Übergänge XI
Ásgeir, Heimförin, 2012:
Ásgeir, Heimförin, 2012:
Es ist viel gestreamt worden in den letzten Wochen, und viel war die Rede von diesem oder jenem Online-Event. Für mich war Randy Crawford eine Wiederentdeckung aus den tiefen 1980er Jahren. Almaz. Und: Rainy night in Georgia. Und: One day I'll fly away. Der Jazz von Randy Crawford, live, wird mein Soundtrack des Lockdown gewesen sein, wenn ich mich daran zurückerinnern werde. Und sie sang vor ein paar Jahren immer noch so wunderbar leicht wie in den 1980ern und 1990ern.
Zum Beispiel weil immer wieder die Rede davon ist, dass sich durch die derzeitigen Verhältnisse auf Dauer etwas verändern werde. In den Massenmedien bekannt geworden ist die Debatte um den etwas blauäugigen Beitrag von Matthias Horx, dem Bazon Brock widersprochen hat: Aus der Geschichte habe noch niemand „einfach mal so“ etwas gelernt, und Optimisten seien „Volksverdummer“, meinte er ketzerisch.
Disruptive Momente bieten eine gute Projektionsfläche für alle möglichen Wünsche nach Veränderung. Die einen sehen derzeit das Bedingungslose Grundeinkommen heranziehen, tax the rich, das Comeback des Staates am Ende der neoliberalen Zeit sei gekommen. Rechte Reflexe hinken dem hinterher und wirken noch hilfloser als sonst. Solche Debatten haben vor allem die Funktion, von der großen Verunsicherung, die derzeit besteht, abzulenken und das jeweilige Lager zu beruhigen, weil sie Hoffnung geben, es gehe am Ende alles gut aus. Sie können auch den Blick auf die tatsächlichen Entwicklungen verstellen. In diesem Sinne sind sie Gegenaufklärung, es sind bloße Fluchtphantasien.
Die große Verunsicherung zeigt sich im Verlust von Vertrauen in eine Umgebung, in der man sich zwar nicht vollkommen gefahrlos, aber doch mit hinreichender Kompetenz einigermaßen bequem bewegen konnte. Man kam zurecht. Heute trauen sich manche Leute nicht einmal ohne Gummihandschuhe und Gesichtsmaske in den nächsten Supermarkt zu gehen. Die U-Bahn-Fahrt wird zur gefährlichen Expedition, bei der bisher unbekannte Gefahren drohen. Die leergekauften Supermärkte bleiben im Gedächtnis und treffen auf tieferliegende Erinnerungen an Notzeiten, die generationenübergreifend weitergegeben worden sind. Vertrautes schwindet, und Vertrauen schwindet.
Dem entspricht, dass alle Entscheidungen derzeit unter einer besonders großer Unsicherheit getroffen werden. Entscheidungen unter Unsicherheit hat es schon immer gegeben, aber nicht so eine große Unsicherheit wie in diesen Wochen. Es sind Unsicherheiten, gegen die man sich nicht versichern kann. Millionen Menschen sind auf das „Corona-Paket“ des Staates angewiesen, und die Zeitungen schreiben, von den 50 Milliarden Euro seien schon neun ausgegeben. Die Umverteilungsmaschine läuft also, aber sie erreicht gerade diejenigen ganz unten gar nicht. Wenn billige Produkte ausverkauft sind und wochenlang nicht mehr geliefert werden, steigen natürlich die Lebenshaltungskosten, und dabei handelt es sich dann auch nicht mehr um eine „kurzzeitige Spitze“, die der einzelne noch auffangen könnte und nach der Rechtsprechung auch selbst aufbringen müsste. Dass es unter diesen Umständen keine groß angelegte Diskussion um die unverzügliche Erhöhung des Regelbedarfs zur Grundsicherung gibt, zeigt, dass die Massenmedien, aber auch die Netzgemeinde sich wenig für die wirkliche soziale Bedürftigkeit interessieren. Die Umverteilung erfolgt von unten in die Mitte, wieder einmal.
Bei realistischer Betrachtung ergibt sich möglicherweise ein Spielraum für Veränderungen bei einigen praktischen Abläufen. Telefon- und Videokonferenzen ersetzen persönliche Begegnungen. Was wir schon ungefähr 20 Jahre lang als Netizens und Webworker gemacht haben – Hangouts, Chats und Skypos, Blogs und kollaboratives Schreiben in Wikis, Etherpads und Google Docs – die Distinktionsmerkmale der Digitalen Bohème, nennen sie jetzt „Homeoffice“. Wer ihm erfolgreich entfloh, findet sich unversehens dorthin zurückversetzt. In den Betrieben und in der öffentlichen Verwaltung werden dafür jetzt Infrastruktur und Kapazitäten aufgebaut, die mithin nicht mehr so bald verschwinden werden, auch wenn dieses oder jenes Virus wieder herdenmäßig gesehen beherrschbar sein wird. Und wenn die Technik einmal vorhanden ist, wird sie erfahrungsgemäß auch genutzt. Inwieweit sie ältere Medien oder Praktiken ersetzt oder verdrängen wird, bleibt freilich abzuwarten.
Spannend bleibt zu beobachten, wie das Schwinden des Dritten Orts im Sinne von Ray Oldenburg – die Bibliotheken, die Gastronomie, die Friseursalons, die Sportstätten, aber auch die Kirchen und dergleichen – sich gesellschaftlich auswirken wird. Die Virtualisierung dieser Orte wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren. Es braucht Empathie, und die entsteht nicht am Bildschirm. Und Dienstleistungen brauchen ebenfalls einen bestimmten Rahmen.
Gleichwohl ist ein Knacks entstanden, den man am Ende nur unvollständig mit digitalen Mitteln wird heilen können, so sehr sich die Nerds auch bemühen werden. Das ist die eigentliche Stelle, an der auszuloten sein wird, wieviel Luft für Neues vorhanden wäre oder ob es nach alledem nicht doch eher wieder zur Restauration gekommen sein wird. Ob man restaurativ denken wird oder ob es auch den Mut zu einem neuen, zu einem transformativen Denken geben wird. Das durchaus auch auf dem aufbaut, was wir in den vergangenen 20 Jahren als Netizens und als Webworker gemacht und damit vorbereitet haben. Denn unsere Generation sitzt heute in den IT-Abteilungen und richtet die gut ausgereifte Technik in den Betrieben und in den öffentlichen Verwaltungen ein. Während die Gesellschaft im übrigen weiterhin auf die kommerziellen Datenkraken angewiesen ist. Aber das ist ein anderes Thema und soll zu einer anderen Zeit besprochen werden.
TeX Live 2020 ist gestern eingefroren worden. Der Release ist für den 10. April 2020 geplant.
In Thunderbird soll Movemail gestrichen werden.
Das kann zu sehr, sehr weitgehenden und tiefgreifenden Veränderungen führen. Ein disruptiver Moment, während dessen alles neu gedacht werden kann, weil es neu gedacht werden muss. Weil es sonst gar nicht mehr weiterginge und alles stillstände. Zum Beispiel der Unterricht in den Schulen: Ganz plötzlich gilt fehlende Digitalisierung als ein Defizit. Wie wäre es jetzt, wenn es eine Schul-Cloud gäbe, und wenn die Lehrer und die Schüler dafür auch ausgestattet und geschult worden wären? Und was kommt nach dem (Schul-) Buch? Oder wenn die VHS-Cloud einsatzbereit wäre? Kein Kurs, der darüber zu halten wäre, müsste ausfallen. So viele sind derzeit zuhause, eine optimale Gelegenheit für die Weiterbildung. Oder das bargeldlose Bezahlen im Einzelhandel: Angeblich habe es in der letzten Zeit zugenommen, und zwar aus hygienischen Gründen. Chapeau! Auf diese Ausrede war bisher noch kein Bargeldgegner gekommen. Auf einmal geht es wieder um lauter Themen, über die wir schon seit mehr als zehn, fünfzehn Jahren sprechen. Und jetzt aber mal so richtig. Freilich taucht immer auch mal wieder die Überwachung auf und auch der Staatstrojaner ist im Angebot. Auch sie mit einer neuen Begründung, passend zum aktuellen Anlass. Alles bleibt also anders. Der Januskopf der Digitalisierung. Aber diesmal könnte es klappen. Und die Datenschützer nicken auch zunehmend müde zu alledem. Zum Beispiel der bisher boomende öffentliche Nahverkehr: Die Busfahrer verkaufen keine Fahrkarten mehr. Auch hier ist die Lösung schon vorbereitet: Die digitale Fahrkarte. Bitte klicken Sie hier.
Nach dem Freeze für TeX Live 2019 hat Karl Berry nun den Beginn des Pretest für TeX Live 2020 angekündigt. Alles weitere ist der entsprechenden Seite zu entnehmen. Dort werden auch die Neuerungen gesammelt. Der Master für die Release Notes ist hier im Webbrowser zu lesen. Alles etwas schrittweise dieses Jahr, sage ich mal.
MacTeX 2020 setzt mindestens macOS 10.13 High Sierra voraus, die x86_64-darwinlegacy Binaries laufen ab Mac OS X 10.6. BibDesk und die TeX Live Utility sind diesmal nicht in MacTeX enthalten, weil sie nicht notarised werden. Sie müssen separat heruntergeladen werden.
Karl Berry hat auf der TeX-Live-Mailingliste bekanntgegeben, dass die Distribution nun eingefroren werde. Der Paketmanager tlmgr zeige das schon an. Gleichwohl würden noch einige Updates zusätzlich installiert, so die gerade erst hochgeladene neue LaTeX-Version. Der Pretest für TeX Live 2020 stehe bald bevor.
Der gerade erwähnte LaTeX-Frühlings-Release (der mir bisher entgangen war) bringt vor allem zwei Neuerungen:
LaTeX3 muss nicht mehr separat hinzugeladen werden, sondern steht nun standardmäßig im Format LaTeX zur Verfügung, was die Verarbeitung von Features, die expl3 voraussetzen, beschleunigen soll. Dazu zählen alle Dokumente, die mit einer Unicode-Engine (LuaTeX, XeTeX) bearbeitet werden sollen. Aber auch das Ziel, tagged und barrierefreie PDFs mit LaTeX zu erzeugen, soll dadurch näher rücken.
Weiterhin wurde das New Font Selection Scheme (NFSS) modernisiert. Schriftschnitte, die bisher nicht mit dem NFSS aufgerufen werden konnten, werden nun kanonisch berücksichtigt, beispielsweise kursive Kapitälchen oder eine Serie von condensed-Schnitten.
Mehr darüber ist den LaTeX News Nr. 31 zu entnehmen.
Angesichts der Veröffentlichung des 6-millionsten Artikels vergangene Woche in der englischsprachigen Wikipedia hat die Community-Zeitungsseite „Wikipedia Signpost“ ein Moratorium bei der Veröffentlichung von Unternehmensartikeln gefordert. Das sei kein Vorwurf gegen die Wikimedia Foundation, aber die derzeitigen Maßnahmen, um die Enzyklopädie gegen missbräuchliches undeklariertes Paid Editing zu schützen, funktionierten ganz klar nicht. „Da die ehrenamtlichen Autoren derzeit von Werbung in Gestalt von Wikipedia-Artikeln überwältigt werden, und da die WMF nicht in der Lage zu sein scheint, dem irgendetwas entgegenzusetzen, wäre der einzige gangbare Weg für die Autoren, fürs erste die Neuanlage von Artikeln über Unternehmen zu untersagen“, schreibt der Benutzer Smallbones in seinem Editorial zur heutigen Ausgabe.
Im Börsenblatt lesen wir, „das gedruckte Buch [habe] seine führende Rolle bei der Wissensvermittlung verloren“. Das meinen zumindest die Betreiber der Buchhandlung Unibuch Lüneburg, die bis Ende 2019 auf dem Gelände der dortigen Leuphana Universität auf einer Fläche von etwa 100 Quadratmeter betrieben wurde. Der bisherige Mit-Inhaber Dietrich zu Klampen führt das Scheitern des Geschäfts auf die Bolognareform (sic) und auf das Angebot an E-Books der Universitätsbibliothek zurück. Die Studenten zögen das E-Book dem gedruckten Buch vor. Das deckt sich nicht so ganz mit meinen Beobachtungen in den Lesesälen, denn da wird immer noch fleißig Papier geblättert, vielerorts gibts auch eine Semesterausleihe parallel zu Digital, aber das mag vom Fach und vom Standort abhängig sein, und es sagt ja auch nichts über das Kaufverhalten der Benutzer aus.
Der Chaos Communication Congress ging dieses Jahr weitgehend an mir vorbei. Ich werde mich erst mit deutlichem Abstand mal in der Mediathek des CCC umschauen, wenn es sich zeitlich anbietet.
Ein Beitrag hat mich aber über den Deutschlandfunk schon jetzt erreicht: Es gibt eine neue Studie über die Motive, die Einstellungen und die Charaktereigenschaften von Podcastern. Christiane Attig von der TU Chemnitz hat sie auf dem 36C3 vorgestellt.
Christiane Attig hat eine ungewöhnlich große Stichprobe von 653 Teilnehmern erfasst – gibt es wirklich so viele Podcaster? –, sie hat ihnen einen Bogen geschickt, der im Kern die Big Five abfragen sollte, und die meisten der Antworten, die dabei gegeben wurden, hat sie ausgewertet. Die geschlossenen Fragen liegen schon in Zahlen vor, die Freitextantworten folgen noch.
Ein paar Zahlen: Drei Viertel der Teilnehmer an der Studie waren männlich. Zwei Drittel hatten einen Hochschulabschluss, etwa ebenso viele kamen aus einer Großstadt oder aus einer Metropole. Politisch verorteten sich die Teilnehmer ziemlich deutlich links, jedenfalls „linker“ als der Durchschnitt der Bevölkerung. Der Altersdurchschnitt lag bei 38 Jahren, die Lebenszufriedenheit war gut, und alle erreichten überdurchschnittliche Werte in Bezug auf die Eigenschaften Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Extraversion, emotionale Ausgeglichenheit, Technikaffinität und Kommunikationsoffenheit. Alle waren deutlich offener für neue Erfahrungen und sehr denkfreudig (need for cognition). Die Motivation zum Podcasten war in den meisten Fällen intrinsisch, es macht Spaß, man möchte Wissen vermitteln und dabei selbst auch technisch kompetenter werden. Dass man damit eine Community aufbaut, aus der auch Rückmeldungen kommen, wird erst im Laufe der Zeit wichtiger. Die Podcasterinnen waren deutlich weniger technikorientiert als die Männer, und für sie war der Wunsch nach Monetarisierung sehr viel stärker ausgeprägt – wobei 77 Prozent aller Podcasts nicht monetarisiert werden.
Ein interessanter Vortrag. Es ist ein bedeutsamer Beitrag zum Verständnis des heutigen Social Webs.