regnet immer wieder. Immer noch die Winterjacke, wenn auch ohne Fleece.

Merkst du, tagsüber sind viel mehr jüngere Leute unterwegs, die wären früher alle in Büros gewesen. Untergebracht und weggeschlossen, gleichwohl offen. Heute gehen sie spazieren, wenn die Sonne scheint, auch unter der Woche. Gehen sie zum Bäcker, zum Einkaufen, wenn sie Pausen machen von der digitalen Bohème, die sie jetzt Homeoffice nennen, damit es nicht so auffällt. Eine Bohème mit Sozialversicherung. Mit Wumms, haben sie gesagt. Mit Wumms aus der Krise, haben sie gesagt. Dass die sich nicht schämen.

Der Bäcker da drüben hat schon länger geschlossen. Es lohnt sich nicht mehr, weil sie keinen Kaffee to go mehr verkaufen morgens. So früh ist kaum noch einer unterwegs morgens. Sie machen sich den Kaffee jetzt selbst daheim, bevor sie sich an ihre Computer setzen. Vom Bett ins Wohnzimmer an den Schreibtisch an den Computer, dazwischen liegt das Bad, liegt die Küche, der Kaffee, das Frühstück, der Wasserkocher, der Kühlschrank und die Waschmaschine. Und abends wieder retour.

Es ist Ende Mai, und der Wind ist kalt. Die Impfreaktion mache einen müde, sagen sie. Mache Kopfweh, sagen sie. Der Briefträger auf dem Fahrrad biegt um die Ecke. Sein Korb ist voller Zeitschriften und Büchersendungen. Es wird viel gelesen, sagt die Frau an der Abo-Hotline. Sie hätten so viele Anrufe. Alle sind zuhause, man hat Zeit, es wird telefoniert, das Festnetz, die digitale Bohème hat Zeit zuhause.

Der Friseur da drüben darf wieder aufmachen. Die Haare werden kürzer. Die Maskenpflicht. Die Testpflicht. Die Pflicht ruft.

Manche füttern noch die Vögel. Es ist kalt. Es ist Ende Mai. Die Blaumeisen sind verschwunden, wir haben nur noch Sperlinge und Kohlmeisen und Amseln und Tauben. Und Tauben. Und Tauben.

Wenigstens haben sie die Werbung mit den Osterhasen weggemacht. Die Osterhasen, die sie im Einkaufszentrum verschenken wollten, zu Ostern. Vor einem Jahr. Sie hing bis kurz vor Weihnachten. Und jetzt ist Pfingsten. Das zweite Pfingsten schon, seit alles begann. Aber ich denke immer noch an die goldenen Osterhasen auf den Werbeplakaten.

Die Eisdiele hat wieder aufgemacht. Die Leute stehen im eiskalten Wind in der Sonne und warten darauf, dass sie eine Kugel Eis in einer Waffel bekommen können. Sie halten Abstand zueinander, auf dem Boden in der Fußgängerzone sind Markierungen angebracht worden. Alle tragen Masken, denn hier besteht Maskenpflicht von acht bis zweiundzwanzig Uhr. Die Eisverkäuferin trägt auch eine Maske. Man sieht nicht, ob sie lächelt, wenn sie die gefüllten Waffeln reicht.

Gegenüber der Trödelladen mit dem Schild im Schaufenster: Wenn Sie etwas kaufen möchten, rufen Sie mich an! Die Tür ist abgeschlossen. Ich will nichts kaufen. Es ist kalt. Ich denke an die leere Fensterscheibe und das Zeitungspapier und den Klebstoff. Ich bin müde. Sie sagen, das sei von dem Impfstoff. Das Impfen mache die Leute so müde. Es mache auch Fieber, aber ich habe kein Fieber. Es ist kalt. Der Wind.

Die ersten Blumen brechen durch. Der Frühling ist schon fast vorbei, aber alle tragen immer noch ihre Wintersachen. Im Rewe gibts Erdbeeren aus Holland. Und die Buchhandlung hat jetzt wieder geöffnet, aber nur auf Abruf. Da drüben wird getestet. Gleich zum Mitnehmen. Die Leute warten auf ihr Ergebnis. Es gibt eine Schlange, aber keiner hat es eilig, alle haben Zeit.

Bei der Sparkasse darf man einfach so hineingehen. Vor einem Jahr, als das alles anfing, hatten sie noch einen Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang stehen, der ist jetzt nicht mehr da. Man kann gleich reingehen, wie früher. Alle sind maskiert. Früher wäre man verdächtig gewesen, wenn man maskiert in die Sparkasse gegangen wäre. Heute muss man das tun. Der Elektroladen daneben hat geschlossen. Ein Schild für den Paketboten hängt an der Tür: Wir bauen um, wir sind da, bitte klingeln! Es sieht nur so aus, als wäre alles zu. In Wahrheit ist alles ganz anders.

Müde laufe ich durch die Stadt. Sie sagen, das sei die Impfreaktion. Das gehe bald vorbei. Es dauere nicht mehr lange. The times, they are a'changing, lief vorhin im Radio.

Ich denke an die vielen Ausstellungen. Die ungesehenen Ausstellungen. Die ungesehenen Bilder, Skulpturen. Die ungehörten Konzerte. Die ungesehenen Theateraufführungen. Die nicht ausgeliehenen Bücher. Die Wintersachen aus dem letzten Jahr, die immer noch in den geschlossenen Läden liegen, hängen, stehen. In den Läden, die sie kurz vor Weihnachten zugemacht hatten. Das Geschäft da drüben hatten sie vor einem Monaten geräumt. Auch dort jetzt: Zeitungspapier.

Die Blätter an den Sträuchern sind ganz frisch. Man sieht, wie sich die kleinen, frischen Blättchen auffalten. Wie sie sich zum ersten Mal strecken, wie schön das ist, die frischen kleinen Blättchen an den kahlen Zweigen im kalten hellen Frühlingslicht. Im kalten Wind am frühen Nachmittag.

Es ist Ende Mai. Alle sind maskiert. Ich bin die ganze Zeit über müde. Es passt nicht. Aber ich habe kein Fieber.

Sonntag, 4. April 2021

Eigentlich nicht

Es war ein langes, erwägendes Gespräch, das Serdar Somuncu heute in der Blauen Stunde auf radioeins mit Martin Werthmann geführt hat. Kunst als Alltag, Kunst als Sprache, als die maßgebliche Beziehung zur Welt. Und dann die Frage:

Kannst du mit deiner Kunst auch lügen?

Eigentlich nicht. Oder doch?

Natürlich führt uns das zu einer weiteren Frage:

Kann ich mit meinem Blog auch lügen?

Eigentlich nicht.

Freitag, 2. April 2021

Der Wanderer LXII

Es ist ein bisschen still geworden um mein Blog. Vielleicht ist es zu still mittlerweile, denn das Blog war immer meine Stimme im Netz. Manch eine/r hat sich in letzter Zeit eher aus der öffentlichen Öffentlichkeit zurückgezogen und ist in das digitale Biedermeier entschwunden. Dafür gibt es sicherlich gute Gründe. Aber gibt es nicht auch ebenso gute für das Gegenteil?

Die Zeit des freien Webs ist noch nicht ganz vorbei. Es gibt sie noch, die alten Schnittstellen. Aber die Ver-Appung greift um sich, und es gibt nicht nur die großen Ökosysteme (im technischen Sinne, als Geschäftsmodell der Content-Industrie), sondern auch die kleinen, ganz praktischen. Manchmal hängen sie zusammen, manchmal auch nicht. Die alten Formate werkeln jedenfalls immer noch unter der Oberfläche, aber die Oberfläche verbirgt sie zunehmend vor den Benutzern, als gäbe es beispielsweise und insbesondere RSS nicht mehr. Aber was denn sonst? Wenn man nachfragt, wo denn der RSS-Feed geblieben sei, erhält man beispielsweise solche Antworten:

vielen Dank für Ihr Interesse an der ARD Audiothek. Zurzeit können wir Ihnen leider keinen RSS Feed für Sendungen bereitstellen, da bei der Bereitstellung des RSS Feeds uns ein Fehler unterlaufen ist. Wir sind bereits schon dabei dieses Problem zu beheben. Jedoch wird diese Fehlerbehebung noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen. Wir bitten daher um Entschuldigung und um etwas Geduld. Vielen Dank für Ihr Verständnis und wir wünschen Ihnen trotz dieser Einschränkung weiterhin viel Freude bei den Inhalten der ARD Audiothek.

Wir können auch nicht durchkoppeln. Aber das wäre ein weiteres Thema.

Überhaupt: Standards. Bei der E-Mail fing es an. Vor fünf Jahren gab es die info-Adresse beim CERN schon nicht mehr, als ich sie auf einen Fehler auf ihrer Website hinweisen wollte. Kam als nicht zustellbar zurück. Mail und Webmaster: dito. Wohlgemerkt: Beim CERN. Und mittlerweile fehlen immer öfter die rss+xml-Alternate-Links im Header. Ich fühle mich so alt. Ist es schon soweit?

Natürlich nicht nur hierzulande. Hörfunk-Livestreams sind auch so ein Thema. Die BBC hat gerade umgestellt. Könnten Sie mir bitte Ihre neuen Livestream-URLs mitteilen, damit ich weiter zuhören kann?

We do not provide the URLs to our streams.

Ja, dann: Auf zu GitHub! Übrigens nicht nur meine Sorge: Es gibt durchaus große Frustration in Großbritannien über diese Haltung der BBC, bitte die sendereigene App BBC Sounds, einen Smart Speaker(!) oder ein Webradio zu benutzen, das an einer proprietären Datenbank hängt. Soll man nicht tun.

I hope this has been helpful, and once again thank you for contacting us.

Zu den alten, bewährten Kanälen gehören auch Mailinglisten. Und Mozilla tritt doch für ein freies Internet ein – oder etwa nicht? Mozilla hat gerade alle seine Mailinglisten zu Google transferiert. Das heißt es gibt kein selbstgehostetes Archiv mehr, und auch die gesamte Infrastruktur wurde stillgelegt. Die Daten der Benutzer, die sich an den Listen beteiligt hatten, liegen jetzt bei Google in Form einer Google Group vor. Das Thunderbird-Projekt wurde mit einem Vorlauf von zwei Wochen davon in Kenntnis gesetzt, was für sich genommen schon mal recht sportlich war, und musste sich schnell entscheiden, wie es weitergehen sollte. Man erwog, die eigenen Listen zu Topicbox umzuziehen, sah davon aber wegen des Datenschutzes ab: Dazu fehlte nämlich die Einwilligung der Benutzer (was, wie gesagt, Mozilla überhaupt nicht interessiert hatte).

Wir stehen für ein Internet, das alle Menschen auf der Welt einbezieht…

Wer weiterhin an den Thunderbird-Listen teilnehmen möchte, muss diese nun auf Topicbox abonnieren. Was ich nicht möchte und nicht tun werde. Ein eigener Mailman kam für Thunderbird nicht infrage, denn:

Mailman and things like it are dinosaurs.

Was die E-Mail angeht, so gibt es auch Neues zur Überwachung beim Bezug von Newslettern anzumerken. Sowohl The Conversation als auch France Culture fragten nach einigen Wochen Empfang ihrer täglichen Mails nach, ob ich sie noch erhalten wolle, ich hätte schon so lange nicht mehr hineingesehen. Tatsächlich lese ich die Beiträge, klicke aber nicht auf die Links und habe auch das Nachladen von Grafikdateien abgeschaltet. Immerhin weiß man dadurch nun, dass das ausreicht, um ein Tracking zu verhindern.

Weitere Neuerungen: WordPress.com blendet nun einen Sponsored Post in englischer Sprache mit Werbung für Online-Bloggerkurse an zweiter Stelle in meinen Feed ein. Die Werbung bei WordPress.com wird also immer penetranter. Außerdem wird ist es schon wieder hakeliger geworden, noch mit dem klassischen Editor zu arbeiten. Man muss nun über ~/wp-admin/edit.php gehen, um noch ins alte Backend zu gelangen. WordPress.com kann mittlerweile wirklich nicht mehr empfohlen werden. Und den Wanderer führe ich jedenfalls hier weiter und nicht mehr nebenan.

Zum Schluss etwas Erfreuliches: Gestern, am Gründonnerstag, wurde TeX Live 2021 veröffentlicht. Das ist kein Aprilscherz. Alles weitere hier, wie gehabt, auch was die Release Notes angeht.

MacTeX kann man diesmal ab macOS 10.14 installieren. Ausgeliefert werden Universal Binaries für Intel64 und ARM. Für ältere Apple-Systeme muss man den Unix-Installer verwenden. Da ich weiterhin auf 10.13 bin, wird mir diesmal nichts anderes übrigbleiben als eben dies. Da ich das noch nie gemacht habe, sondern immer MacTeX installiert hatte, kann ich leider derzeit noch keine ersten Erfahrungen weitergeben. Muss mir das erstmal anschauen, wenn ich die Zeit dazu finde…

Danke an alle, die an der neuen Version ehrenamtlich mitgearbeitet und diese damit möglich gemacht haben!

Die TUG-Tagung 2021 wird übrigens vom 5. bis 8. August in Zusammenarbeit mit der Universität Adelaide als reiner Online-Event ausgerichtet. Die Teilnahme ist kostenlos nach Registrierung möglich. Spenden sind willkommen.

Vielleicht vertiefe ich den TeX-Teil noch einmal in einem weiteren Beitrag, wir werden sehen…

Sonntag, 7. Februar 2021

Die letzte Ausgabe der Machtdose und das Ende der Netzmusik

Nichts ist so endgültig wie die letzte Ausgabe einer Reihe, die man sich als unendlich vorgestellt hatte.

Roland Graffé hat in diesen Tagen die wirklich allerletzte Folge der Machtdose veröffentlicht.

Die Creative-Commons-Plattformen waren einst die Lösung für den Vertrieb an den großen Plattenlabels vorbei. Die Netlabels entstanden und bündelten den Markt. Aber nach 16 Jahren sei es immer schwerer geworden, noch CC-lizenzierte Musik im Netz zu finden. Denn heute verliert der lineare Hörfunk zwar ständig an Nutzern, während die Streamingdienste an seine Stelle treten, aber sie verdrängen eben auch die Netlabels, und die interessanteren Künstler bieten ihre Stücke eher bei Spotify zum Kaufen an als bei den CC-Plattformen. Jamendo ist schon länger nur noch ein Schatten seiner selbst, und WFMU hat sein Projekt Free Music Archive ziemlich lustlos und kaum bemerkt abgestoßen. So muss man es wohl sagen.

Die Machtdose lebte schon lange fast nur noch aus Bandcamp. Und Roland schreibt, seine Ausbeute beim Googlen nach neuer Musik sei immer schlechter geworden. Auch Bandcamp gebe derzeit kaum Neues her, jedenfalls sei es immer schwerer auffindbar. Ob das auch für die Creative-Commons-Suche gilt, möge offen bleiben. Denn zumindest Soundcloud scheint doch immer wieder Annehmbares bereitzuhalten. Von dort wird ja auch die Machtdose regelmäßig im Blog eingebunden.

Aber es ist schon richtig: Die Freie Musik (im Sinne von: free as in Freedom) verschwindet aus dem Netz, aus der Welt. Die musikalischen Commons entwickeln sich nicht mehr weiter. Die Idee des freien Remix, wie sie Lawrence Lessig vertreten hatte, kommt an ein Ende. Das Pendel schwingt aus, und es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter die alte Welt des Web 2.0 der 1990er und der frühen 2000er-Jahre.

Ich habe immer gerne und interessiert zugehört und sage deshalb Danke für den Fisch – an Roland und an die vielen Künstler/innen, ohne die es die Machtdose nicht hätte geben können!

Seit November 2005 gab es in der Machtdose 2610 Musikstücke zu hören, das Google-Docs-Spreadsheet, in dem sie alle verzeichnet sind, scheint riesig, und das ist es ja auch! Eine riesige kreative Allmende ist das, und alles kann man im Internet Archive auf Dauer nachhören – und remixen! Und wenn sich unsere Generation an ihre Musik erinnert, wird man keinen Radiosender mehr einschalten, sondern das Internet Archive ansurfen.

Es gibt Momente, in denen man traurig sein darf. Das Ende der Machtdose gehört dazu.

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