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Nationallizenz für Publishers Weekly

Für Benutzer mit einem Wohnsitz in Deutschland gibt es jetzt einen Zugang zum digitalen Archiv von Publishers Weekly als Nationallizenz. Der verlinkte Eintrag datiert zwar vom Sommer, das Angbot ist aber erst jetzt in die Liste der für Privatpersonen verfügbaren Zugänge aufgenommen worden. Das, wenn man so will, amerikanische Pendant zum Börsenblatt ist eine Fundgrube für alle, die sich für Literatur, Verlagswesen und Buchhandel interessieren. Das Archiv geht zurück bis 1872. Es gibt eine Moving Wall von einem Jahr. Alle Ausgaben sind im Volltext durchsuchbar. Der Zugriff auf das Angebot von East View Information Services wird bereitgestellt von den FIDs für Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft sowie für Anglo-American Culture.

Russians

Ein Rückblick in die 1980er Jahre. Das Lied Russians wurde 1985 veröffentlicht. Sting war damals 34 Jahre alt, also fast halb so alt wie er heute ist.

Und wir arbeiten uns immer noch daran ab: Tod, Angst, Abschreckung und Krieg sind zurück in Europa. Es scheint eine Endlosschleife zu sein. Wenn ich an den kalten Krieg denke, wenn ich an Krieg denke, dann denke ich an dieses Lied.

Ich habe auch keine Lösung. Aber auch die reflexhafte Aufrüstung ist falsch. Ich denke auch immer wieder an Sätze von Wolfgang Borchert aus der Nachkriegszeit. Sein Vermächtnis. Sie sind wahr:

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN! …

Stellvertretend für die Bibliotheken in der Ukraine sei auf die Wernadskyj-Nationalbibliothek in der Hauptstadt Kiew verwiesen. 1918 gegründet, umfasst ihr Bestand 15 Millionen Medieneinheiten, eine der größten Bibliotheken der Welt. Die Benutzung war bis zum russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 geöffnet. Möge sie und mögen andere Kulturstätten und die Menschen dort beschützt sein.

Der Wanderer LXVIII

Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.

Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.

Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?

Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.

Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)

Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:

Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!

Der Wanderer LXVII

„Die Formel, die ich wählen würde, wäre: Wir müssen rückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Und das scheint mir genau das Problem zu sein. Es gibt Rückkehr, und wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn man ganz ehrlich ist, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität ist, die auch andere Vulnerabilitäten mit sich bringt, andere Aufmerksamkeiten nötig macht. Auch ein neues Verständnis des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Also, was bei allen Pandemien in der Weltgeschichte so war: Die haben immer zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt. Davor stehen wir auch, vor diesem Problem, jetzt wieder. Und das ist total interessant, und ich stimme Ihnen zu, dass die politischen Anbieter dieses Problem noch nicht richtig verstehen.“ (Heinz Bude im taz Talk am 9. Juli 2021).

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Es gibt kein Zurück. Es geht nur vorwärts. Bei disruptiven Entwicklungen gibt es keine Wiederholungen mehr. Es entstehen unwirkliche Zwischenräume: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue funktioniert noch nicht.

Nehmen wir die Entwicklung im Verlagsbereich. Blicken wir zurück. Den Umbruch zu einem öffentlich verpflichtenden Open Access. Der Wissenschaftsfreiheit war Genüge getan, weil eine Print-Veröffentlichung immer noch möglich blieb. Alles gut.

In den Bibliotheken voller Bleiwüsten zwischen Buchdeckeln, in denen wir noch studiert hatten, schien das letzte Abendglimmen einer untergehenden Verlagslandschaft noch einmal kurz auf, und wir waren am Ende tatsächlich die letzte Generation, für die das noch dazugehört hatte: Die Bücherwelt, bevölkert mit Büchermenschen wie wir.

Als die Bücher lastwagenweise angeliefert wurden. Kartonweise. Palettenweise. Am Anfang hatte es noch etwas Beruhigendes. Als sie die Regale füllten in einem steten Strom, der nie zu enden schien, der aber schließlich dann doch versiegte. Das gedruckte Buch gab es seitdem nur noch zum vertieften Studium – oder als Coffee Table Book, weil es so schön war. In Einzelanfertigung, auf Anfrage.

Zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren.

Es dauerte keine zwei Jahre mehr, bis die Magazine abgebaut waren, weil sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Umstellung ging am Ende schneller als man je gedacht hätte. Und die Studenten waren sowieso schon seit mehreren Generationen daran gewöhnt, ihre Zeitschriften online zu lesen. Erst auf dem Laptop, später auf dem iPad. Der Übergang verlief ziemlich geräuschlos, denn das Geschäftsmodell Zeitschrift funktionierte ja auch schon lange nicht mehr. Erst gab es zu den Print-Abos die Online-Fassung dazu, später war es umgekehrt, schließlich fiel Print ganz weg, schließlich die Zeitschrift.

Die Älteren erinnerten sich noch an das Blättern in gedruckten Büchern, die Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer Erhaltung – wie sie aufzustellen wären, wie sie zu greifen wären, damit sie möglichst langsam verschleißten. Nach Größe sortiert ins Magazin gestellt. Überhaupt: Magazine. Speicherplatz ist billig.

Was blieb, war der reine Content. Der bloße Text auf dem Bildschirm, flüchtig und austauschbar und seelenlos und leer. Und diese Leere übertrug sich beim Lesen und erfüllte uns schließlich ganz. Etwas fehlte.

Ein Ort, an dem wir noch nicht waren.

Wir kamen dorthin, ziemlich unbemerkt. Plötzlich fanden wir uns in einer ganz anderen Gegend wieder, fast wie in einem Roman von Ror Wolf. Kaum Widerstand, nur wenige wünschten sich in die alte Welt zurück. Als die Pandemie begann, waren wir genaugenommen schon lange an dem neuen Ort, aber erst damals merkten wir es so richtig, wir mussten uns nur noch darin zurechtfinden.

Als die Bibliotheken schlossen und nur noch E-Books und E-Journals und Dokumentenserver verblieben: Fehlte uns eigentlich nichts. Als die Pandemie Lücken in den Printbestand riss: Merkten es nur wenige. Denn die Bibliothek war längst schon überall, wo man Zugriff auf ihre digitalen Bestände hatte. Also überall. Und eine Bibliothek, die nicht überall war, war nirgends. War gar nicht. Es gab sie gar nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Als der alte Raum nicht mehr passte, entstand ein neuer Rahmen. Und es galt, das Neue im Neuen zu finden und von nun an zum Ausgangspunkt zu machen für alles, was folgte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren, war der Ort, von dem nun alles weitere seinen Gang nahm.

Zwanzig Jahre Wikipedia: Dokumentarfilm auf Arte

Das transnationale Medium Arte beschreibt in einem Dokumentarfilm, der am 5. Januar 2021 im linearen Programm läuft lief, das transnationale Projekt Wikipedia und nimmt dabei eine Position ein, die derjenigen der Wikimedia Foundation beim Blick auf ihre Operationen nicht unähnlich sein dürfte.

Aus den Interviews wurde nicht deutlich, welche der Wikipedianer, die dort gezeigt wurden, denn nun eigentlich je miteinander auf Wikipedia zu tun bekommen hätten. Immerhin zwei aus der deutschsprachigen Wikipedia waren darunter, aber die anderen sprachen jeweils nur über ihre eigene Sprachversion, und diese finden nicht zueinander.

Auf dieser globusdrehenden Metaebene verschwindet auch die Unzufriedenheit der Community an den Verhältnissen vollständig.

Was bleibt, ist ein Dilemma: Wikipedia als mächtiger information hub und zugleich als verletzlicher Gigant in einer Umwelt von Fake News. Viel genutzt, aber bis heute nicht alternativlos.

Die Rolle der Bibliotheken und vor allem der Verlage im Markt der Informationen fehlte ganz. Die Ökonomie der Inhalte, aus denen die Wikipedianer schöpfen, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf Literatur stützen.

Es ist kein kritischer Film.

Lorenza Castella, Jascha Hannover: Das Wikipedia Versprechen. 20 Jahre Wissen für alle? WDR. Deutschland. 2020. Verfügbar in der Arte-Mediathek bis 4. April 2021.

6. Januar 2020: Das Video des Films habe ich nachträglich in den vorstehenden Beitrag eingebettet, nachdem es auf YouTube eingestellt worden war.

The future of text

Ein Lesetipp für die kommenden Wochen dürfte dieses Werk sein:

  • Hegland, Frode, Hrsg. 2020. The Future of Text. 1. Auflage. Future Text Publishing. doi:10.48197/fot2020a, (zugegriffen: 5. Dezember 2020).

Worum geht es?

Welcome to Future Text Publishing, producers of ‘The Future of Text’, the largest survey of the future(s) of text ever undertaken.

The book is a collection of dreams for how we want text to evolve as well as how we understand our current textual infrastructures, how we view the history of writing, and much more. The aim is to make it inspire a powerfully rich future of text in a multitude of ways today and to still have value in a thousand years and beyond. It should serve as a record for how we saw the medium of text and how it relates to our world, our problems and each other in the early twenty first century.

Und das ganze ist open end angelegt. Die zweite Auflage wird ab Februar 2021 vorbereitet.

(K)ein Bericht von der Frankfurter Buchmesse 2020

Meine Berichte über die Frankfurter Buchmesse reichen bis ins Jahr 2009 zurück, meine Besuche noch viel länger. Die Eindrücke, die ich dabei gesammelt hatte, waren für mein Verständnis des Medienwandels prägend. Es war stets eine riesige Inszenierung, in der die alte Medienwelt für eine Woche noch einmal reproduziert wurde, mit Hörfunk und Fernsehen, die Zeitungen waren auch alle da, und überhaupt: Bücher. Die Buchverlage. International. Gedruckt. Merkwürdig, als sie E-Book-Reader ausstellten. In einem Regal. Und mich dann fragten, ob mir das Layout auf dem Reader gefalle.

Aber es wurde dann auch deutlich: Von Jahr zu Jahr fiel es schwerer, das Produkt „Buchmesse“ noch einmal zu erzeugen, wie man es kannte. Die Hallen wurden immer leerer. Schließlich wurden ganze Hallen unter Vorwand aufgegeben. Wo früher der Platz knapp war, wurde zwischenzeitlich der Raum verschenkt, damit es nicht so auffiel, wie alles schrumpfte. Beispielhaft: Die auffällig kleinen Stände von Springer Nature oder DeGruyter im letzten Jahr. Der Messebetrieb verschwand mehr und mehr aus den Hallen, der Rechtehandel wuchs dagegen kräftig. Wer das nicht vor Ort beobachten konnte, sondern nur die Berichterstattung in den Massenmedien sah, merkte davon allerdings weniger. Die Inszenierung „Buchmesse“ wurde stabil gehalten. Es bestand ein Interesse daran, dass es so blieb.

Als es auf die diesjährige Ausgabe zulief, herrschte business as usual. Die Pressemappe kam herein. Der Ausblick auf die nächsten Gastländer. Whitepapers wurden verteilt. Und dann kam Corona. Und die Leipziger Buchmesse wurde abgesagt. Und wir gingen alle ins Homeoffice. Auch der Internetauftritt des Börsenblatts wurde aus dem Homeoffice neu gelauncht. Angeblich deshalb fehlt die Suchfunktion dort bis heute. Und auch der RSS-Feed wurde nicht ordentlich eingebaut, so dass man ihn auch in der Adresszeile des Webbrowsers angeboten bekäme. Kein Kommentar zum Print-Stylesheet. Warum das aus dem Homeoffice nicht möglich sein sollte, entzieht sich derweil einer Begründung. Dann kam ein trotziges „Erst recht!“ aus Frankfurt. Bis man merkte, dass es gar nicht an den Organisatoren bei der Messe liegen würde, ob es eine Buchmesse geben würde. Wenn unter den bestehenden Umständen niemand mit vertretbarem Aufwand anreisen und arbeiten kann, stellen sich keine weiteren Fragen über eine Präsenzveranstaltung der bisherigen Größenordnung mehr. Also nur noch online. Von einer Insolvenz des ganzen Betriebs war bisher noch nicht die Rede, aber von einem „Millionenverlust“ sprach man. Vorsorglich.

Wie wackelig die Orga war, ahnt man anhand der Blogger Relations. In den neu gefassten Akkreditierungsrichtlinien hieß es im April noch:

NEU: Wir akzeptieren ab 2020 nur noch Blogger*innen mit mindestens 2500 Followern pro Kanal und lehnen Facebook-Seiten als alleinigen Nachweis ab.

Abgesehen davon, dass Blogger keine Follower zu haben pflegen, sondern Leser und Abrufe, merkte man viel zu spät, dass man in der PR der Buchmesse die Blogger gar nicht mehr über ihre Blogs, sondern nur noch über deren Ableger in den Sozialen Netzwerken wahrnahm. Und nun begann in letzter Minuten ein Umsteuern, denn, so Juergen Boos in der Online-Pressekonferenz, man brauche die Blogger doch. Also Kommando zurück:

NEU: Wir akzeptieren ab 2020 nur noch Blogger*innen mit mindestens 1000 Followern pro Kanal und lehnen Facebook-Seiten als alleinigen Nachweis ab. Diese Vorgabe gilt nicht für klassische Blogs (z.B. Wordpress) sondern NUR für die Akkreditierung mit einem Social-Media-Account, z.B. mit Instagram, Twitter, YouTube oder TikTok.)

Nehmen wir einfach mal an, dass ein einfaches Bibliotheksblog ein „klassisches“ Blog in dem vorstehenden Sinne ist. Weder die schneeschmelze noch den albatros gibt es schließlich auf TikTok und Co. Aber wenn alles nur noch im Netz stattfindet, braucht sich auch niemand mehr zu akkreditieren. Der Zweck der Akkreditierung bestand schließlich darin, die Pressekarte zu erhalten, um Zutritt zur Messe an allen Tagen zu haben. Wahrscheinlich haben sich das noch mehr gedacht, denn in der abschließenden Pressemitteilung der Buchmesse werden zum ersten Mal keine Zahlen mehr über die akkreditierten Pressevertreter und Blogger genannt. Es gab keine.

War da überhaupt etwas? Die Fachbesucherveranstaltungen, waren zwar frei abrufbar, nach Anmeldung, sie liefen aber während der Arbeitszeit, die nicht so ohne weiteres für jeden freigegeben wurde. Der einzige für mich interessante Beitrag wäre ein Vortrag der Direktorin der finnischen Nationalbibliothek zu Open Science gewesen, gefolgt von einem Input von DeGruyter zum Verlagsgeschäft in den Geisteswissenschaften. Aber dafür die Arbeit unterbrechen? Ich ließ es gut sein.

Zumal die Buchblogger ebenfalls auf dem Rückzug sind. Zuletzt nachzulesen beim Buchrevier und bei den Lesestunden. Sie sind einfach müde geworden.

Und das „Bookfest digital“ erreichte mich vor allem auf YouTube. Aber da ging es auch wieder vollständig unter, soviel wird dort gestreamt seit März… man ist dessen doch mittlerweile überdrüssig.

Wir sehen vor uns die Buchbranche bei dem Versuch einer nachholenden Digitalisierung. Während der Buchhandel noch immer hauptsächlich vom stationären Geschäft lebt, schwärmen die Verlage und einige Journalisten immer noch vom alten Messegeschehen, wie es früher einmal war. Das wird es aber nie mehr geben. Dass das neue digitale Modell noch nicht funktioniert, kann über das Wegbrechen des alten nicht hinwegtäuschen.

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Das gilt übrigens auch für die Bibliotheken. Die Ausleihe der Frankfurter UB schließt noch immer montags bis freitags um 18 Uhr. Wohl dem, der früh genug Feierabend hat, um noch rechtzeitig den Weg dorthin zu finden.

Unersetzlich ist nur das Funktionslose

In dem achtstündigen Podcast „Alles gesagt?“ von Zeit Online mit Juli Zeh kommt gegen Ende (ab 6 Stunden 59 Minuten) auch die Rede auf die Entwicklung des Buchhandels während des Lockdowns. Die Dominanz des gedruckten Buchs hat gezeigt, dass es nicht gelungen ist, das Buch nachhaltig zu digitalisieren. Das E-Book spielt weiterhin keine große Rolle am Büchermarkt. Juli Zeh bekennt, sie nutze den Amazon Kindle, erhalte darüber aber keine brauchbaren Leseempfehlungen. Während das bei Spotify für Musik klappe, sei sie weiterhin auf den Besuch von Buchhandlungen angewiesen, um Neues zu entdecken, das sich für sie zu lesen lohne. Der Schöffling-Verlag, bei dem sie früher unter Vertrag gewesen sei, bevor sie zu Bertelsmann usw. ging, habe immer darauf gedrungen, sie auf Lesereise zu schicken, weil die Präsentation ihrer Bücher schon im Vorfeld im Buchhandel wesentlich besser gewesen sei als sonst. Die Buchhandlungen und das gedruckte Buch sind bis auf weiteres nicht zu ersetzen. Wir erinnern uns: Unersetzlich ist nur das Funktionslose.

Übergänge X

Zum Beispiel weil immer wieder die Rede davon ist, dass sich durch die derzeitigen Verhältnisse auf Dauer etwas verändern werde. In den Massenmedien bekannt geworden ist die Debatte um den etwas blauäugigen Beitrag von Matthias Horx, dem Bazon Brock widersprochen hat: Aus der Geschichte habe noch niemand „einfach mal so“ etwas gelernt, und Optimisten seien „Volksverdummer“, meinte er ketzerisch.

Disruptive Momente bieten eine gute Projektionsfläche für alle möglichen Wünsche nach Veränderung. Die einen sehen derzeit das Bedingungslose Grundeinkommen heranziehen, tax the rich, das Comeback des Staates am Ende der neoliberalen Zeit sei gekommen. Rechte Reflexe hinken dem hinterher und wirken noch hilfloser als sonst. Solche Debatten haben vor allem die Funktion, von der großen Verunsicherung, die derzeit besteht, abzulenken und das jeweilige Lager zu beruhigen, weil sie Hoffnung geben, es gehe am Ende alles gut aus. Sie können auch den Blick auf die tatsächlichen Entwicklungen verstellen. In diesem Sinne sind sie Gegenaufklärung, es sind bloße Fluchtphantasien.

Die große Verunsicherung zeigt sich im Verlust von Vertrauen in eine Umgebung, in der man sich zwar nicht vollkommen gefahrlos, aber doch mit hinreichender Kompetenz einigermaßen bequem bewegen konnte. Man kam zurecht. Heute trauen sich manche Leute nicht einmal ohne Gummihandschuhe und Gesichtsmaske in den nächsten Supermarkt zu gehen. Die U-Bahn-Fahrt wird zur gefährlichen Expedition, bei der bisher unbekannte Gefahren drohen. Die leergekauften Supermärkte bleiben im Gedächtnis und treffen auf tieferliegende Erinnerungen an Notzeiten, die generationenübergreifend weitergegeben worden sind. Vertrautes schwindet, und Vertrauen schwindet.

Dem entspricht, dass alle Entscheidungen derzeit unter einer besonders großer Unsicherheit getroffen werden. Entscheidungen unter Unsicherheit hat es schon immer gegeben, aber nicht so eine große Unsicherheit wie in diesen Wochen. Es sind Unsicherheiten, gegen die man sich nicht versichern kann. Millionen Menschen sind auf das „Corona-Paket“ des Staates angewiesen, und die Zeitungen schreiben, von den 50 Milliarden Euro seien schon neun ausgegeben. Die Umverteilungsmaschine läuft also, aber sie erreicht gerade diejenigen ganz unten gar nicht. Wenn billige Produkte ausverkauft sind und wochenlang nicht mehr geliefert werden, steigen natürlich die Lebenshaltungskosten, und dabei handelt es sich dann auch nicht mehr um eine „kurzzeitige Spitze“, die der einzelne noch auffangen könnte und nach der Rechtsprechung auch selbst aufbringen müsste. Dass es unter diesen Umständen keine groß angelegte Diskussion um die unverzügliche Erhöhung des Regelbedarfs zur Grundsicherung gibt, zeigt, dass die Massenmedien, aber auch die Netzgemeinde sich wenig für die wirkliche soziale Bedürftigkeit interessieren. Die Umverteilung erfolgt von unten in die Mitte, wieder einmal.

Bei realistischer Betrachtung ergibt sich möglicherweise ein Spielraum für Veränderungen bei einigen praktischen Abläufen. Telefon- und Videokonferenzen ersetzen persönliche Begegnungen. Was wir schon ungefähr 20 Jahre lang als Netizens und Webworker gemacht haben – Hangouts, Chats und Skypos, Blogs und kollaboratives Schreiben in Wikis, Etherpads und Google Docs – die Distinktionsmerkmale der Digitalen Bohème, nennen sie jetzt „Homeoffice“. Wer ihm erfolgreich entfloh, findet sich unversehens dorthin zurückversetzt. In den Betrieben und in der öffentlichen Verwaltung werden dafür jetzt Infrastruktur und Kapazitäten aufgebaut, die mithin nicht mehr so bald verschwinden werden, auch wenn dieses oder jenes Virus wieder herdenmäßig gesehen beherrschbar sein wird. Und wenn die Technik einmal vorhanden ist, wird sie erfahrungsgemäß auch genutzt. Inwieweit sie ältere Medien oder Praktiken ersetzt oder verdrängen wird, bleibt freilich abzuwarten.

Spannend bleibt zu beobachten, wie das Schwinden des Dritten Orts im Sinne von Ray Oldenburg – die Bibliotheken, die Gastronomie, die Friseursalons, die Sportstätten, aber auch die Kirchen und dergleichen – sich gesellschaftlich auswirken wird. Die Virtualisierung dieser Orte wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren. Es braucht Empathie, und die entsteht nicht am Bildschirm. Und Dienstleistungen brauchen ebenfalls einen bestimmten Rahmen.

Gleichwohl ist ein Knacks entstanden, den man am Ende nur unvollständig mit digitalen Mitteln wird heilen können, so sehr sich die Nerds auch bemühen werden. Das ist die eigentliche Stelle, an der auszuloten sein wird, wieviel Luft für Neues vorhanden wäre oder ob es nach alledem nicht doch eher wieder zur Restauration gekommen sein wird. Ob man restaurativ denken wird oder ob es auch den Mut zu einem neuen, zu einem transformativen Denken geben wird. Das durchaus auch auf dem aufbaut, was wir in den vergangenen 20 Jahren als Netizens und als Webworker gemacht und damit vorbereitet haben. Denn unsere Generation sitzt heute in den IT-Abteilungen und richtet die gut ausgereifte Technik in den Betrieben und in den öffentlichen Verwaltungen ein. Während die Gesellschaft im übrigen weiterhin auf die kommerziellen Datenkraken angewiesen ist. Aber das ist ein anderes Thema und soll zu einer anderen Zeit besprochen werden.

E-Book schlägt Book-Book

Im Börsenblatt lesen wir, „das gedruckte Buch [habe] seine führende Rolle bei der Wissensvermittlung verloren“. Das meinen zumindest die Betreiber der Buchhandlung Unibuch Lüneburg, die bis Ende 2019 auf dem Gelände der dortigen Leuphana Universität auf einer Fläche von etwa 100 Quadratmeter betrieben wurde. Der bisherige Mit-Inhaber Dietrich zu Klampen führt das Scheitern des Geschäfts auf die Bolognareform (sic) und auf das Angebot an E-Books der Universitätsbibliothek zurück. Die Studenten zögen das E-Book dem gedruckten Buch vor. Das deckt sich nicht so ganz mit meinen Beobachtungen in den Lesesälen, denn da wird immer noch fleißig Papier geblättert, vielerorts gibts auch eine Semesterausleihe parallel zu Digital, aber das mag vom Fach und vom Standort abhängig sein, und es sagt ja auch nichts über das Kaufverhalten der Benutzer aus.

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