albatros | texte
Dienstag, 10. Juni 2014

Durch das Grau hindurch

„Der Morgen graut“: Dunkelmattes Grün. Bäume vor blauweißem Himmel, und die Vögel zwitschern genauso laut wie die A3. Kraftlose Farben – und ein Buch, fast ausgelesen am Ende der Nacht – als wolle die Natur die Sinne schonen mit der spärlichen Kraft. Oder als arbeite sich die Farbe erst noch durch das Grau hindurch oder hervor, immer mehr, immer heller, bis die Sonne zu sehen ist, die dann immer wärmer strahlt, bis das Grau fast ganz weg geht und die Farben die Welt zurück erobert haben. Und das Leben.

Mittwoch, 26. März 2014

Die Schrift wird zum Leben

Das Blog ist kein bloßes Tagebuch, denke ich beim Blättern in Sloterdijks „Zeilen und Tage“. Mit dem Tagebuch teilt es die Kurzlebigkeit: Wer greift schon auf ein Blog über den Kalender zu und sucht Beiträge aus einem bestimmten Monat vor x Jahren heraus? Man kann das machen, aber wer macht es? Und doch: Sloterdijk war auf seine Weise ein Blogger, wie auch Max Frisch in seinen Tagebüchern gebloggt hatte. Irgendwie, ja. Und früher schon Tucholsky, natürlich. Und Kafka? Kafka auch? – Beckett? Eher weniger. Aber Arno Schmidt – ganz sicher. Und Heine. Aber das Schreiben im Netz? Man schreibt am Ende nur für sich. Wer es liest, wenn überhaupt, kann dahingestellt bleiben. Ist nicht notwendig. Man schreibt Notizbücher voll und Blogs und Wikis, und dieser Strom aus Notaten und Gesängen und Empörung und Leiden und Hoffnung füllt am Ende die Welt. Die des Autors und die des Lesers, erst ein bißchen und dann immer mehr. Sie wird zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit wird zum Leben. Die Schrift wird zum Leben. Und das Leben wird wirklich durch das Schreiben. Auch durch das Bloggen.

Donnerstag, 20. März 2014

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XV

„Hören Sie die Vögel, die die ganze Nacht hindurch zwitschern“, fragte Karsch. – „Als wollten sie die Nacht hingwegsingen und den Tag herbei“, überlegte Kersch. „Den Frühling herbeisingen, bis er endlich da ist.“ – „Den Frühling, und dann auch den Sommer, der auf den Frühling folgen wird. Folgen muß, wie in jedem Jahr.“ – „Ja. Wie schön das ist.“

Dienstag, 25. Februar 2014

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XIV

„Bemerken Sie, wie das Licht sich geändert hat in den letzten Tagen?“ fragte Karsch. „Es ist jetzt sehr viel kräftiger geworden. Hell und klar. Noch kühl, aber die Kraft des Lichts dringt in die Menschen, und das fühlt sich gut an.“ – „Auch die Dämmerung dauert deutlich länger jetzt, und sie setzt schon später ein. Die Luft ist trocken und klar.“ Korsch schaute noch lange aus dem Fenster: „Noch sind die Zweige an den Bäumen kahl und wirken wie Scherenschnitte gegen den spätwinterlichen Himmel.“

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XIII

„Haben Sie bemerkt, daß in diesem Jahr vieles zuende gegangen ist, ohne daß anstelle dessen etwas Neues begonnen hätte?“ fragte Karsch. — Kersch, nachdenklich: „Es ist aber noch nicht alles zuende. Das Jahr selbst ja auch noch nicht.“ — „Das stimmt. Und die ungewöhnlich milde Witterung zum Winteranfang scheint wie ein Signal zu sein, den Winter gar nicht erst beginnen zu lassen und direkt vom Herbst in den Frühling überzugehen.“ — „Der Sonne und dem Licht entgegen. In drei Monaten beginnt die Sommerzeit.“ — „Und die Zugvögel kommen dann auch wieder zurück.“ — „Beginnt dann etwas Neues?“

Mittwoch, 30. Oktober 2013

Begegnung im Stadtwald

Er sei jetzt über neunzig, sagt er, und er sei immer in Bewegung gewesen in seinem Leben. Mitglied im Alpenverein. Viele Berge habe er bestiegen. Den Großglockner zum Beispiel. Auch im Himalaya sei er gewesen. Immer nach oben. Immer selbständig gearbeitet, daher viel Zeit für Hobbies. Als er jung gewesen sei, habe er nicht viel über das Altsein nachgedacht. Und jetzt sei es eben so gekommen, sagt er. Herrn L. habe er schon lange nicht mehr gesehen. Aber wahrscheinlich lebe er noch. Wir sprechen über eine Vorsorgevollmacht. Und über Demenz. Ja, davon habe er gehört, vor kurzem erst in einer Fernsehsendung, und das habe es früher ja kaum gegeben. Früher seien die Leute nicht so alt geworden. Übrigens sei die Sonne schon hinter den Bäumen, sie stehe jetzt schon sehr schräg, zwei Stunden bevor sie untergeht.

Samstag, 5. Oktober 2013

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XII

„Bemerken Sie eigentlich, wie man sich selbst blockieren kann, indem man nicht aufräumt, so daß kein Platz für Neues bleibt?“ fragte Karsch. „Bevor man dann wieder weitermachen kann, muß man natürlich das Alte erst einmal wegräumen, um Platz zu machen.“ Kersch blickte unter sich. Karsch wies auf einen Stapel mit altem Papier: „Das sind ungefähr fünf Jahre unaufgeräumtes, nicht abgeheftetes Leben, die Sie hier sehen.“

Kersch wiegte skeptisch den Kopf.

Samstag, 28. September 2013

Das Spiel ist aus

Es ist kühl geworden, und der Herbst setzt gelbe, braune und rote Tupfen in die Bäume. Wenige Spinnennetze. Und überall liegen Eicheln umher. Ab und an ein Pilz im Gras, und das erste welke Laub ist zu Boden gefallen.

Der kleine Elfmeterschütze läuft an, schießt und trifft ins Tor. Er hebt die Arme in die Höhe, als hätte er die ganze Welt besiegt. Der unterlegene Tormann wirkt wütend. Er läuft aus dem Tor heraus und zieht sich die Handschuhe aus, er wirft sie weg. Die kleinen Fußballer wechseln die Rollen, jetzt steht der andere im Tor, der Trainer legt erneut den Ball zurecht. Anlauf, Kick und – Tor. Applaus. Dann räumen die Zuschauereltern alles zusammen, man geht.

Das Spiel ist aus. Nur wir bleiben auf der Bank sitzen und schauen ihnen nach. Wind kommt auf.

Freitag, 27. September 2013

Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XI

Kersch freute sich über den Herbst, obwohl er dieses Jahr etwas zu früh begann, wie er meinte. Kühle Luft, in der Sonne war es aber weiterhin warm. Auf dem Rückweg hatte er mehrere schwarze Käfer, die mit zappelnden Beinen auf dem Rücken umherlagen, umgedreht – und dabei natürlich an Kafka gedacht. Die Käfer schienen dankbar zu sein für seine Hilfe. Sie krabbelten sofort weiter in Richtung Wegrand, um nicht länger auf dem Waldweg zu bleiben, wo schon viele von ihnen von Radfahrern und Spaziergängern überfahren und plattgetreten worden waren.

Samstag, 7. September 2013

Jetzt

Seit etwa drei Wochen wußte sie, daß sie eine andere Bibliothek brauchte, keine völlig andere als bisher, aber eine, die besser zu ihrem derzeitigen und ihrem künftigen Leben passen würde. Sorgsam sah sie jedes Bücherbord durch, prüfte die Bände auf ihre weitere Brauchbarkeit, las in das eine hinein, durchblätterte andere und sortierte aus, was sie nicht mehr benötigen würde auf ihrem Weg, den sie für sich gewählt hatte. Das Weglegen, Weggeben, Wegwerfen erleichterte sie. Sie fühlte sich leichter mit jedem Buch, mit jedem Leitzordner, dessen sie sich entledigte. Es erinnerte sie an einen Ballon, dessen Besatzung Sandsäcke abwarf, um leichter steigen zu können, und das gefiel ihr. Es fühlte sich gut an, leichter zu werden und sich darauf vorzubereiten, möglichst weit davonzufahren. Neue Ziele anzupeilen, die Segel zu setzen und neue Welten zu erfahren, die noch vor kurzem in unerreichbarer Weite schienen. Jetzt waren sie immer noch genausoweit weg wie je, aber sie schienen leichter erreichbar zu sein als bisher. Wer wollte sie noch festhalten, jetzt?

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