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Alle Macht dem Zertifikat

Die überaus nervösen Reaktionen auf den Zertifikats-GAU bei Firefox (binnen eines Tages 1000 Beiträge im Heise-Forum, 420 bei Hacker News) zeigen, wie anfällig ein Sicherheitskonzept ist, das auf Add-Ons beruht – und wie viel Kontrolle Mozilla über seine Produkte tatsächlich ausübt. Und wie abhängig die Freie Software von ihrem einzigen verbliebenen Browser-Projekt ist.

Die bei Heise empfohlene Lösung in about:config funktionierte nicht: Am Ende des Tages stellte sich heraus, dass man die Zertifikatsprüfung im normalen Firefox nicht händisch abschalten konnte, nur in der Nightly-Version (manchen Berichten zufolge auch in der ESR-Version) soll es funktioniert haben; und dass nicht der User, sondern der Hersteller das letzte Wort hat. Angeblich um zu verhindern, dass Erweiterungen von Installern ungefragt und unkontrollierbar in den Firefox-Profilordner geschrieben werden.

Wütend und enttäuscht reagierten vor allem Linux-Anwender, die sich am ganz langen Hebel wähnten. In de.comm.software.mozilla.browser war einiges zu lesen. Zumal die Erweiterungen nicht erst nach einem Neustart ausfielen, sondern im laufenden Betrieb ohne Vorwarnung direkt abgeschaltet wurden. Ein Fenster ging auf, und weg waren sie. Und der Hotfix wurde dann nicht als Update, sondern per „Studien“ verteilt, was nur funktionierte, nachdem man diese wieder eingeschaltet und die Übertragung von Telemetrie-Daten aktiviert hatte. Dieses Pflaster gabs aber nur für den regulären Firefox, nicht für ESR und auch nicht für die mobile Version.

Manch einer wird nach mehr als zehn Jahren mal wieder für Stunden ein Internet ohne Werbeblocker erlebt haben. Und mit den mühsam selbst gestopften Sicherheitslücken. Der Zwischenruf eines Users in der Mozilla-Browser-Newsgroup

Das ist mein Rechner und auf dem entscheide ausschließlich ich, was da läuft und sonst niemand!

wird noch länger nachhallen.

Die Schrift wird zum Leben VI

Das Bloggen gleicht inzwischen dem Schreiben auf einer alten Triumph Adler. Hemmungslose Lektorats- und Redaktionsfreiheit. Deadlinefreiheit. Leserfreiheit. Kein anderes Medium derart in der Lage, das Durcheinander, die Skizze, die Beobachtung und den Gedanken, die haltlose Assoziation und den hinfälligen Zusammenhang in ähnlicher Diskretion, ähnlicher Verantwortungslosigkeit, ähnlicher Willkür aneinanderzureihen. Das Fotografieren, genauso Augenblicksprotokoll wie Projektionsfläche für alles mögliche, das Notat, je kürzer desto interpretierbarer, der Name Goncourt, irgendwann im Fluge aufgeschnappt, dann mit Wörtern, Gesten, Blicken gefüllt, dann wieder entleert.

Goncourt's Blog, On blogging, 20. März 2019

Such a Shame

Ja, Mark Hollis' Tod liegt schon wieder ein paar Wochen zurück, und ich hinke etwas hinterher, aber dafür gibt es einen guten Grund, nämlich die Veröffentlichung des neuen Albums von Andy aka Richard Andrews The Golden Fascination auf Bandcamp heute Abend. Hören, bitte. Ehemals Uniform Motion mit vielen Releases im Internet Archive und im Free Music Archive. Suchen, bitte. Im Jahr 2013 coverten sie Such a Shame, und das kann man durchaus mal wieder spielen, obwohl all rights reserved:

Bonus track: The Neon Nest, Live at the Pacé Library aus dem Jahr 2014 (cc-by-nc-sa 3.0):

Klingt schon etwas anders 2019 – Decipher, all rights reserved:

Neuerscheinungen zur Netzpolitik XVIII

Geert Lovink hat ein neues Buch geschrieben. Der Essay, der dem Band den Namen gab, ist bei Eurozine vorab zu lesen. Er erscheint im Mai.

  • Lovink, Geert. 2019. Sad by design. Eurozine. 10. Januar. www.eurozine.com (zugegriffen: 13. Januar 2019).

aus:

  • Lovink, Geert. 2019. Sad by design. On platform nihilism. London: Pluto Press.

TeX: A branch of desktop publishing evolution

Die letzte und die folgende Ausgabe der IEEE Annals of the History of Computing widmen sich der Geschichte des Desktop Publishings. Darin auch ein zweiteiliger Aufsatz zur Geschichte von TeX:

  • Barbara Beeton, Karl Berry, and David Walden: TeX: A branch of desktop publishing evolution. In: IEEE Annals of the History of Computing, 2018 and 2019. Part 1: vol. 40, no. 3, pp. 78–93, July-September 2018. doi.orgieeexplore.ieee.org

Ergänzende Materialien findet man auf der Website der TeX Users Group.

Some TeX Developments, TeX und GitHub, Org-mode 9.2, MediaWiki2LaTeX, Variable Fonts

Das neue TeX-Jahr beginnt mit einem Glückwunsch an Joseph Wright: Nachdem bereits TeX & Friends auf sein Zehnjähriges zurückgeblickt hatte, ist es heute auch für Some TeX Developments soweit, wie wir nebenan lesen.

Das Beispiel zeigt: Die teXnische Blogosphäre hat sich etabliert, auch wenn die Abrufzahlen im Vergleich eher niedrig sind, leisten doch auch die Blogs einen wertvollen Beitrag zur Information und zur Dokumentation über die Mitgliederzeitschriften und die Webforen hinaus.

Joseph Wright hat aber auch noch einmal bekanntgegeben, dass er sein Blog von WordPress auf GitHub Pages umgestellt habe. Dementsprechend liegt der RSS-Feed nun unter www.texdev.net, und das eigentliche Blog liegt nicht da, sondern dort. Etwas verwirrend. Aber: Der Trend zu kommentarlosen Blogs hält also an, ich bin nicht der einzige, der es so macht. Und auch der Trend zu Blogs mit statischen Seiten ist ungebrochen.

Bleibt nur zu hoffen, dass es den TeX-Projekten mal nicht auf die Füße fallen wird, dass man in der Zeit ab 2018 so sehr auf GitHub gesetzt hatte. Nach dem LaTeX Project und der englischen TeX-FAQ nun also auch Blogs. Dezentralisierung wäre angesagt.

Der auch von TeX-Anwendern häufig verwendete Org-mode beispielsweise betreibt sein eigenes Git-Repositorium. Zwischen den Jahren wurde Version 9.2 veröffentlicht, die ggf. einige Änderungen in der Konfiguration erforderlich macht. – Beim 35C3 hat es eine Assembly von Karl Voit zu Org-mode gegeben – kein Video, aber die Gliederung zum Vortrag ist veröffentlicht worden, wie sich das halt so gehört für einen Talk zu einem Outliner.

Über MediaWiki2LaTeX hatte ich zuerst (und zuletzt) 2013 geschrieben. Dirk Hünninger hat sein Projekt jetzt in einer neuen Version auf WMFLabs bereitgestellt. Man kann damit nicht nur Seiten aus Wikimedia-Projekten, sondern beliebige MediaWiki-Seiten online nach PDF, EPUB oder ODT wandeln. Der LaTeX-Quelltext kann gezippt heruntergeladen werden. Das Projekt steht unter einer GPL-Lizenz und steht nicht auf GitHub, sondern auf Sourceforge zur Verfügung.

Zum Schluss ein Hinweis auf einen Beitrag zur Typografie: Christoph Zillgens erklärt in t3n , was es mit Variablen Fonts auf sich hat, ein neues OpenType-Feature, das man in der deutschsprachigen Wikipedia noch vergebens sucht, nur die englische und die russische haben dazu einen Artikel. Und natürlich das Typolexikon von Wolfgang Beinert. Seit Ende 2018 sollten demnach alle relevanten Webbrowser Variable Fonts unterstützen, so dass man sie demnächst wohl denn auch häufiger sehen wird.

Zweimal ConTeXt und Open Access für TUGboat

Stefan Kottwitz weist auf eine neue Einführung zu ConTeXt hin, die Axel Kielhorn auf GitHub veröffentlicht hat. Context-Intro erklärt auf insgesamt 45 Seiten, was es mit der Alternative zu LaTeX auf sich hat. Das PDF ist etwas versteckt in einem Unterverzeichnis zu finden.

Weitere Einführungen findet man übrigens in der Zeitschrift der TeX Users Group TUGboat, in der mindestens 16 Aufsätze zum Thema erschienen sind, zuletzt ConTeXt for beginners von Willi Eggers. Es gibt dort aber sicherlich noch mehr Beiträge, die ConTeXt betreffen, interessant dürfte auch Exporting XML and ePub from ConTeXt von Hans Hagen sein.

Was uns zu der revidierten Open-Access-Policy von TUGboat führt: Seit diesem Jahr ist das Online-Archiv der Zeitschrift allgemein zugänglich. Nur die jeweils neueste Ausgabe bleibt zunächst den Mitgliedern vorbehalten. Viel Stoff zum Stöbern, also. Ein Fundgrube für TeX-Anwender.

Der Trend zum freien Zugriff steht leider in einem gewissen Widerspruch zur Praxis in der TeX-Gemeinde, was die Kommunikation angeht. Man zieht sich immer mehr auf die geschlossenen Kanäle zurück und vernachlässigt die öffentlichen Listen und Newsgroups. So wurde denn auch die Veröffentlichung von Context-intro zuerst in der geschlossenen Vereins-Mitgliederliste von DANTE bekanntgegeben und danach erst anderweitig verbreitet. Der Trend zum digitalen Biedermeier, in dem sich die geschlossenen Hinterzimmer immer weiter ausbreiten, dürfte im ganzen nachteilig für TeX and Friends sein. Ich wurde vor etwa 20 Jahren nicht zuletzt deswegen auf LaTeX aufmerksam, weil die Community damals sehr offen aufgetreten und unmittelbar zugänglich war, jedenfalls zugänglicher als heutzutage. Freie Software gehört ins freie Web.

Neuerscheinungen zur Netzpolitik XVII

  • Böhm, Markus. 2018. Manipulation der US-Öffentlichkeit: Das verraten zwei neue Studien über Russlands Propaganda. Spiegel Online, 18. Dezember, Abschn. Netzwelt. www.spiegel.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
  • Brühl, Jannis. 2018. Merkel warnt vor „Vernichtung der Individualität“. sueddeutsche.de, 4. Dezember, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 5. Dezember 2018).
  • Endt, Christian. 2018. Aktivisten stellen alle Bundesgesetzblätter ins Netz. sueddeutsche.de, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 10. Dezember 2018).
  • Fanizadeh, Andreas. 2018. Oodi-Bibliothek in Helsinki: Bollwerk gegen Populismus. Die Tageszeitung: taz, 17. Dezember, Abschn. Kultur. www.taz.de (zugegriffen: 17. Dezember 2018).
  • Hermann, Jonas. 2018. Haben Bots die Debatte um den Migrationspakt einseitig beeinflusst? Neue Zürcher Zeitung, 13. Dezember, Abschn. Deutschland. www.nzz.ch (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
  • Lembke, Gerald und Ingo Leipner. 2018. Die Lüge der digitalen Bildung: warum unsere Kinder das Lernen verlernen. 3., überarbeitete Auflage. München: Redline Verlag.
  • Muth, Max. 2018. Wann ist ein Bot ein Bot? Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember, Abschn. digital. www.sueddeutsche.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).
  • N.N. 2018. Urteil: Krankenkassen dürfen Foto von Versicherten nicht dauerhaft speichern. Spiegel Online, 18. Dezember, Abschn. Wirtschaft. www.spiegel.de (zugegriffen: 18. Dezember 2018).

Nachtrag am 19. Dezember 2018: Laut dpa haben sich CDU und Bündnis 90/Die Grünen in Hessen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. In der neuen Landesregierung werde es

ein neues Digitalministerium unter Führung der CDU geben

liest man in der Frankfurter Rundschau.

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