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Eine Katze in der Nacht
ruft so laut sie kann
so lange sie kann
ruft der Welt
ruft mir
wie traurig sie ist und
wie sie mich bräuchte
Eine Katze in der Nacht
ruft so laut sie kann
so lange sie kann
ruft der Welt
ruft mir
wie traurig sie ist und
wie sie mich bräuchte
Beim Durchlesen meine Feedreaders bemerkt, dass das Interesse am Bachmannwettbewerb bzw. -bewerb sich dieses Jahr in deutlichen Grenzen hält. Angestaubtes Prozedere, schreibt Claudia, und die Zeit hat den Klagenfurtblues. Ich archiviere die Texte wie jedes Jahr und finde kaum einen darunter, in dem ich mich auf Anhieb verliere, der mich in sich hinein zerrt. Der Volltext erinnert in seinem Newsletter an einen Text von Kathrin Passig, die 2016 in Bezug auf Klagenfurt feststellte:
Jeder darf hinein in den Literaturbetrieb und zuschauen, wie die Wurst hergestellt wird.
Aber keiner darf fehlen, alle machen mit. Von den Bachmannpreisträgern hat man selten später noch etwas gehört. Die Bestseller schreiben ganz andere, und auch die Literaturwissenschaft beschäftigt sich selten mit ihnen. Und die mediale Inszenierung der Literaturkritik ist auch unglaubwürdig, denn die Juroren kennen die Texte, die sie auseinandernehmen, schon lange vor den Lesungen und sind dadurch freilich dem Publikum um mehrere Schritte voraus. Aber wie gelehrt sie erzählen können. Kafka hatte wohl doch Recht:
Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.
Die Erben des Typografen Jan Tschichold haben dessen Nachlass als Schenkung an das Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig gegeben.
Die Deutsche Nationalbibliothek hat in einer Pressemitteilung vom 13. Juni 2019 bekanntgegeben, dass die Digitalisierung des Nachlasses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werde. Die Digitalisate sollen nach entsprechender Erschließung über die Deutsche Digitale Bibliothek online frei abrufbar sein:
Nachlass Jan Tschichold wird mit DFG-Förderung digitalisiert
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Digitalisierung und Erschließung des Nachlasses von Jan Tschichold. Der Nachlass befindet sich im Deutschen Buch- und Schriftmuseum (DBSM) der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Leipzig. In einem achtzehnmonatigen Projekt werden ausgewählte Teile des Nachlasses digitalisiert und erschlossen. Das Projekt wird mit circa 110.000 Euro gefördert. Die Digitalisate werden mit Normdaten versehen und über das Portal der DNB weltweit im Netz zugänglich gemacht. Gleichzeitig werden die Materialien unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Patrick Rössler von der Universität Erfurt inhaltlich erschlossen. Noch nie war ein so tiefer und einfacher Blick in die Werkstatt Tschicholds möglich. Zum Abschluss des Projektes wird eine Buchpublikation und eine Tagung die Ergebnisse zusammenfassen.
Jan Tschichold war einer der bedeutendsten Typografen und Schriftgestalter des 20. Jahrhunderts. Er wirkte im Umfeld des Bauhauses und gilt dort als Stichwortgeber für die sogenannte Neue oder Konstruktive Typografie. Nach dem zweiten Weltkrieg orientierte er sich zunehmend an traditionellen Vorbildern und veröffentliche zahlreiche typografiehistorische Werke und Lehrbücher zur Schriftgestaltung.
Die Erben Jan Tschicholds schenkten dem DBSM den Nachlass, damit er für Forschung und Lehre dauerhaft zur Verfügung steht. In den letzten Jahren gehörte er zu den meistgenutzten Nachlässen des Museums. Je mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Künstler und Künstlerinnen und Studierende den Nachlass vor Ort sichten, desto stärker wird er aber auch in Mitleidenschaft gezogen. Die Digitalisierung ist ein guter Weg, um vielen Menschen einen Einblick in den Nachlass zu ermöglichen und ihn dabei bestmöglich zu schonen. Dabei ist es besonders wichtig, die Digitalisate mit treffenden Beschreibungen (sogenannten Metadaten) anzureichern, damit Nutzerinnen und Nutzer genau das finden können, was sie suchen. Nach der Digitalisierung werden die Daten Teil der Deutschen Digitalen Bibliothek und von Europeana, dem europäischen digitalen Kulturportal.
Noch bis zum 6. September 2019 ist in Leipzig die Ausstellung „Jan Tschichold – ein Jahrhunderttypograf?“ zu sehen. Die Ausstellung, zu der der Wallstein-Verlag eine reich bebilderte Publikation veröffentlicht hat, rekonstruiert an einer Auswahl der interessantesten Stücke aus dem Nachlass den Lebens- und Schaffensweg Tschicholds.
Mehr Bekanntheit verdient ein Service der Bibliothek der Deutschen Bundesbank. Alle 14 Tage veröffentlicht man dort eine Bibliographie von Zeitschriftenaufsätzen , in der man einen Überblick vorwiegend über das wirtschaftswissenschaftliche Schrifttum zu volks- und finanzwirtschaftlichen Themen bekommt. Ausgewertet werden aber auch rechtswissenschaftliche und sozialpolitische Zeitschriften. Jede Ausgabe schließt mit dem Punkt „8.3 Digitalisierung“. Die Halbmonatliche Bibliographie gibt es seit 1972, die Online-Ausgabe seit 2005. Am 15. März 2019 erschien die Ausgebe Nr. 1100. Auf der Website der Bundesbank sind derzeit alle Ausgaben zurück bis Anfang 2016 frei abrufbar. Ältere Hefte werden in Bibliotheken gesammelt.
Tom Strohschneider, der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschlands, referiert im OXI-Blog die Kritik an der grünen Sozialpolitik und kommt zu dem Ergebnis, dass die Trends, die man derzeit beobachten kann, nicht eindeutig seien. Zwar sei der Kern der grünen Partei ganz sicherlich bei den „Besserverdienenenden“ zu verorten, denen das untere Drittel der Gesellschaft herzlich egal ist. Es sei aber auch dort vieles in Bewegung gekommen. Schon die DIW-Studie über die Wählerschaft der Parteien aus dem Jahr 2016 sei mittlerweile veraltet. Zustrom komme aus allen möglichen Richtungen (mit Ausnahme der ganz Rechten, freilich), sogar Arbeitslose seien als Grünen-Wähler gesichtet worden, und er endet:
Die Grünen – als Partei, als Anhängerschaft – verändern sich gerade ziemlich schnell und gravierend, so wie andere Parteien auch. Die Frage ist nur, in welche Richtung, warum und welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen möchte. Klischees über die Grünen jedenfalls, aus welcher Ecke auch immer sie kommen mögen, tragen nicht viel zur Erklärung des Aufstiegs der Partei bei, noch taugen sie für die notwendigen Debatten über die politischen Schlussfolgerungen und Optionen, ganz gleich, ob man damit Grün-Rot-Rot auf Bundesebene meint oder etwas anderes.
Meine These wäre, dass das Ziel einer grünen Politik vor allem in einer Stabilisierung des eigenen Wachstums zu sehen wäre. Die Neuzugänge kommen aus allen Richtungen, vor allem aber von CDU und FDP, die kann man nicht langfristig mit einer sozialen Politik halten. Wer hier liefern will, kann nicht Grün-rot-rot auf Bundesebene machen. Die Umverteilung von unten nach oben muss weitergehen, für eine wirklich andere Politik gibt es keine Mehrheiten. Klar ist da etwas in Bewegung gekommen. Aber soviel Bewegung ist nun auch wieder nicht.
In meinem letzten Beitrag hatte ich – zugegeben: etwas flapsig formuliert – mehr Wissenschaft und Literatur gefordert. Was meine ich damit konkret? Zunächst zur Wissenschaft (später mehr zur Literatur):
Ich habe ziemlich weitgehend bereits die Suchmaschinen durch OPACs und insbesondere durch Discovery-Dienste mehrerer Bibliotheken ersetzt. Das heißt, ich gebe einen Begriff, der mir fremd ist oder allgemein: über den ich mehr erfahren möchte, in das Suchfenster meines Webbrowsers ein und frage mehrere OPACs ab. Der nächste Schritt ist dann ein Klick auf „Artikel und mehr“. Es ist eigentlich egal, wo man das tut, auch ein paar Fachportale der Fachinformationsdienste beziehe ich mit ein, das Ergebnis ist immer gehaltvoller als das, was mir die Suchmaschinen anzubieten haben, und sei es nur, weil durch die Sacherschließung ein brauchbarer Einstieg in neue Themen erleichtert wird und weil durch den Zugang zu Ressourcen, auf die ich Zugriff habe, Informationen direkt verfügbar sind und nicht als zweiter Aufguss.
Die Suchmaschinen sind mittlerweile so kaputtoptimiert worden, dass immer der suchmaschinenoptimierte Content ganz nach oben gespült wird und die eigentlich interessanten Websites darunter verschwinden. Suchmaschinen lohnen sich nur noch, wenn man sehr gezielte Abfragen macht. Wie das geht, wurde im März in der c't auf aktuellem Stand erklärt. Da ging schon mal mehr, viel mehr, wurde alles abgeschafft (ich glaube, ich werde alt, kann das sein?). Das gilt übrigens auch für Bibliothekskataloge, auch dort wird es zunehmend schwieriger, gezielte Abfragen durchzuführen. Aber faktisch leisten die OPACs und die Discovery-Dienste zum Lernen heute das, was früher bei mir auch die Suchmaschine konnte, heute aber nicht mehr kann.
Es ist etwa ein Jahr her, dass mir gar nichts anderes mehr übrig blieb, als mich darauf einzustellen. Und die Entwickler der OPACs wären sicherlich gut beraten, einmal darüber nachzudenken, wieviel „Suchmaschine“ in einem OPAC stecken sollte. Weniger ist mehr. Trust me.
Auch diese Veränderung in meinem Such- und Informationsverhalten ist ein ganz praktisches Indiz für die Zunahme der Ungleichheit bei der Bildung, also für die digitale Spaltung, was den Zugang zu Information angeht. Das bessere Angebot verdrängt das schlechtere, aber mit dem „besseren“, also mit dem qualitativ hochwertigeren Werkzeug muss man ja erst einmal umgehen lernen. Wenn man jetzt noch bedenkt, dass Recherche-Kurse in der Erwachsenenbildung so gut wie nicht mehr stattfinden, seit die meisten meinen, googlen reiche aus, mehr brauche es nicht, deshalb buchen sie solche Kurse nicht mehr, so mag man daraus ersehen, wie schwer es ist, in einer Medien- und Informationsgesellschaft gegen diese Form der Bewusstseinsindustrie anzuarbeiten. Sisyphos lebt.
In der letzten Zeit bemerke ich mehrere Veränderungen bei den Kanälen, auf denen mich Nachrichten erreichen:
Mein Feedreader ist nicht mehr für alle Themen die erste Wahl. Er lohnt sich weiterhin für relativ eng angelegte Bereiche, vor allem für Fachblogs zu bestimmten Themen.
Gleichzeitig haben aber journalistische Websites ganz breit deutlich nachgelassen. Es lohnt sich nicht mehr, sie als Feed mitzulesen. Man merkt, dass die Presseverlage kein Geld mehr in die Online-Ausgaben ihrer Zeitungen stecken. Stattdessen haben sie in Paywalls investiert und ihre Seiten zu einer Art Webshop umgebaut. Wer die interessanteren Beiträge lesen will, muss zum E-Paper greifen, was sich tatsächlich manchmal lohnt, meist aber nicht. Einzige Ausnahme, dank taz zahl ich, ist eben die taz, die weiterhin alle Texte frei auf ihre Seite stellt.
Der dritte Kanal, auf dem ich mich informiert hatte, war ganz lange Zeit hinweg Wikipedia, und zwar die Beobachtungsliste meiner Interessengebiete. Wikipedia schwächelt schon seit längerem, zum einen, weil, wie man weiß, immer weniger Benutzer aktiv mitmachen, zum anderen, weil die verbliebenen Autoren aktuelle Themen ausgerechnet anhand der – siehe oben – qualitativ immer schlechteren und immer rarer werdenden offenen Presse-Websites bearbeiten. Bibliotheken existieren, Fachportale gibt es auch, Open Access gibts ebenfalls, sie werden aber nicht genutzt. Man reagiert also nicht angemessen auf den Niedergang der Zeitungs-Websites und wendet sich zur Recherche Besserem zu. Die Autoren, die daran interessiert waren, sind zumindest in diesem Bereich schon länger nicht mehr zugange. Man hat damit aufgehört, Dinge ins Internet zu schreiben.
Die Entscheidung der Presseverlage für die Paywall ist zugleich eine Entscheidung gegen Reichweite. Tendentiell ist es eine Entscheidung für einen Weg in die Bedeutungslosigkeit. Man merkt hier aber auch, wie sich die künstliche Verknappung digitaler Güter auch über die Massenmedien hinaus im Netz und in der Gesellschaft auswirkt. Damit ist ein erheblicher Verlust von Qualität verbunden, bei den Presse-Websites und bei denjenigen, die an ihren Tickern und Meinungsbeiträgen hängen. Die Folge ist die zunehmende Ungleichheit beim Zugang zu Informationen. Wer hat worauf noch Zugriff? Und wer entscheidet darüber? Die Gatekeeper sind wieder da.
Welche Konsequenzen kann man daraus ziehen? Derzeit versuche ich, jeden Informationskanal so umzugestalten, dass die jeweiligen Stärken besser zum Tragen kommen:
Die Anzahl der Feeds im Reader verringern und diejenigen Websites weglassen, die man besser von Zeit zu Zeit mal ansurft – und wenn man das nicht tut, dann ist es ein deutliches Zeichen dafür, dass es auch ohne sie ganz gut geht.
Zeitungen, wenn überhaupt, lieber als E-Paper oder aus Archiven lesen. Einzige Ausnahme: Die taz, siehe oben. Besonders gern lese ich in letzter Zeit historische Zeitungen aus den vielen Archiven, die es mittlerweile gibt. Der Vergleich der heutigen Nachrichten mit denjenigen vor zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren relativiert die Nervosität der „großen Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen). Und natürlich: Wissenschaft und Literatur statt Zeitungen.
Keine Artikel mehr über laufende Ereignisse in Wikipedia lesen, denn sie werden meist – siehe oben – aus minderwertigen Online-Quellen zusammengetragen und als zweiter oder dritter Aufguss erstellt. Solange das so ist.
Im Anschluss an Iris Radischs Bericht über die Vergütung der freien Literaturkritiker gab es weiteres über die finanzielle Seite der Branche zu erfahren.
Das Altpapier von vorgestern verweist auf den 1. Freischreiber-Report 2019, in dem die Honorare je 1000 Zeichen bzw. je Sendeminute zusammengestellt wurden, die von den Verlagen und den Sendern tatsächlich gezahlt worden sind. Die Spreizung der Sätze ist heftig und reicht von etwa 20 Euro bei taz, Freitag und dpa bis zu etwa 175 Euro bei Geo.
A propos dpa: Jörg Meyer berichtet im Neuen Deutschland vom 19. Juni 2019 (S. 15) über den ersten Warnstreik bei der Nachrichtenagentur überhaupt. Im Newsroom in Berlin-Kreuzberg hätten am Vortag fast alle der etwa 100 Mitarbeiter/innen für eine Stunde die Arbeit niedergelegt. Die drei Gewerkschaften verdi, DJV und dju fordern zwei Prozent Lohnerhöhung und werden von dpa hingehalten, weil jeder Monat ohne neuen Tarifvertrag ein Gewinn für das Unternehmen sei. dpa habe 1,5 Prozent angeboten und weigert sich, im Nachhinein für „tarifvertragslose“ Zeiten nachzuzahlen. Die Vergütung im Newsroom sei „sehr unterschiedlich“.
Derweil hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg Kürzungen beim Wortprogramm seines Kulturprogramms rbbKultur angekündigt. Ab 2021 sollen eine Million Euro pro Jahr eingespart werden, das wären 20 Prozent des gesamten Haushalts für das Programm.
„Auf den ersten Blick haben die beiden Fälle nichts miteinander zu tun“, schreibt Jörg Meyer, „doch sie sind Ausdruck des steigenden Drucks auf Medienschaffende in Zeiten fortschreitender Digitalisierung.“ Die dju-Bundesgeschäftsführerin Cornelia Berger weist zudem darauf hin, dass immer mehr Ministerien eigene Newsrooms aufbauten, um ihre Stellungnahmen an der Presse vorbei über Soziale Medien direkt und ohne eine journalistische Einordnung zu verbreiten.
Es ist ja viel die Rede von Jürgen Habermas derzeit, zum 90. Geburtstag kann man das auch schon mal machen. Viele haben über ihn geschrieben, die Deutsche Welle (sic!) hat mit seiner Lektorin Eva Gilmer gesprochen, und da gab es eine Stelle, an der man als Nerd denn doch aufhorcht, weil davon ja sonst so gar nicht die Rede ist:
DW: In welchem Zustand kommen die Manuskripte bei Ihnen an und wie lange dauert es, bis Habermas eine Publikation wie „Auch eine Geschichte der Philosophie“ fertigstellt?
Gilmer: Auf den ersten Teil der Frage möchte ich am liebsten antworten: In Form von Word-Dateien, die via E-Mail übermittelt werden. Aber natürlich meinen Sie etwas anderes. …
In ihrem Interview im Börsenblatt hatte Iris Radisch nicht viel zu sagen, als sie von Stefan Hauck auf die Buch-Blogger angesprochen wurde:
Man muss sie ernst nehmen, denn das alte Reich-Ranicki-Imperium der Literaturkritik, das gibt es nicht mehr.
Ende der Durchsage. Es folgt noch eine Beschreibung des Umfelds, in dem sie selbst arbeitet: Die Anzeigeneinnahmen gehen zurück. Die Literaturredakteure müssen selbst ran. Die Freiberufler werden prekär entlohnt:
Es gibt im Journalismus wenig Formate – außer großen Recherchen und Reportagen –, die so zeitaufwendig sind wie die Literaturkritik. Dennoch bekommt ein Kritiker für eine mittellange Kritik nur 350 bis 450 Euro. Daran arbeitet er aber inklusive der Lesezeit mindestens zwei Wochen.
Umgekehrt hat die Bedeutung der Literaturkritik für den Markt immer mehr nachgelassen. Man setzt sich immer weniger mit Themen, Texten und Sprache auseinander, und seit dem Tod von Marcel Reich-Ranicki ist man ziemlich in der Versenkung verschwunden und wird immer weniger wahrgenommen. Ich würde ergänzen: Die Verlage tun ein übriges dazu, indem sie ihre besten Texte hinter die Paywall stellen und für Mondpreise verkaufen wollen. Die Paywall ist die große Abseitsfalle des Internets. Okay, das kann schon mal passieren, aber irgendwann hätten sie es merken müssen in den Redaktionen, welche Mechanismen da am Werk sind.
Zum Beispiel die Buch-Blogger, die man „ernst nehmen muss“. Aber was sonst noch? Vielleicht müsste man sich auch einmal damit auseinandersetzen, warum sie präsent sind, im Gegensatz zu den Feuilletons? Weil sie online auffindbar sind, auch längerfristig, denn jedes Blog ist per se ein Archiv mit Permalinks, während die Verlagswebseiten in immer kürzeren Abständen neu aufgezogen werden, wobei die Weblinks, die auf eine Website gesetzt werden, kaputt gehen. Cool URIs don't change, sagte einst der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee. Diesen Anspruch erfüllen bis heute nur die klassischen Formate des Web 2.0, nämlich Wikis und Blogs.
Wenn Iris Radisch die „die echten literarischen Debatten“ fordert, die es früher einmal gab, liest sich das tatsächlich wie ein romantischer Blick in eine Vergangenheit, die ein für alle Mal perdu ist. Und die Literaturkritik-Debatte im Perlentaucher war 2015.
Heute wird das Bild, das sich das lesende Publikum von Büchern macht, im wesentlichen von Intermediären wie den Suchmaschinen oder den Sozialen Netzwerken bestimmt, von dem, was man halt so findet. Die Feuilletons gibt es noch, aber sie haben genauso an Bedeutung eingebüßt wie alles übrige, was die Zeitungsverlage so hervorbringen. Wie bei jedem schweren Tanker gibt es auch hier einen langen Bremsweg.