Ohne Kontext
Richard Sennett entwickelt seine Thesen vom „alten“ und dem „neuen“ Kapitalismus fort und beschreibt das in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 7. April 2015 anhand von Biobauern. Als Aussteiger (in den 1980er Jahren war das mal eine häufig gehörte Bezeichnung und ein echter Weg) fühlten auch sie sich auf kurzfristige Ziele festgelegt, obwohl sie das Gegenteil gesucht hätten. Auch für ihre Arbeit gebe es keinen Kontext mehr, keine „soziale Matrix, innerhalb derer sie sinnvoll erschien.“ An einen Ausweg innerhalb des kapitalistischen Systems glaube er, Sennett, nicht, er „habe eigentlich nur noch die Hoffnung auf den Kollaps des Systems. Es ist ja 2008 immerhin schon einmal kollabiert.“
Das Klagen über die Entfremdung ist alt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß es jemals so laut gewesen wäre, solange ich persönlich zurückdenken kann.
(via Denkstil)
Selbststeuerung, Morozov, Antville und MetaGer
Ein ostersonntäglicher Blick in den Feedreader: Joachim Bauer sagt in einem Interview, das der Deutschlandfunk heute morgen gesendet hatte, wer sich im Leben an längerfristigen Zielen orientiert, sei gesünder und werde leichter wieder gesund. Er redet der Compliance das Wort, aber auch den Selbstheilungskräften. Die „Selbststeuerung“ des Patienten sei zu stärken. Es komme für den Behandlungserfolg sehr viel stärker als bisher angenommen auf ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis an. Im Hintergrund steht das Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Kontinuum, das mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite hin ausschlägt, aber nie vollständig auf einer Seite steht.
Ich bringe das auch in Verbindung mit meinen Online-Gewohnheiten und denke an die bewußte Auswahl der Tools und Plattformen, die ich nutze, denn diese ist stets langfristig angelegt. Aber da ist Evgeny Morozov bei Futurezone heute anderer Ansicht: Wer meine, auf Google verzichten zu können, rede „Blödsinn“, sagt er. Die Meinung beruhe „auf der religiösen, protestantischen Annahme, dass wir uns alle ethisch zu verhalten haben. Das führt zu einer sehr eingeschränkten Vorstellung davon, was Macht ist. Wenn ich meine Zeit effizient nutzen, meine Arbeit erledigen und nicht als Idiot oder technikfeindlicher Freak gelten will, gibt es keine Alternative zu Google. Der Zeitdruck wird vom ökonomischen und sozialen System ausgeübt. Menschen, die mehrere Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, werden nicht plötzlich Geld für minderwertige Technik ausgeben wollen, weil das aus ethischer Sicht Sinn macht.“
Der Gedanke geht ziemlich durcheinander. Schon der Ausgangspunkt, der die Auswahl von Tools in die protestantische Ethik einordnet, stimmt gar nicht. Es ist eher eine Frage der Achtsamkeit sowie der Selbstwirksamkeit. Beides kann zufriedener und damit auch in dem eingangs angesprochenen Sinne gesünder machen. Es ist auch nicht richtig, daß Alternativen zu Google eine „minderwertige Technik“ böten. Im Gegenteil habe ich über MetaGer viele Inhalte erst gefunden, die mir Google – „dank“ Filterbubble? – gar nicht mehr angezeigt hatte. Das gilt insbesondere für Themen aus dem Gesundheitswesen, aber auch für Nachrichten. Insoweit war das Googlen mit Google also sowohl ineffizient als auch nicht datensparsam und hat mir somit klar geschadet.
Auch die Auswahl der Bloggerplattform gehört übrigens in diesen Zusammenhang: WordPress.com oder Antville? Wenn man die jüngsten Eskapaden und die offizielle Reaktion der Mitarbeiterin, die bei Automattic als „Happiness Engineer“ tätig ist, angesichts von gut 3000 öffentlichen Petenten innerhalb weniger Tage sieht: Im Zweifel blogge ich lieber bei Antville.
Ich nehme die Vorgänge um den Post Editor bei WordPress.com zum Anlaß, mich von dort zu verabschieden und meine schneeschmelze nur noch zum Dokumentieren ausgewählter Beiträge zu verwenden, wie schon zu Anfang. Mein laufendes Blog wird albatros.antville.org sein. Damit greife ich eine Linie auf, die ich im Januar 2013 begonnen hatte. Dies auch als ein Zeichen dafür, daß die Selbstfindung und -vergewisserung, der die schneeschmelze gedient hat, in eine neue Phase übergeht.
Übrigens wurden sowohl Antville als auch MetaGer gerade einem Update unterzogen. Es ist schön, daß beide Plattformen gemeinnützig und aktiv weiterentwickelt werden und daß man hier noch direkten Kontakt zu den Entwicklern hat. Bei MetaGer wurde so im Laufe des letzten Jahres unter anderem eine Wiki- und eine Blog-Suche integriert. Auch eine eigene Nachrichtensuche gibt es wieder.
China blockiert weniger
Dank einem Hinweis in der Mailingliste Wikisouce-l fällt der Blick auf einen Schauplatz im fernen Osten. Die Internetzensur in der Volksrepublik China und die dortigen Sperrungen von Wikipedia sind ein Kapitel für sich. Bei der Wikimania in Hongkong gab es einen Vortrag zum Thema. Es gibt Neuigkeiten zum aktuellen Stand. Einer Anmerkung in einem Ticket auf Phabricator zufolge, würden derzeit „nur“ die chinesische Wikisource (sic!), die chinesische Wikinews (sic! sic!) und die uigurische Wikipedia blockiert, heißt es auf der Liste. Und auf Phabricator freut man sich, dass die englische mobile Wikipedia in China genutzt werden könne.
Zuerst im Wikipedia:Kurier, 29. März 2015.
Lieber nicht
Auf einer Website gibt es zwei Gruppen von Interviews und Interviewten. Man kann wählen zwischen: „Querdenker & Visionäre“ sowie „Mahner & Bewahrer“. – Nein, danke, ich möchte lieber nicht.
Ende März
Nach dem übermütig-warmen Nachmittag verschwindet die Sonne brüsk hinter den Wolken, und das Zwitschern der Vögel verstummt im kalten Wind.
Wie in einer Zeitblase
In einem Interview mit Zeit Online hat Oliver Rohrbeck über die Produktion der Drei ??? erzählt, sie würden heute immer noch wie in den 1970er Jahren vorgehen. Er fühle sich dabei „wie in einer Zeitblase“. Die Drei ??? kenne ich nicht, aber ich erinnere mich an die Hörspiele der Fünf Freunde aus dieser Zeit, in denen Rohrbeck den Julian sprach. Seine Produzentin sei heute immer noch Heikedine Körting (!), und sie arbeiteten mit analogen Bändern. Alle Schauspieler seien gleichzeitig im Studio anwesend, die Geräusche kämen ebenfalls von Band. Und obwohl zwischen den ersten und den neuesten Aufnahmen ein Zeitraum von 35 Jahren liege, betrage die erzählte Zeit insgesamt nur fünf Jahre. Und auch ich fühle mich wie in dieser Zeitblase, wenn ich den Text lese, und denke zurück an die vielen Stunden, die ich mit den Hörspielen damals verbracht hatte. Denke an die Fünf Freunde und an die Science-Fiction-Serien um Mark Brandis und Commander Perkins, die ich teils gelesen, teils als Hörspiel gehört hatte. Auf Musik-Kassetten, die ich schon ganz lange nicht mehr habe. Auf Kassettenrekordern, die man sich heute rein technisch kaum noch vorstellen könnte. Aber in meiner Erinnerung gibt es sie noch, als wäre die Zeit stehengeblieben, als würde sie nie weitergehen, zieht es mich in die Vergangenheit, drehe ich mich beim Lesen des Beitrags wie in der Schneekugel einer nicht endenden Geschichte, die ja mein Leben ein Gutteil mit geschrieben hat.
Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XVI
„Bemerken Sie, daß es kaum etwas Wichtigeres gibt, als auf sich selbst zu achten?“ fragte Karsch. „Aufzupassen, daß alles, was man tut, stimmig ist mit dem eigenen Gefühl und daß es zum eigenen Leben paßt. Daß es sich nicht anrät, Differenzen, wie klein auch immer sie sein mögen, unter den Teppich zu kehren und so zu tun, als gäbe es sie nicht.“ – Korsch nickte langsam und schaute lange aus dem Fenster. – „Daß man seinem Herzen folgt. Es ist wahr.“
Zeit zum Nachdenken
Harper's Weekly Review zitiert diese Woche eine Meldung über eine sechsundzwanzigjährige Chinesin, die eine Woche in einem Kentucky Fried Chicken am Bahnhof von Chengdu verbracht hatte. Nachdem ihr Freund sich von ihr getrennt hatte, reagierte sie mit einer akuten Depression und konnte nicht mehr zur Arbeit fahren, heißt es in dem Beitrag. Sie ging in das Fastfood-Restaurant und blieb dort eine Woche lang sitzen, bis sie dem Personal auffiel, so daß auch die örtliche Presse über sie schrieb. Wegen der Wechselschichten in dem rund um die Uhr geöffneten Laden habe man sie erst nicht bemerkt, aber nach ein paar Tagen sei sie ihnen irgendwie bekannt vorgekommen, hieß es. Eine Heimkehr in ihre Wohnung erschien ihr nicht gangbar, weil sie dort ständig an ihren Freund erinnert worden wäre. Also blieb sie sitzen, wo sie war, denn sie habe bemerkt, daß sie Zeit zum Nachdenken brauche. Schließlich entschloß sie sich, zu ihren Eltern zu fahren, und verließ den Imbiß.
Tag, mitten in der Nacht
In der dunklen Renne-Bahn glimmt ein Licht, das Dir zeigt, wo der Weg hinführt. Auch wenn Du es erst nach sieben Jahren bemerkst, es war die ganze Zeit schon da. Mach es heller, lauf' darauf zu, mach es ganz hell jetzt, damit alle es sehen. Alles wird Licht. Und es wird noch einmal Tag, mitten in der Nacht.
Kersch, Karsch, Korsch und Kirsch XV
„Hören Sie die Vögel, die die ganze Nacht hindurch zwitschern“, fragte Karsch. – „Als wollten sie die Nacht hingwegsingen und den Tag herbei“, überlegte Kersch. „Den Frühling herbeisingen, bis er endlich da ist.“ – „Den Frühling, und dann auch den Sommer, der auf den Frühling folgen wird. Folgen muß, wie in jedem Jahr.“ – „Ja. Wie schön das ist.“