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Mittwoch, 26. Oktober 2016

Umfrageprobleme

Einem Beitrag in Nature zufolge gehen die Probleme beim Erstellen von politischen Meinungsumfragen in den USA unter anderem auf die Veränderungen beim Internetzugang zurück. Der Anteil von privaten Haushalten mit ausschließlich Festnetzanschlüssen sei von 2003 bis 2015 auf die Hälfte gefallen, während der Anteil derjenigen Haushalte, die ausschließlich mobilem Internetzugang haben, in derselben Zeit von null auf 50 Prozent gestiegen sei. Die meisten Benutzer nähmen auf dem Handy aber keine Anrufe von unbekannten Rufnummern entgegen. Deshalb sei es schwieriger geworden, Telefon-Umfragen durchzuführen. Es fehle somit an Daten, was auf Kosten der Repräsentativität und der Genauigkeit der Vorhersagen gehe. 1997 hätten noch 37 Prozent der Angerufenen geantwortet, derzeit seien es nur noch zehn Prozent oder weniger. Auch die Schätzungen der Wahlbeteiligung klappten deshalb nicht mehr. Im Fall der amerikanischen Präsidentschaftswahlen kämen noch die historisch niedrigen Zustimmungsraten zu den beiden Kandidaten hinzu, außerdem Effekte wie die Schweigespirale. Reine Online-Umfragen rekrutierten ihre Teilnehmer über Werbebanner auf Websites, was zu einer entsprechenden Schieflage führen könne. Einladungen zu Umfragen per SMS oder mit der Briefpost seien ebenfalls wenig erfolgreich.

Skibba, Ramin. "The polling crisis: How to tell what people really think." Nature News 538 , no. 7625 (2016): 304.

Sonntag, 23. Oktober 2016

MediathekView wird nicht weitergeführt (Update)

Entwickler Xaver W. hat vorgestern im Forum auf Sourceforge angekündigt, sein Programm MediathekView zum Jahresende einzustellen. MediathekView besteht aus einem Crawler, der die Mediatheken aller deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender durchforstet und deren Inhalte in eine Liste schreibt, sowie aus einem Frontend, über das man auf diese Liste dann zugreifen kann, um sie zu durchsuchen und ggf. Beiträge herunterzuladen oder in einem separaten Player live zu betrachten.

Ich habe MediathekView vor allem wegen der Volltextsuche genutzt. Aus unerfindlichen Gründen sind die Rundfunkanstalten nach wie vor nicht in der Lage, eine brauchbare Suche anzubieten (gleichzeitig wundern sie sich über die geringe Nutzung der Plattformen). Einzige Einschränkung: MediathekView lief in der neusten Version leider nicht unter El Capitan, trotz Installation des neuesten Java. :( Man kann aber die vorletzte Version weiter benutzen.

Der Grund für die Einstellung sei die hohe Arbeitsbelastung bei der Betreuung des Crawlers. Als nächstes müßte das Programm an die neue Mediathek des ZDF angepaßt werden. Außerdem seien immer mehr unerfreuliche Rückmeldungen hereingekommen. In einem zweiten Thread wird über Möglichkeiten für die Fortsetzung des Projekts diskutiert.

Update, 27. November 2016: Das Programm wird nun doch weitergeführt, heißt es im Forum. Es habe sich ein sehr engagiertes Team zusammengefunden, das das Programm und die Infrastruktur dahinter als Community-Projekt und in Teamarbeit weiterführen werde. Davon unabhängig, aber aus dem Umfeld während der Krise von MediathekView entstanden, ist mediathekdirekt.de, ein reines Web-Interface, von dem aus man Beiträge aus den Mediatheken durchsuchen und als mp4-Dateien herunterladen kann.

Die Frankfurter Buchmesse in zehn Jahren

Ich versuche mir vorzustellen, wie die Frankfurter Buchmesse in zehn Jahren sein wird.

Zunächst glaube ich, daß es sie in zehn Jahren auch noch geben wird. Es ist eher eine Frage der Größe.

E-Books laufen schlecht, und ich glaube nicht, daß sich bis dahin daran etwas ändern wird. Wenn es also in zehn Jahren noch eine Buchmesse geben sollte, wird es dort auch noch gedruckte Bücher geben.

Im Mittelpunkt steht die Veränderung der Öffentlichkeit durch die Digitalisierung. Die Öffentlichkeit fragmentiert sich immer mehr. Die Digitalisierung hat die Gatekeeper beseitigt: Jeder, der etwas publizieren möchte, kann das sofort tun, ohne daß er jemanden davon überzeugen müßte, daß der Content verkäuflich wäre, und ohne dafür prohibitiv hohe Kosten tragen zu müssen. Insoweit treten Buch, Wiki, Blog und soziales Netzwerk nebeneinander. Sie verdrängen einander nicht, haben auch nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun. Sie ergänzen sich, sind aber auch nicht gegeneinander austauschbar. Was heißt das?

Man kann den allgemeinen Trend im Zeitablauf als eine immer weiter zunehmende Kommerzialisierung des freien Netzes lesen. Es gibt aber auch eine entgegengesetzte Sichtweise, nämlich die Entkommerzialisierung des verlegerischen und korporativen Medienbetriebs.

Der Trend geht ziemlich klar in Richtung Entkommerzialisierung des Publizierens: Man findet einfach keinen Verlag mehr für sein Buch und muß es daher selbst erstellen, wenn man etwas veröffentlichen will. Die Verwertungskette Verlag – Buchhandel – Bibliothek – Antiquariat funktioniert immer weniger. Die Erträge lassen nach. Deshalb wird in den Verlagen immer mehr gängige Massenware produziert, alles, was als eine Nische erscheint, was sich „zu speziell“ ausnimmt und daher zu wenig einzuspielen verspricht, geht unter und muß hinter der Content-Mauer erst einmal gefunden werden. Es ist eine Art Hollywoodisierung des Buchgeschäfts.

Umgekehrt läuft der Vertrieb aus der Sicht des Autors rein online: Er inszeniert sich selbst als Experte und geht in Online-Communities, um seine Sachkunde zur Schau zu stellen. Wen das überzeugt, der wird seine Bücher kaufen. Das wird die primäre wirtschaftliche Funktion von sozialen Netzwerken und Blogs aus der Sicht des Publizisten sein.

Die Buchmesse wird daher in Zukunft vor allem noch sehr viel kleiner sein, denn die Selfpublisher brauchen sie nicht, bei ihnen läuft der gesamte Vertrieb online und in und aus virtuellen Netzwerken heraus. Ihr Publikum ist nicht mehr dort, sondern sitzt, wie es früher im Fernsehen hieß, „draußen an den Empfängern“, also an ihren Clients.

Die Verlage, die so eine Messe brauchen, und die Medien, die sich an sie dran hängen, werden sich also auf immer weniger substantielle Inhalte ausrichten. Dadurch wird die Messe einen immer kleineren Teil des Marktes abbilden. Alle Nischen fallen weg.

Am Ende wird sie kein gesellschaftliches Ereignis mehr sein, sondern nur noch eine Show von Massenmedien für Massenmedien, die von denen wahrgenommen wird, die überhaupt noch Massenmedien konsumieren – und das sind ja auch immer weniger.

Wie sich das anfühlt, kann man bei einem Nischenmarkt wie dem für Lehrbücher zu dem Textsatzsystem LaTeX heute schon sehen. Hier habe ich mal alle Lehrbücher und sonstigen Lehrtexte zusammengetragen, die seit 2005 erschienen sind. Jeweils nur die letzte Auflage, also das, was heute noch von Interesse ist auf dem jeweils letzten Stand. Wenn man die Jahrgänge durchgeht, sieht man, daß der Markt 2012 gekippt ist: Seitdem gibt es fast nur noch Bücher im Selbstverlag. Im darauffolgenden Jahr stellte Pearson die Produktion von IT-Büchern ein. Das alles findet auf einer Buchmesse also schon lange gar nicht mehr statt.

Eine untere Grenze für die Größe bzw. die Kleinheit der Messe ist nicht vorstellbar. Am Ende ist womöglich ein einziges Zimmer ausreichend. Oder das Blaue Sofa.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2016

Auf die Frankfurter Buchmesse angesprochen, soll Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt haben: „Das ist eine Verkaufsveranstaltung – damit habe ich nichts zu tun!“

Aber natürlich ist das Geschehen vielschichtig. Der Verkauf ist der treibende Anlaß, aber das Gut, das hier verkauft wird, ist sozusagen der Treibstoff der Informations- und Wissensgesellschaft, der im Kapitalismus natürlich auch eine Ware ist, und je länger ich die Messe besuche, desto mehr nähere ich mich ihr aus vergleichender Sicht.

Ganz klar war früher „mehr Lametta“, das ist überall so. Aber es war auch ingesamt „mehr los“. Heute war zum Auftakt doch ziemlich ruhiger Betrieb. Auch die Taschenkontrolle am Eingang war nicht so neu, wie der Newsletter vorab tat, das gabs auch früher schon, samt Polizeistreifen.

„Rund 10.000 anwesende akkreditierte Journalisten, darunter 2.000 Blogger“ zählt die PR-Abteilung der Buchmesse. Da haben sie wohl auch die Kameraleute und die Strippenzieher von 3sat und Arte noch mitgezählt?

Begonnen habe ich heute tatsächlich als Freebie-Sammler gegenüber vom Blauen Sofa: Das Deutschlandradio Kultur verteilt seine letzten orangenen Kugelschreiber mit dem alten Namenszug, bevor es bald ein neues Sendestudio bekommt und zu „Deutschlandfunk Kultur“ umbenannt wird. Also her mit den schönen Kugelschreibern, denn das ist ein langlebiges Modell. Ein Andenken zu Lebzeiten. Die mit Abstand schönsten Bleistifte gibts diesmal bei DeGruyter und bei Springer Nature.

Nach notwendigen Einkäufen und einem kleinen Mittagsmahl führt mich mein Weg natürlich in die Halle 4.2, und dort nach etwas Umsehen bei den ganz großen in ihren Standlandschaften, zu – ein Tusch! – Brockhaus. Vor einem Jahr wiederauferstanden, hat der schwedische Erwerber die Marke aus der Plattform von Munzinger gelöst, über die die ehrwürdige Enzyklopädie vermarktet worden war, und vertreibt seitdem ein Multimedia-Nachschlagewerk auf einer eigenen Website – die heute abend – wie bitte? – wegen Wartungsarbeiten offline ist. Hm.

Immerhin: Vor dem Hintergrund des Autorenschwunds bei Wikipedia wird die Brockhaus Enzyklopädie, auf die ich seit Jahresanfang dank unserer Stadtbibliothek zugreifen kann, um ein Kinder- und um ein Jugendlexikon erweitert. Das sind eigene Korpora, die auf dem früheren gedruckten Kinder-Brockhaus – den es nicht mehr gibt – aufbauen bzw. abgespeckte Inhalte aus der großen Enzyklopädie für die jugendlichen Leser. Außerdem gibt es neu ein Programm, in dem „Basiswissen“ zum Selbststudium didaktisch aufbereitet wird. Diese Module ergänzen die Enzyklopädie und richten sich speziell an Schüler, die Hilfe beim Nachbereiten des Unterrichts oder bei den Hausaufgaben suchen.

Und daneben steigt Brockhaus ins Schulbuchgeschäft ein und stellt Lehrmaterial bereit, das auf die Lehrpläne der Bundesländer abgestimmt ist. Bisher gibt es dazu einen PR-Bericht und eine Pressemitteilung. Angeboten wird der Zugriff auf den Content aus einführenden Modulen samt Aufgaben. Alles weitere – Internetzugang und Clients – liegt bei der Schule. Die Nutzung erfolgt plattformunabhängig in einem Webbrowser, also keine Apps, keine Einbindung in ein entsprechendes digitales Ökosystem, aber kein kollaboratives Arbeiten. Noch nicht.

Eine Lehrerin, mit der ich ins Gespräch kam, erklärte mir als Hintergrund zu solchen Angeboten, an den Frankfurter Schulen werde sich bis 2018 erst einmal gar nichts tun, was die Technik angeht. Als erstes würden jetzt die Toiletten saniert.

Und Duden legt beim „Klassenzimmer der Zukunft“ einen Flyer aus zur „Learn Attack“ mit WhatsApp-Nachhilfe vom „professionellen Nachhilfelehrer“, „sofort“. Man sprach über den „Nachmittagsmarkt“. Da ist viel Bewegung drin derzeit. Deutschland in der „Bildungspanik“ – so Heinz Bude schon 2011.

Auch über den Schülerduden via Munzinger sprach man. Aber Munzinger ist auf der Messe nicht vertreten.

Überhaupt, ist es ja mittlerweile viel spannender geworden, darüber nachzusinnen, wer alles nicht gekommen ist, als sich anzuschauen, wer diesmal erschien. O'Reilly Deutschland, sozusagen der Suhrkamp unter den Computerverlagen, war letztes Jahr noch da, dieses mal aber wieder nur noch O'Reilly UK.

Die „Verkaufsveranstaltung“ ist eben nicht mehr unbedingt notwendig fürs Marketing. Andererseits merkt man dem Betrieb aber auch die Klassengesellschaft stärker an als früher. Es gab immer schon die Einfamilienhäuser unter den Messeständen, an den großen Kreuzungen gelegen, und hinten raus die Nordsee, ebenso wie die Einzimmerwohnungen in den engen Nebenstraßen. Aber durch den Wegfall der früheren angelsächsischen Halle 8 internationalisiert sich die Szene, und die Kontraste werden härter.

Wie schon in den Vorjahren bloggen auch diesmal Café Digital, u. a. Andrea Diener bei der FAZ und Carmen Treulieb wieder nebenan.

Freitag, 23. September 2016

Büchermarkt II

Diese Woche ist bekannt geworden, daß das Kultur- und das Jugendprogramm ab April 2017 neue Namen erhalten sollen: Deutschlandradio Kultur wird zu Deutschlandfunk Kultur und DRadio Wissen wird zu Deutschlandfunk Nova.

Der Namenswechsel kostet eine Million Euro. Wissen Sie, das alte Briefpapier wird aufgebraucht und die alten Visitenkarten werden aufgebraucht, die sowieso alle paar Monate erneuert werden müssen. Aber das ist dann Normalgeschäft. Beides sind zudem wohl ziemlich unschöne Namen. Hinzu kommt die offizielle Begründung: Der Deutschlandfunk sei bekannter als das Deutschlandradio, deshalb sei es besser, die anderen Programme umzubenennen, dann würden sie auch von mehr Hörern eingeschaltet. Das ist nicht nachvollziehbar, angesichts des dort gleichzeitig erwähnten Zuwachses bei Deutschlandradio Kultur.

Eine Verschiebung der Kultur vom DLF zum Kulturkanal hat der Intendant Willi Steul in dem heutigen Gespräch dementiert. Trotzdem erscheint der Weggang Denis Schecks zum SWR in einem neuen Licht. Es wird wohl doch noch Pläne zum Umbau bei der Kultur geben. Einer wie Scheck gibt so eine Stelle nicht ohne Not auf.

Donnerstag, 22. September 2016

Noch lange nicht vorbei IX

Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus scheint es für schwarz-grün nicht mehr sicher zu reichen. Daher erstmals ganz offen die Diskussion über rot-rot-grüne Koalitionen.

Es ist ein Spiel mit verteilten Rollen, und die SPD bezieht Position für die Arbeithaber und überläßt die Arbeitslosen gerne der Linken. Erst haben sie die Löhne gedrückt und den „Niedriglohnsektor“ geschaffen, und jetzt sorgen sie dafür, daß die Regelsätze einen gehörigen Abstand zu diesen Hungerlöhnen aufweisen. So eben die „Sozialministerin“ in einem Beitrag im Deutschlandfunk. Und der Parteivorsitzende am Wahlabend live auf der Bühne. Nach oben buckeln und nach unten treten, das können sie, und dafür werden sie auch gewählt, von derzeit etwa zwanzig Prozent.

Welche Rolle die Grünen dabei spielen werden, hat sich ihr Geschäftsführer in der letzten Berliner Runde ausdrücklich offengehalten. Alles sei im Fluß, man wisse das heute noch nicht, es könne durchaus sein, daß es im Herbst 2017 am Ende dann doch für schwarz-grün reiche. Dann sei alles wieder ganz anders.

Und der Strom der ehemaligen Nichtwähler und der Linken-Wähler zu den ganz Rechten verweist auf einen völligen Ausfall an politischer Bildung.

So ungefähr.

Jörg Kantel hat gerade die Zustimmung zu CETA zum Anlaß genommen, nach 47 Jahren aus der SPD auszutreten – kaum zu glauben, daß er so lange dort Mitglied war! Claudia Klinger schrieb schon im vergangenen April über die gesellschaftliche Dimension hinter alledem. Über die Netzwerke, die mit dem Abbau der Volksparteien mit kaputtgehen.

Die Gesellschaft fragmentiert in 15-bis-20-Prozent-Partikel. Jeder kümmert sich nur noch um seine Klientel, aber niemand fühlt sich mehr fürs Ganze verantwortlich. Rette sich, wer kann.

So war die nicht vermeidbare Aufnahme der Fremden am Ende nur ein Anstoß, ein Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, um egoistische Stimmungen auszulösen und um ein Hauen und Stechen, alle gegen alle, zu triggern.

Und weil die Verteilungskämpfe aus dem ökonomischen Sektor jetzt in den politischen übergreifen, führen sie zu einem immer weitergehenden Auseinanderfallen. Vollkommen selbstreferentiell, als gäbe es die Welt da draußen gar nicht, als wäre sie bestenfalls ein Stichwortgeber. Der Blick über den Tellerrand hinaus fehlt. Vollkommen logisch daher das Nachdenken über das Schließen von Grenzen, die es schon ganz lange nicht mehr gibt und die es auch nicht wieder geben wird.

Klaus Harpprecht ist gestorben, er war ein Redenschreiber von Willy Brandt. Wie lange die Zeit schon her ist. Die „härteren Tage" sind da.

Sonntag, 18. September 2016

Büchermarkt

Denis Schecks Weggang beim Deutschlandfunk hat der Sendung Büchermarkt gut getan. Sein Nachfolger Jan Drees, der mir bisher vor allem als einer der wenigen lesenswerteren Literaturblogger aufgefallen war, macht ernst und bringt die Indie-Szene ins Feuilleton: Joshua Groß' Faunenschnitt aus dem Fürther Verlag Starfruit Publications wurde gerade von Christoph Schröder besprochen. Und von Wolfgang Herrndorfs Tschick gibts jetzt eine Verfilmung: Ob sie auch für Leser von Interesse sei (Besprechung von Maik Brüggemeyer)? Der DLF wird nun also doch etwas lebendiger. Es könnte sich lohnen, den Podcast der Sendung zu verfolgen.

Dienstag, 13. September 2016

Noch lange nicht vorbei VIII

Der Rechtsruck, der nun auch bei uns angekommen ist, ging ja unter anderem von Österreich aus. Robert Menasse hat heute morgen im Interview im Deutschlandfunk auch für Deutsche verständlich erklärt, wie die Kapitulation des Rechtsstaats durch die großen Koalitionen dort über einen sehr langen Zeitraum hinweg vorbereitet worden war.

Als mir vor ein paar Jahren mal ein Kollege erzählte, wie das in Österreich funktioniert, wollte ich es zuerst gar nicht glauben. Es gibt dort nämlich eine Rechtsquelle, die wir im deutschen Recht nicht kennen, das Verfassungsgesetz. Nach herrschender Meinung ist das ein Gesetz mit Verfassungsrang und gehört damit zum Verfassungsrecht; nach anderer Ansicht ist es einfach nur ein Gesetz, das mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen worden ist, aber eben nur im Range eines einfachen formalen Gesetzes. Solche Verfassungsgesetze wurden in Österreich immer dann erlassen, wenn etwas umstritten war. Sie wurden mit Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen und waren damit der materiellen Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof entzogen. Verfassungsgesetze sind nach österreichischer Auffassung von vornherein verfassungsmäßig, sie können nicht verfassungswidrig sein, denn sie wurden ja mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen. Ihre Verfassungsmäßigkeit wird nicht an der zum Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Verfassungsrecht geprüft. Deshalb wurde auch kaum ein umstrittenes Gesetz in Österreich je vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben, ganz im Unterschied zu Deutschland, wo es ja eher zum Regelfall geworden ist, die abenteuerlichsten Dinge im Parlament zu beschließen, weil sie später sowieso wieder „von Karlsruhe“ aufgehoben werden. Keine Sorge, Karlsruhe wird das wieder richten. „Der Gang nach Karlsruhe“ ist zum geflügelten Wort geworden – an sich ja auch schon ein Skandal. Karrierebewußte Abgeordnete verlassen sich darauf und stimmen schon auch mal dafür, wo es substantielle Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit gibt. So erzählte das zumindest mal der ehemalige SPD-Abgeordnete Tauss, als seine politische Karriere zuende ging und er infolge der nach ihm benannten Affäre aus dem Parlament ausscheiden mußte. Diese Korrektur der Politik durch die Rechtsprechung, das Primat des Rechts über die Politik, kann man also in Österreich umgehen, indem man möglichst große Koalitionen bildet, die Verfassungsgesetze erlassen, um den Rechtsstaat auszuhebeln.

Menasse sieht darin eine Aushöhlung des Rechtsstaats, die sich aktuell auswirke: Die österreichische Verfassung ist systematisch zur Ruine gemacht worden. … Und mit der Begründung dieser Papierruine, die wir haben, macht jetzt das österreichische Verfassungsgericht, das die Wiederholung der Bundespräsidentenwahl lediglich auf formale Fehler bei der Auszählung, nicht auf Fehler im Ergebnis oder auf konkrete Manipulationen gestützt hatte – mit dieser Begründung mache also der Verfassungsgerichtshof die Republik zur Ruine, und das ist unerträglich. Indem sie gegen das Wahlergebnis vorgegangen sei, habe die FPÖ nichts anderes getan als die AfD in Deutschland. Beide Parteien liege daran, dieses System zu zerstören. Sie zerstören eine Republik, sie zerstören demokratische Strukturen im Namen der Demokratie. Und jetzt frage ich Sie: Erinnert Sie das an etwas?

Zumal eine Wahlwiederholung gar nicht möglich sei: Mittlerweile sind nämlich schon jetzt mehr Menschen, die wahlberechtigt waren bei dieser Wahl, gestorben, als der Stimmenunterschied zwischen den Kandidaten war. Es seien aber auch mehr Menschen wahlberechtigt geworden, also ins wahlberechtigte Alter gekommen, als Stimmendifferenz war zwischen diesen beiden Kandidaten, und die wiederum dürfen nicht wählen, weil nur die wählen dürfen bei der Wahlwiederholung, die schon damals wahlberechtigt waren. Das heißt, eine enorme Anzahl von Österreichern darf nicht wählen, muss aber dann sechs Jahre mit diesem Bundespräsidenten leben, und eine enorme Anzahl von Österreichern, die gewählt hat, kann nicht noch einmal wählen, weil sie bereits verstorben sind.

So werden Unregelmäßigkeiten erst geschaffen.

Geh'mer Tauben vergiften im Park?

Montag, 12. September 2016

NPR und CBC

Die Website von NPR ist wieder einen Schritt weiter auf seiner Website: Der Player läuft weiterhin ohne Flash, man kann jetzt aber auch zwischen dem bundesweiten Program Stream und fünfzehn (in Zahlen: 15) Musik-Streams umschalten. Und solange man auf der Website bleibt, spielt der Player weiter. Im Desktop-Player – wie gehabt – als MP3 und AAC.

Die kanadische CBC hingegen hat ihren Service deutlich zurückgefahren. Die 128er-Livestreams wurden für die Wiedergabe im externen Player im Ausland gesperrt. Auf der Website spielt nur noch Radio One (ohne Flash). Die offiziellen Livestream-URLs wurden auf 48 kb/s gedrosselt. Für das Kulturprogramm Radio 2 gibt es nur noch zwei internationale Streams – mit derselben Datenrate. Die weiteren Livestreams sind gleich ganz geo-geblockt.

Sonntag, 11. September 2016

Noch lange nicht vorbei VII

Was derzeit innenpolitisch geschieht, ist nicht überraschend. Man konnte es erwarten, denn es wiederholt sich im wesentlichen, was jahrelang in Österreich vorausgegangen war. Um das zu bemerken, hätte man die Entwicklung dort verfolgt haben müssen, natürlich. Die wenigsten tun das, aber ich mittlerweile schon, denn es lohnt sich. Es reicht für den Anfang schon ein Blick auf den derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf. Marlene Streeruwitz hat das gerade im Standard kommentiert, und sie schreibt auf ihrer Website dagegen an mit einem Wahlkampfroman, in wöchentlichen Fortsetzungen. Weil der Roman als Kunstform die einzige Möglichkeit ist, abstrakte Verhältnisse wie eine politische Entscheidung auf das Leben zu beziehen und damit den Sonderfall des Allgemeinen herauszuarbeiten.

Ich glaube auch, es ist ernst geworden, es kommt darauf an, und die Ursachen liegen in erster Linie im Widerstand gegen die Modernisierung der Gesellschaft im ganzen – technologisch, ideologisch, sozial. Nicht nur in Europa, übrigens, sondern auch in den USA, wo Hillary Clinton gerade die Wähler von Trump wahrscheinlich ziemlich zutreffend beschrieben hat. Es ist eine Art modernitätsfeindliche, antimoderne Gegenströmung, die zwar eine Minderheit ist, aber eine doch ziemlich umfangreiche, so sehr, daß man nun nicht mehr an ihr vorbeikommt. Die jahrelang in der Schweigespirale war. Es ist die alte Stahlhelmfraktion bzw. deren Nachkommen, es sind Modernisierungsverlierer (wer ist das nicht?) und es sind Leute, die einfach nicht mehr mitkommen, die die immer komplexer werdende Welt nicht mehr verstehen und die nicht anders! rufen, sondern zurück! Die endlich wieder bleiben wollen, wo sie nie gewesen sind und wo kein Weg hin führen kann. Denn es geht ja nur nach vorne, niemals rückwärts.

Mit der Zeit zeigt sich ein Profil der Reaktion.

Und das alles muß man erstmal aushalten können. Siehe Armin Nassehi über die Allensbach-Umfrage zu der zunehmenden Angst unter den 30–59-Jährigen.

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