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Der Wanderer LXXXIII

LibreOffice schafft die Begriffe Schusterjungenregelung und Hurenkinderregelung in seiner Bedienoberfläche ab, weil es die Begriffe bei Microsoft Word und bei Adobe InDesign auch nicht mehr gebe. Es handele sich um einen Drucker-Jargon, der für Joe Sixpack unverständlich sei. Das sind typografische Grundbegriffe. Kann man sich nicht ausdenken. Aber im heutigen Daily-Build schon so umgesetzt.

Bibliotheken rocken in jeder Form

Meint Anke Gröner in ihrem Blogpost zum 20. August:

Sehr lange auf dem morgendlichen Balkon gesessen mit dem derzeit üblichen Glas Lungo und ordentlich Milchschaum, plus Wasser, alles auf einem silbernen Plastiktablett, das ich mal wieder vom Mütterchen überreicht bekommen habe beim letzten Besuch, „nimm mit“. Ein Buch ausgelesen, das hatte ich peinlicherweise gestern schon im Blogeintrag vermerkt, den ich nach dem Morgenbalkon verfasst hatte, ein neues angefangen, nämlich „The Nickel Boys“ von Colson Whitehead. Steht seit Ewigkeiten auf meinem Wunschzettel, aber als ich Freitag in der Stadtbücherei meinen neuen Ausweis bekam und danach durch die Regale schlenderte, stand es vor mir, schön auf Englisch, gleich mal mitgenommen. Bibliotheken rocken in jeder Form.

Sag ich doch.

Der Wanderer LXXIX

Das Bloggen hat sich verändert. Weil sich die digitale Öffentlichkeit verändert hat. Menschlich. Immer mehr Gift ist im Umlauf. Aber auch technisch, weil es weggeht von dem großen Player WordPress. Gutenberg hat dann doch einige zum Nachdenken gebracht. WordPress ist nicht mehr in erster Linie für Blogger da. Und es gibt Alternativen. Erst an WordPress orientiert. Mittlerweile immer öfter: Statische Seiten. Generator: Pandoc in den Metadaten. Oder gleich ein Webhosting bei GitHub Pages.

Übergänge auch bei der Hardware sind zu erkennen: Einstige Apple-Fans sind zu Chromebook und zu Framework gewechselt, und sie sind zufrieden damit.

Übergänge bei den digitalen Räumen: Das Tor-Projekt hat die Mailingliste Tor-Talk geschlossen und bietet zur Diskussion ein eigenes Webforum an, das seit Juni selbst gehostet wird. Die Mailingliste Nettime-l hat sich dagegen konsolidiert und läuft unter neuer (menschlicher und technischer) Orga weiter, worüber große Erleichterung einkehrte. Am Rande der Neuaufstellung und vor dem Hintergrund des Tods von Bram Moolenaar erzählten Ted Byfield und Felix Stalder über die Bedeutung, die vim für die Moderation der Liste über einen so langen Zeitraum hatte.

Bram Moolenaar (1961–2023)

Dear all,

It is with a heavy heart that we have to inform you that Bram Moolenaar passed away on 3 August 2023.

Bram was suffering from a medical condition that progressed quickly over the last few weeks. Bram dedicated a large part of his life to VIM and he was very proud of the VIM community that you are all part of.

We as family are now arranging the funeral service of Bram which will take place in The Netherlands and will be held in the Dutch lanuage. The extact date, time and place are still to be determined. Should you wish to attend his funeral then please send a message to …. This email address can also be used to get in contact with the family regarding other matters, bearing in the mind the situation we are in right now as family.

With kind regards,

The family of Bram Moolenaar

R. I. P.

(vim_announce, via de.comp.editoren)

Der Wanderer LXXVII

Alle sind müde. Von der Hitze. Von der plötzlichen Temperaturschwankung. Nach unten. Nach oben. Müde vom Wetter. Müde aber auch von der nicht ablassenden Veränderung.

Was damals begonnen hatte, setzt sich fort. Immer mehr Läden haben geschlossen. Das Einkaufszentrum hat einen Leerstand, den man sich früher[tm] nie hätte vorstellen können. Alles schrumpft immer noch weiter. Unsere Speisen, gerne auch zum Mitnehmen. Prozent. Vorteilskarte. Besuchen Sie uns im Internet.

Die Geschäfte verschwinden so schnell und leise, man fragt sich, waren sie noch da, als ich das letzte Mal hier vorbei kam, oder war das schon vor einem oder vor zwei Jahren? Dauerhaft geschlossen. Zettel an der Schaufensterscheibe, und man mag sich gar nicht vorstellen, dass es noch einmal eine nächste Dekoration geben könnte.

Die Irrationalität des Ganzen: hier, gleich an der nächsten Ecke, ist sie alltagspraktisch zu besichtigen, schrieb das Institut für Sozialforschung zur Räumung der Bockenheimer Dondorf-Druckerei, und das kann man ziemlich zwanglos auf viele derzeitige gesellschaftliche Verwerfungen übertragen.

Die Dekonstruktion ist auf lange Zeit hin angelegt. Die gesellschaftliche Umstrukturierung zeigt sich vor allem in den Wanderungsbewegungen zwischen den großen sozialen Agenturen, den knappen Mehrheiten bei politischen Wahlen, dem schnellen Umentscheiden zwischen grundlegend verschiedenen Optionen, dem Mitgliederverlust bei den Kirchen und den Gewerkschaften, der immer weitergehenden Individualisierung bei den Lebensentwürfen und in den Arbeitsbedingungen. Und bei aller Veränderung: Gleichzeitig eine große Enge von allen Seiten. Anstrengung und Zwanghaftigkeit prägt die Bewegung, die Veränderung, es fehlt an Leichtigkeit und Geschmeidigkeit. Und an Licht. Der Trend zum Dark Mode ist dafür ein Zeichen. Es gibt ihn schon länger, aber er ist immer noch nicht überall angekommen. Im Firefox muss man ihn noch durch ein Add-On nachrüsten, damit nicht nur das Programm selbst, sondern auch der Inhalt der Websites dunkel wird. Verdunkelung. Verdunkelungsgefahr. Alles so dunkel hier. Wie schön.

Die Welt ist mir zuviel titelte das Zeit Magazin zwischen den Jahren 2014/2015 einen Beitrag über das neue Biedermeier. Der darke Vorhang bleibt geschlossen. Wir gehen gut einkaufen, alles bio, und wir kochen uns was Hippes, sagt das Zeit Magazin. Henkerlächeln beim Winken aus dem elektrisch getriebenen und wohltemperierten Sportwagen. Fährt in seine eigene Welt. Und ab.

Horváth lesen.

Umstrukturierung auch bei den Plattformen. To mail or not to mail.

  • Ende 2022 dachte man darüber nach, die traditionsreiche Mailingliste Nettime-l auf eine eigene Mastodon-Instanz umzuziehen. Und dann kam Google Mail und kappte die Liste faktisch, so dass eine weitere Kommunikation nicht mehr möglich war. Umzug auf eine temporäre Mailman-Instanz. Und neue Betreiber und Moderatoren aus Wissenschaft und Netzkultur fanden sich zusammen. Es wird also weitergehen. Wir atmen auf: Nettime-l ist eines der hochwertigsten Foren zur Netzkultur und zur Medienwissenschaft.

  • Im Frühjahr schloss Michael Schaarwächter nach 29 Jahren und nach ziemlich kurzfristiger Ansage die InetBib-Liste (zuletzt etwa 8000 Abonnenten). Als Nachfolger gründeten Thomas Krichel und Jürgen Plieninger die Mailingliste Bibnez mit derzeit 1500 Abonnenten. Das deutet auf eine hohe Bereitschaft hin, sich bei disruptiven Verläufen neu zu orientieren. Und ab.

  • Im Sommer 2023 wurde angekündigt, dass das Schweizer Pendant Swiss-Lib ganz von der Mailinglisten-Basis auf eine Web-Plattform mit angedrechseltem E-Mail-Verteiler wechseln werde. Ab September soll es soweit sein – via Digithek.

I'd prefer to mail.

Der Wanderer LXXIV

Ich höre alte Podcasts aus dem Archiv, und es ist toll, wie weit die Geschichte der Podcasts nun schon zurückreicht. Vor allem Literaturpodcasts sind immer noch hörenswert. Ich lese sowieso nur selten belletristische Neuerscheinungen, da kommt mir das Gespräch über die Bücher von gestern gut gelegen.

Empfehlung: Mein Freund der Baum mit Andrea Frey und Andreas Baum. Ich lasse ihre Gespräche stundenlang laufen, ohne Pause. Wenn ich wieder ins Zimmer komme, unterhalten sie sich immer noch, scheinbar unermüdbar. Ich habe selten so viel Vernünftiges über Literatur gehört wie hier. Gleichzeitig scheinen auch immer mal wieder schon zeithistorische Bezüge durch. Das Archiv geht immerhin zurück bis 2013, im Februar gibts das Format nun schon zehn Jahre (ebenso lang, übrigens, wie dieses Blog). Wie geschaffen für diese freien Winterwochen daheim. Und es erinnert mich auch daran, dass ich meine private Bibliothek endlich mal aufräumen müsste.

Ja, da gibts auch noch gedruckte Bücher. Wobei mein digitaler Bestand immer mehr wächst. Die Arbeit am E-Book die letzten Jahre hat meinen Bezug zu Büchern verändert. Ich bin mürbe geworden. Mittlerweile bin ich auch bereit, für E-Books Geld zu zahlen, solange sie kein DRM haben. Klassiker aber, wenn es geht, aus dem Project Gutenberg. Kurze Texte eher als längere. Sach- und Fachtexte eher als künstlerische. Der Umgang mit Literatur hat sich verändert. Und das hatten Frey und Baum schon zehn Jahre lang immer wieder reflektiert, auch das ist schön nochmal nachzuhören.

Ich hoffe, die beiden machen weiter und besprechen demnächst mal wieder ein paar Titel. Darunter auch meistens ein Buch, das beide nicht vorher gelesen haben. Allein dafür muss man einfach zuhören. Und für die Zeit bis zur nächsten Folge gibts das Archiv.

Der Wanderer LXXI

Ich blogge seit fast 14 Jahren, aber es ist ziemlich viel passiert in der letzten Zeit, worüber ich nicht geschrieben hatte. Vieles, was mich tiefer beschäftigt hatte, eignete sich einfach nicht zur Veröffentlichung. Manches war vertraulich, manches war zu persönlich oder es hätte sonst zu sehr die Interessen anderer betroffen, so dass es nicht möglich war, es in die Öffentlichkeit zu tragen. Zumal in ein Internet, das zwar nicht nichts vergisst, aber eben doch auch einiges behält. Man weiß bloß nicht vorab, was von dem vielen.

Nach einer so langen Zeit, in der ich mich recht umfangreich öffentlich mitgeteilt und an so vielen Diskussionen beteiligt hatte, war es aber auch einmal gut, sich zurückzunehmen und eine Weile eher ins Off zu gehen. Es fühlte sich passender an, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Auch im Nachhinein bestätigt sich der Eindruck, dass es die richtige Entscheidung war innezuhalten.

Also neu ansetzen, aber ganz von vorne, das geht ja gar nicht.

Ich befinde mich in einer Übergangsphase, die schon einen langen Moment andauert, mehrere Jahre schon. Ich achte auf den Kairos, den glücklichen Moment, in dem etwas Neues anfangen kann, anfangen darf und soll, damit es gut wird, damit es sich stimmig anfühlt.

Gelernt habe ich in diesem Jahr, dass nicht gut werden kann, was von Anfang an vergiftet ist, was unpassend ist. Was nicht zusammenpasst, kann man nicht zurechtstutzen. Zweimal abgeschnitten, und immer noch zu kurz. Daraus entsteht keine glückliche Gestalt.

Als Konstante hat sich ein Mantra erwiesen:

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Der Soziologe Stephan Lessenich hatte in seinem Buch „Nicht mehr normal“ gerade einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert. Er schrieb auf S. 37:

Genau das ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland heute: eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist und der die Trägergruppen des Normalen abhandenkommen. Eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt.

Ob es sich dabei schließlich um

Eine Gesellschaft – am Rande des Nervenzusammenbruchs

handelt, mag jede/r für sich beurteilen.

Jedenfalls wird es seit etwa fünf Jahren immer deutlicher. Es begann schon vor Corona. Genaugenommen war Corona schon lange vor Corona. Die alten Strukturen, die alten Verlässlichkeiten gelten nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch eine Gewissheit: Dass etwas bei der nächsten Begegnung, beim nächsten Anlass nicht mehr so sein wird, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Deshalb muss man sich ständig neu orientieren. Man befindet sich dauerhaft auf der Suche. Darauf muss man sich einstellen.

Alles bleibt anders.

Davon wäre zu sprechen.

Nehmen wir mal das Internet. Das ist nämlich schon sehr lange nicht mehr mein Internet. Es ist nicht mehr das Internet, wie wir es kannten. Die Dimension der Zeitlichkeit ist hinzu gekommen. Zu viele zu liebe Menschen fehlen mittlerweile darin, für immer. Wikipedianer, aber auch Blogger, Netzmenschen wie ich, die für immer gegangen sind und die ganz sicher im Himmel auf uns warten, wenn es einen gibt. Daran will ich einfach glauben.

Sind wir eine „Lost generation“? Der Begriff wurde von Gertrude Stein geprägt und stammt aus der Umbruchzeit des Ersten Weltkriegs.

You are a lost generation

sagte sie über die damals gerade volljährig gewordene Schriftstellergeneration. Das ist eine unbefriedigende Konstruktion, aber sie ist auch nicht ganz abwegig, denn was könnten wir – jetzt einmal unabhängig vom Lebensalter – gewinnen? Jedenfalls würde es eine Weile dauern, bis es einträte.

Viel Grundlegendes gibt es also auch weiterhin zu erörtern. Und ich werde mich in der nächsten Zeit wieder mehr im Blog dazu äußern und versuchen, unter den geänderten Bedingungen zu reflektieren. So wie früher, also? Freilich nicht ganz. Vielleicht aber ähnlich.

Langstrecke

Man merkt, dass man älter wird, wenn die Blogs, die man liest, bei den Goldenen Bloggern 2022 in der Kategorie Langstrecke nominiert worden sind:

Herzlichen Glückwunsch! Ich drücke euch allen drei die Daumen! Wenn auch nur eine/r gewinnen kann. Aber warum kann eigentlich nur eine/r gewinnen? Verdient hättet ihr die Auszeichnung alle!

Die Preisverleihung soll am 4. April in Berlin stattfinden.

PS. Ja, ich weiß, dass rivva eigentlich „nur“ ein Nachrichtenaggregator ist…

Der Wanderer LXX

2021 war das Jahr der nicht geposteten Blogbeiträge. Ich weiß nicht mehr, wie viele Texte ich mir ausgedacht, zumindest in Gedanken entworfen, tatsächlich begonnen, geschrieben, abgebrochen, dann doch fortgesetzt, sogar ins Blog übertragen, dann wieder verworfen oder sogar gepostet und wieder gelöscht hatte. Es waren nicht wenige. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Jedenfalls waren es zu viele.

Aus Gründen. Mein Feedreader sagt, es sei nicht nur mir so gegangen. Einige machen mehr oder weniger weiter wie früher. Aber auch bei ihnen merkt man, dass sich etwas verändert hat. Die Rückblicke fallen aus in dieser Saison. Und die Ausblicke mag sich keiner ausmalen. Die Gereiztheit bleibt. Das Umfeld lädt nicht zur Meinungsäußerung ein.

Ich mochte meistens lieber nicht.

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