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Die Grenze zur Außenwelt II

Der Perlentaucher verweist heute auf zwei Quellen, die aus der allgemein-wohlwollenden Martin-Walser-Wahrnehmung in den Nachrufen der letzten Woche ausscheren. Zwei einsame Rufer in der Wüste, die sich dem Narrativ vom „Jahrhundertschriftsteller vom Bodensee“ nicht anschließen, und die auf den Skandal der Paulskirchen-Rede verweisen und den offenen Antisemitismus in seinen Texten. Benjamin Ortmeyer in der Jüdischen Allgemeinen und Klaus Bittermann in der Jungle World. Letzterer zeigt auch ein Foto mit den stehenden Ovationen nach der Friedenspreisrede. Wie schon einmal gesagt: Hab nichts mehr von ihm an Bord, und halte ihn auch weiterhin für verzichtbar.

Emacs 29.1

Nachdem Jörg Kantel nebenan mit Visual Studio Code so ausgesprochen zufrieden ist, habe ich mir den Nachfolger des eigentlich unsäglichen Atom natürlich auch mal angesehen – und war überrascht. Schöne Integration in macOS und viele nützliche Erweiterungen, auch für Wikitext, was ich häufig brauche. Und Markdown, natürlich.

Aber der Release von GNU Emacs 29.1 hatte mich doch auch neugierig gemacht. Nachdem ich mit Emacs über 20 Jahren lang schon fast alles gemacht habe, was man mit einem Rechner so anstellen kann, war ich ihm natürlich auch damals nach dem Wechsel von Windows zu Linux zu Mac OS X treu geblieben. Erst mit dem Carbon Emacs, dann mit Aquamacs. Und als ich vor einem Jahr vom MacBook Pro auf ein MacBook Air umstieg, war mein System eigentlich erst komplett, nachdem ich MacTeX und Aquamacs aufgespielt und konfiguriert hatte. Letzterer war zwar im Sommer 2019 vorläufig gerettet worden, als David Reitter sein Projekt an Win Treese übergab. Seitdem ist es aber doch ziemlich ruhig geworden um die weitere Entwicklung. Aquamacs beruht immer noch auf GNU Emacs 25.3, der im Sommer 2017 freigegeben worden war. Er läuft mit Rosetta auch auf M1-Macs, aber man fragt sich mittlerweile doch, wie zukunftssicher das alles wohl noch sein wird?

Daher also einen Blick auf den neuen Emacs geworfen. Selbst kompilieren? Oder über Homebrew installieren? Am Ende siegte emacsformacosx.com mit dem Versprechen: Pure Emacs! No Extras! No Nonsense! Was auch stimmt. Was aber auch bedeutet, dass man hier nun wirklich sämtliche Pakete, die mir lieb und wichtig geworden sind, selbst nachrüsten muss. Und meine .emacs für den Aquamacs funktioniert natürlich mit dem Pure Emacs nicht so ohne weiteres.

Das Gerüst für meine Konfiguration stammt noch aus den 2000er Jahren, als ich mit dem NTEmacs begonnen hatte. Und wenn man schon die Tastaturbelegung hier als erstes angehen muss, noch bevor man zu weiterem übergehen kann, merkt man schnell, was in den Distributionen alles schon vorbereitet wurde. Der Aquamacs ist ein Rundum-Sorglos-Paket, in dem alles auf Anhieb funktioniert. Aber ich traue der Ruhe um mein wichtigstes Arbeitspferd nicht mehr. Und die anderen TeX-Editoren sind keine wirklichen Alternativen. Been there, seen that.

Deshalb werde ich nun erst einmal ausprobieren, ob mir ausreicht, was der Kollege Hendrik Sünkler in seiner Konfiguration vorschlägt. Ich habe zwar nicht vor, meine stundenweise Abrechnung in Org-mode zu loggen. Aber meine gewohnte LaTeX-Umgebung hätte ich schon gerne und die paar Programmier- und Auszeichnungssprachen, mit denen man es immer wieder zu tun hat, sollten auch so funktionieren wie gewohnt. Still digging!

Thunderbird 115.1, macOS 13.5

Update auf Thunderbird 115.1.0. Der Hänger beim Herunterfahren wurde behoben. Außerdem jede Menge kleinerer Korrekturen, die in den Release Notes gar nicht aufgeführt werden. Ich glaube, sie sind auf einem guten Weg. Wenn der Assistent zum Einrichten von neuen News-Konten noch funktionieren würde, wäre alles gut. Das Fenster erscheint nur zur Hälfte und ist nicht zu vergrößern. Der Rest wird einfach abgeschnitten. Bugreport ist erstellt.

Upgrade auf macOS Ventura, bevor Sonoma freigegeben wird. 11,9 GB Download. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sowas mal halb so groß war. Das Setup dauerte eine halbe Stunde, und danach funktionierten Drucker und Scanner wie gehabt. So wenig Probleme gabs bei Apple noch nie, irgendwas war immer.

Der Fortschritt ist eine Schnecke.

Die Grenze zur Außenwelt

Der größte Teil der Werke Martin Walsers spielt in einem Milieu, das man schon die „alte Bundesrepublik“ nannte, als sie noch gar nicht Vergangenheit war. Tatsächlich sind große Teile dieses Milieus nach wie vor lebendig – in der Welt der besseren Angestellten und im höheren öffentlichen Dienst, unter den erfolgreicheren Selbständigen, Schriftstellern und Freiberuflern. Ihr Verhältnis zur Geschichte und zur Politik ist nicht durchdacht oder gar formuliert. Die Grenze zur Außenwelt ist für sie keine Wand, die man in der Manier des romantischen Helden durchstoßen könnte, sondern eher ein elastisches Gebilde, das weich zurückfedert.

So Thomas Steinfeld heute in der Süddeutschen Zeitung über den gerade verstorbenen Martin Walser. Auch ein Todesfall. Ich habe kein Buch mehr von ihm behalten. Nach Tod eines Kritikers gab ich alle Texte von ihm in den Flohmarkt.

No Man's Woman

Sie muss eine Menge mitgemacht haben. Sie hat es auch nicht für sich behalten, sondern öffentlich gemacht. Ihr englischer Wikipedia-Artikel liest sich eher wie eine Krankenakte. Und auch ich denke an ihren einzigen großen Hit, mit dem sie für immer bekannt wurde: Nothing compares 2 U. Eigentlich von Prince, aber mit einer ganz eindrücklichen Performance für immer mit ihr verbunden. Damals, im Jahr 1990, hatten Musikvideos noch eine gewisse Reichweite. Die besseren waren künstlerisch gemacht. Die Videokunst war ein Kind der gerade abgeschlossenen 1980er Jahre.

Das Lied lief während einer Taxifahrt am frühen Abend vom Krankenhaus nachhause. Wir hatten damals einen Todesfall in der Familie, und der Taxifahrerin ging es ebenso, erzählte sie uns. Es war eine traurige Fahrt, die sich lange anfühlte, endlos lange anfühlte. Ein langer, sehr trauriger, ein einziger gesungener Schrei, den man nicht vergisst. Eine Melodie, die nachklingt. Ein Gesicht. Ein Kopf.

John Creedon widmete Sinéad O’Connor gestern Abend auf RTÉ Radio 1 seine ganze Sendung und spielte dabei unter anderem ein Lied, das hierzulande weniger zu hören ist. Dazu gibt es ein Video, das einen leidensvollen Prozess der Individualisierung zeigt. Die (Wieder-)Geburt aus dem Geist der Verweigerung heraus, aus dem Protest heraus und mit Hilfe der Musik. Der eigenen Musik auf dem eigenen Instrument, das zu ihr passte. Sie war No Man's Woman.

Klar, sehr kommerziell produziert. Aber auch sehr gut gemacht.

Thunderbird 115.0 „Supernova“ VI

Also gut, eine Woche mit dem neuen Thunderbird 115.0. Und nachdem ich mich so viel beklagt hatte, arbeite ich mittlerweile eigentlich ganz flüssig mit der neuen Oberfläche, deren Gestaltung noch vieles offen lässt. Man kann sie sich aber durch die neue Möglichkeit einer Änderung von Schriftgröße und Dichte wenigstens insoweit zurechtbiegen. Vor allem ist die Suche wesentlich schneller geworden, was wichtig ist, weil Thunderbird für mich vor allem auch ein Archiv ist. Bleibt der Hänger beim Herunterfahren. 17 Sekunden Spinnrad. Wohlgemerkt: Das Programm stürzt nicht ab, es reagiert nur nicht mehr. Aber: Das schafft sonst keiner auf einem M1-Mac.

The Sir Salman Rushdie interview

In the end, it's the books that matter, not the knives.

Ein Jahr nach dem Attentat bei einer öffentlichen Veranstaltung in New York hat Salman Rushdie sein erstes Interview gegeben. Er lebt seit der Veröffentlichung der Satanischen Verse im Jahr 1988 in ständiger Bedrohung und Lebensgefahr – ein Buch, das heute, in Zeiten des sensitivity reading, wahrscheinlich gar nicht mehr veröffentlicht würde, aus Respekt vor den Gefühlen, die dadurch verletzt werden könnten, auch darum geht es in dem Gespräch, wenn auch nur am Rande. Das ist gleichwohl bemerkenswert, denn der Stoff war bisher ganz überwiegend als ein Beispiel für die Meinungs- und die Kunstfreiheit besprochen worden. Ich glaube, mehr Rücksichtnahme wäre besser gewesen, auch hier. Abgesehen vom Verlust eines Auges bei dem Anschlag, gehe es ihm körperlich gut, aber er wisse noch nicht, ob er jemals wieder Veranstaltungen mit Publikum werde durchführen können.

Das Gespräch fand statt in der Hauptnachrichtensendung des BBC World Service Newshour am 12. Juli 2023. Nach 12 Jahren war es die letzte Sendung der Moderatorin Razia Iqbal. Die etwa 20 Minuten lange Unterhaltung wurde ausgekoppelt und am vergangenen Wochenende erneut gesendet. Sie kann ein Jahr lang auf BBC Sounds angehört werden.

Der Wanderer LXXVII

Alle sind müde. Von der Hitze. Von der plötzlichen Temperaturschwankung. Nach unten. Nach oben. Müde vom Wetter. Müde aber auch von der nicht ablassenden Veränderung.

Was damals begonnen hatte, setzt sich fort. Immer mehr Läden haben geschlossen. Das Einkaufszentrum hat einen Leerstand, den man sich früher[tm] nie hätte vorstellen können. Alles schrumpft immer noch weiter. Unsere Speisen, gerne auch zum Mitnehmen. Prozent. Vorteilskarte. Besuchen Sie uns im Internet.

Die Geschäfte verschwinden so schnell und leise, man fragt sich, waren sie noch da, als ich das letzte Mal hier vorbei kam, oder war das schon vor einem oder vor zwei Jahren? Dauerhaft geschlossen. Zettel an der Schaufensterscheibe, und man mag sich gar nicht vorstellen, dass es noch einmal eine nächste Dekoration geben könnte.

Die Irrationalität des Ganzen: hier, gleich an der nächsten Ecke, ist sie alltagspraktisch zu besichtigen, schrieb das Institut für Sozialforschung zur Räumung der Bockenheimer Dondorf-Druckerei, und das kann man ziemlich zwanglos auf viele derzeitige gesellschaftliche Verwerfungen übertragen.

Die Dekonstruktion ist auf lange Zeit hin angelegt. Die gesellschaftliche Umstrukturierung zeigt sich vor allem in den Wanderungsbewegungen zwischen den großen sozialen Agenturen, den knappen Mehrheiten bei politischen Wahlen, dem schnellen Umentscheiden zwischen grundlegend verschiedenen Optionen, dem Mitgliederverlust bei den Kirchen und den Gewerkschaften, der immer weitergehenden Individualisierung bei den Lebensentwürfen und in den Arbeitsbedingungen. Und bei aller Veränderung: Gleichzeitig eine große Enge von allen Seiten. Anstrengung und Zwanghaftigkeit prägt die Bewegung, die Veränderung, es fehlt an Leichtigkeit und Geschmeidigkeit. Und an Licht. Der Trend zum Dark Mode ist dafür ein Zeichen. Es gibt ihn schon länger, aber er ist immer noch nicht überall angekommen. Im Firefox muss man ihn noch durch ein Add-On nachrüsten, damit nicht nur das Programm selbst, sondern auch der Inhalt der Websites dunkel wird. Verdunkelung. Verdunkelungsgefahr. Alles so dunkel hier. Wie schön.

Die Welt ist mir zuviel titelte das Zeit Magazin zwischen den Jahren 2014/2015 einen Beitrag über das neue Biedermeier. Der darke Vorhang bleibt geschlossen. Wir gehen gut einkaufen, alles bio, und wir kochen uns was Hippes, sagt das Zeit Magazin. Henkerlächeln beim Winken aus dem elektrisch getriebenen und wohltemperierten Sportwagen. Fährt in seine eigene Welt. Und ab.

Horváth lesen.

Umstrukturierung auch bei den Plattformen. To mail or not to mail.

  • Ende 2022 dachte man darüber nach, die traditionsreiche Mailingliste Nettime-l auf eine eigene Mastodon-Instanz umzuziehen. Und dann kam Google Mail und kappte die Liste faktisch, so dass eine weitere Kommunikation nicht mehr möglich war. Umzug auf eine temporäre Mailman-Instanz. Und neue Betreiber und Moderatoren aus Wissenschaft und Netzkultur fanden sich zusammen. Es wird also weitergehen. Wir atmen auf: Nettime-l ist eines der hochwertigsten Foren zur Netzkultur und zur Medienwissenschaft.

  • Im Frühjahr schloss Michael Schaarwächter nach 29 Jahren und nach ziemlich kurzfristiger Ansage die InetBib-Liste (zuletzt etwa 8000 Abonnenten). Als Nachfolger gründeten Thomas Krichel und Jürgen Plieninger die Mailingliste Bibnez mit derzeit 1500 Abonnenten. Das deutet auf eine hohe Bereitschaft hin, sich bei disruptiven Verläufen neu zu orientieren. Und ab.

  • Im Sommer 2023 wurde angekündigt, dass das Schweizer Pendant Swiss-Lib ganz von der Mailinglisten-Basis auf eine Web-Plattform mit angedrechseltem E-Mail-Verteiler wechseln werde. Ab September soll es soweit sein – via Digithek.

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