Tacheles Sozialhilfe weist auf einen Aspekt hin, der zeigt, daß die Umverteilung von unten nach unten bereits begonnen hat. Der Regelbedarf ab Januar 2016 wurde am 16. Oktober 2015 nicht, wie gesetzlich vorgesehen, aufgrund der neusten verfügbaren Verbraucherstichprobe von 2013 festgesetzt, sondern noch auf der Grundlage der Stichprobe aus dem Jahr 2008. Beispielsweise die Tagesschau klärt über diese Zusammenänge nicht auf.
Derweil hat Heinz Bude in einem Interview im Deutschlandfunk ausführlich über die soziale Gemengelage von Benachteiligung und rechter Stimmungsmache gesprochen. Die Unzufriedenen und die zu kurz Gekommenen. Solidarität versus Schweigespirale. Konkurrenz zwischen Stimmungen und – das wäre zu ergänzen – Politik, die sich danach richtet.
Hier ist etwas in Bewegung gekommen, es kann weitreichende Folgen haben.
Es kommt immer darauf an, wie es einem geht. Wer gesundheitlich nicht so ganz fit ist, wird die Frankfurter Messehallen anders wahrnehmen als zu Zeiten, zu denen es ihm besser ging. Und auch das Wetter spielt sicherlich eine Rolle. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es jemals während der Buchmesse so schmuddelig kalt gewesen wäre wie diesmal, als wäre der Herbst schon zu Ende und der Winter begänne sehr bald.
Auf der Suche nach Veränderungen, nach Trends, also.
In der Halle 4.2 fängt man an, wie immer. Aber hier sieht man schon, daß diese Messe kleiner ist als die früheren. „Messe der kurzen Wege“, „alles nur fünf Minuten auseinander“ – was haben sie sich in der Marketing-Abteilung alles ausgedacht, nachzuhören unter anderem bei kulturkapital.org. Tatsächlich ist hier der Wandel in den Medien unmittelbar greifbar und anschaulich geworden. Aus den „Hotspot“-Landschaften vom letzten Jahr wurden kleine Inseln in einem eng bespielten Feld. Nur die ganz großen Player haben noch die ganz großen Stände. Und die der anderen Verlage, die überhaupt noch kommen, werden immer kleiner.
Auch in Halle 4.1, ein Stockwerk tiefer: So wenige Bücher sah man an den Ständen von Wagenbach oder von Christoph Links noch nie. Und bei Antje Kunstmann stehen die Bücher von Varoufakis eher hinten im Regal, nicht vorne auf dem Tisch am Gang – immerhin stehen sie hinten links.
Oder die Verlage erscheinen nur noch mit einem Gemeinschaftsstand, so etwa der Bundesanzeiger-Verlag und der Bund-Verlag von den Gewerkschaften, die sich ein Ständle mit einem dritten teilen, der mir leider entfallen ist. Bei meinem Eintreffen übrigens ganz ohne Personal. Auch keine Zeitschriften mehr zum Mitnehmen.
Überhaupt: Zeitschriften? Damit füllt C.H.Beck dieses Jahr nur noch die Lücken in den großen Regalen, wo gerade noch Platz ist. Die will mittlerweile gar keiner mehr haben. Und die juristischen Neuerscheinungen waren noch nie so langweilig wie diesmal. Das große Lehrbuch wurde 2015 endgültig zu Grabe getragen. Und das kleine Lehrbuch wird ihm vermutlich bald folgen.
Aber manche Totgesagte leben länger. Es tritt auf: Der Brockhaus. Nachdem er auf der Buchmesse 2013 eigentlich schon gar nicht mehr anwesend war, hat sich Bertelsmann nun ziemlich unbemerkt von der Enzyklopädie getrennt und sie an die Schwedische Nationalenzyklopädie verkauft. Deren Wikipedia-Artikel wartet derzeit noch auf eine fachkundige Aktualisierung, ebenso wie der Artikel über die Brockhaus-Enzyklopädie. Aber es ist geschehen. Der Vertrieb über Munzinger sei zum Jahresende gekündigt worden. Das bedeutet: Bibliotheken, die den Brockhaus über Munzinger im Angebot hatten, werden vor die Wahl gestellt, den Brockhaus zusätzlich zu Munzinger (und meist ja auch zur Onleihe) zu beschaffen – oder dieses Angebot wegfallen zu lassen. Die Benutzer müßten sich damit an eine weitere Oberfläche gewöhnen, und auch die Beratungsleistungen in den Bibliotheken werden etwas stärker beansprucht. Wenn, ja wenn der Brockhaus diesen Schritt neben Munzinger schafft – vielleicht verdrängt er aber auch das Munzinger-Archiv vielerorts, weil die Enzyklopädie wertvoller erscheint als die Biographie-Sammlung. Der Wettbewerb um die Bibliotheken wird also härter werden. Ab Januar 2016 strebe man den Vertrieb im B2B-Bereich an, Zielgruppe: Bibliotheken, Schulen, jedenfalls keine Privatkunden. Für diese gibt es weiterhin die Online-Ausgabe der letzten gedruckten Auflage, und diese bleibt wohl auch separat. Anders als bei der Britannica werde es auch keine frei verfügbaren Inhalte geben. Eine gedruckte Ausgabe sei nicht geplant, eine App werde folgen, die Website sei immerhin responsive. Zwei Handvoll feste Redakteure haben die Pflege des Bestands übernommen, ergänzt um einige freie Autoren für Fachthemen. Der Artikelbestand ist weiter gepflegt und auch weiter entwickelt worden. Ergänzungen um weitere Nachschlagewerke zur Kunst, ein eigenes Wörterbuch und die Harenberg Kulturführer sollen in dem Paket folgen. Und natürlich gibt es viel Multimedia – wovon Wikipedia nur träumen kann. Man darf aber gespannt sein, wie viele Bibliotheksnutzer ab Januar 2016 darauf noch werden zugreifen können – und wieviele von ihnen das möchten.
Der Bildungsbereich wird international gezeigt, die deutschen Schulbuchverlage findet man in der Halle 3.1. Aber im „Klassenzimmer der Zukunft“ kratzt Hewlett Packard an der Schale des Apfels aus Cupertino und stellt als Sponsor ein Tablet vor, das man auch mal aus zwei Meter Höhe hinfallen lassen kann, ohne daß es gleich in tausend Stücke geht. Es läuft wahlweise unter Windows oder Android und kommt mit einem „Classroom Manager“ daher, aber ohne Anwendungen und ohne Unterrichts-Content. Insoweit wohl eine offenere Lösung als das ansonsten gehypte iPad. Datenschutzbedenken beim Einsatz im Unterricht konnten leider nicht erörtert werden, vielleicht am Freitag mehr.
Der vierseitige englische Flyer „Classroom of the Future“ erzählt den Nachzüglern unter den Lehrern noch einmal die Geschichte vom Lehrer, der vom Wissenserklärer zum Moderator von Lernprozessen wurde. Immerhin ist da die Rede vom „Unterstützen der Schüler als kritische Konsumenten von Information“. Aber dazu braucht es Technik, und mit dieser Technik wird dann gefilmt oder sonst gebastelt. Die Lernziele bleiben unklar. Und dazu braucht es auch Vorwissen, und es bleibt offen, wer das in welcher Form vermittelt. Hauptsache, es macht Spaß?
Mit etwas Konzentration kann man tatsächlich in gut drei Stunden durch die Hallen 4.2 und 4.1 gehen, was früher nicht so ohne weiteres möglich gewesen wäre. Die Halle 8 wurde in die kleinen Hallen 6.1 und 6.2 gepackt; der Rest wurde in die übrigen Hallen eingestreut. Wenn man noch ein bißchen rückt, ginge noch mehr. Nüchtern betrachtet, ergeben sich ganz sicherlich noch weitere Einsparpotentiale.
Der Radiohörer und der Fernsehzuschauer bekommt davon freilich nichts mit. „Die Frankfurter Buchmesse“ wird dort weiterhin vornehmlich als großer Interview-Event mit Show-Charakter verkauft. Bei den einen sitzen sie auf roten, bei den anderen auf blauen Sofas, es gibt ganz viele Live-Schalten, nur arte ist diesmal nicht vor Ort, wie es scheint. Schade, die hatten immer so schöne schwarz-orangene Stoffbeutel. Sie werden spätestens 2017 wiederkommen, wenn Frankreich der „Ehrengast“ sein wird.
Als wäre der Herbst schon zu Ende und der Winter begänne sehr bald.
Update am 16. Oktober 2015: Börsenblatt zufolge behält Bertelsmann die Rechte an allen Inhalten und lizensiert diese nur an die Brockhaus NE GmbH zur weiteren Entwicklung und Verwertung. Die Brockhaus-Redaktion sei weiterhin „bei der Bertelsmann-Tochter Inmediaone in Gütersloh“ angesiedelt.
Black is the colour of my true love's hair. Ein Klassiker von Nina Simone. So tief und traurig wie der endende Sommer, dessen große Fracht schon längst verladen ist. Ein Endspiel aus Sonne und Licht und noch einmal Wärme. Die gelben und braunen Tupfen in der Natur nehmen zu, sie werden größer und kräftiger, bis auch das letzte Grün gegangen sein wird. Eine Jahreszeit der vielen kleinen Abschiede – die letzten Wespen, die letzten wilden Rosen, bald schon die letzten Zwetschgen. Weggehen und gehen lassen. Und immer stirbt ein bißchen Welt mit jedem Tag. Jeder Tag ein bißchen kürzer als der vorhergehende. Bis es wieder aufwärts geht?
Ein Moment aus den letzten Tagen, der mir nicht aus dem Sinn geht. Ein Bericht über eine spontane ehrenamtliche Hilfsaktion für Flüchtlinge, die vor einer Woche am Frankfurter Hauptbahnhof stattfand. Die wenigen wütenden Stimmen, die laut werden, gehören meistens Obdachlosen, die neidisch auf die Lunchpakete blicken, die so nah und doch so fern sind. „Ich bin auch Flüchtling, ich lebe auf der Straße“, brüllt einer, aber die Menschenkette wankt nicht. Sie „wankt nicht“, heißt es im Bericht auf der Website der Frankfurter Rundschau.
Eine vergleichbare Hilfsbereitschaft hat es gegenüber Menschen, die schon in Deutschland leben, noch nie gegeben. Bei den sogenannten Tafeln wurden stets nur Abfälle verteilt, und das ist von Anfang an ein gutes Geschäft gewesen. Es zeichnet sich auch nicht ab, daß ein sozialer Turn im öffentlichen Diskurs eingeleitet worden wäre.
Diejenigen, die dort versammelt waren, haben verinnerlicht, daß es Klassen von Armen gibt, und sie haben nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Im Gegenteil: Sie erhalten diesen Zustand aufrecht. Es ist eine eiskalte Wärme, die sich hier zeigt.
Es soll eine Querfinanzierung im Bundeshaushalt geben, das heißt, die Mehrausgaben, die von jetzt an entstehen, werden an anderer Stelle abgezogen. Es wird auf eine Umverteilung von unten nach unten hinauslaufen, und es ist absehbar, daß das auf eine breite Akzeptanz stoßen wird. Denn die Menschenkette wankt nicht.
Es kommt selten vor, daß aktuelle Rechtswissenschaft in die Massenmedien findet, noch viel, viel seltener als Naturwissenschaft. Daher umso überraschender das Gespräch, das Karin Beindorff in „Essay und Diskurs“ mit Katja S. Fischer von der Universität Leicester über deren einstiges Dissertationsthema geführt hat, die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Verursachung von Flucht, die sie als einen Eingriff in die Souveränität anderer Staaten ansieht. Ist zwar schon 15 Jahre her, daß sie über das Thema bei Christoph Gusy in Bielefeld gearbeitet hatte, aber derzeit sehr aktuell.
Das Bundesverfassungsgericht hatte gestern das Versammlungsverbot in Heidenau für mit Art. 8 I GG unvereinbar erklärt, den diesbezüglichen Beschluß des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung des Landratsamtes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge im Wege der Einstweiligen Anordnung wiederhergestellt (BVerfG, Beschluß vom 29. August 2015 – 1 BvQ 32/15).
Blogger rufen zu Spenden und zu Solidarität für die Flüchtlinge auf, die derzeit nach Europa kommen (via internet-law). Eine notwendige Aktion, um Flagge zu zeigen gegen Rechts.
Der amerikanische Verfassungsrechtler Lawrence Lessig ist zum Exponenten einer Bewegung in den USA geworden, die sich gegen die Schieflage in der Finanzierung des politischen Betriebs wendet. Lessig hat angekündigt, bei den Präsidentschaftswahlen 2016 anzutreten, wenn es ihm gelinge, genügend Mittel per Crowdfunding einzusammeln. Democracy Now hat ihn hierzu interviewt.
Pikantes Detail am Rande: Die Mainstream-Medien hatten zwar darüber berichtet daß vor ein paar Monaten eine Drohne auf dem Rasen des Weißen Hauses gelandet war, der Hintergrund hierfür wurde aber zurückgehalten. Es war eine Aktion von Dough Hughes, und der Quadrocopter transportierte eine Ladung mit Briefen an alle Kongreßabgeordneten, in denen diese dazu aufgefordert wurden, die Wahlkampf-Finanzierung zu reformieren. The letter began with a quote from John Kerry’s farewell speech to the Senate: quote, "The unending chase for money I believe threatens to steal our democracy itself," Kerry wrote.
Eine ernüchtende und differenzierte Ein-Jahres-Bilanz der Digitalen Agenda der deutschen Bundesregierung – am ehesten anzusiedeln im Bereich der Groteske – geben Vera Bunse und Christian Heise bei Zeit Online: Deutschland verpasst den Anschluss (via).
Es ist soviel „von oben“ liegengeblieben und verhindert worden. Aber auch die Netzgemeinde hat sich immer mehr zurückgezogen, indem der Schritt vom Netz in die Politik endgültig gescheitert ist und alles seitdem den etablierten Parteien überlassen wurde.
Mein Feedreader meldet, daß schon zwei Jahre nach dem Neuland-Zitat der Kanzlerin Blogger im mainstreamigsten der Mainstream-Medien angekommen sind: Philip Banse, Miriam Meckel, Marina Weisband und Mario Sixtus saßen am vergangenen Sonntag (von links nach rechts) im ARD-Presseclub und sprachen dort am Beispiel des Google-Alphabet-Umbaus über eigentlich alle Themen, die wir vor vier, fünf Jahren in der Blogosphäre entwickelt hatten. Einen langen Marsch durch die Blogs und durch die sozialen Netzwerke haben sie hinter sich, werden jetzt als Publizisten bezeichnet und sind die Experten, die „Digitales“ live, ausreichend liberal gefärbt und auf den Punkt sonntagmittags im Fernsehen liefern können. Das Feld ist bereitet, der Markt existiert nun, und jetzt wird die Ernte eingefahren.
Über die Onleihe hatte ich schon öfter geklagt. Insgesamt halte ich das ganze System weiterhin für den falschen Weg. Gerade was die digitale Versorgung mit Zeitungen angeht, hat sich der Zugriff über ein Pressearchiv als wesentlich flexibler erwiesen, und viele öffentliche Bibliotheken bieten ihren Benutzern schon lange solchen Zugriff an. Andere hatten sich für die E-Papers in der Onleihe entschieden.
Vor ungefähr zwei Wochen bemerkte ich, daß die Onleihe meiner Stadtbibliothek neuerdings auch das Neue Deutschland als E-Paper anbietet. Genauer gesagt: Die Onleihe bietet das ND grundsätzlich an, es kann dort aber nicht abgerufen werden. Insoweit unterscheidet sich das Angebot beispielsweise von dem der FAZ, der taz oder der Süddeutschen Zeitung, die stets aktuell vorhanden sind.
Also reklamierte ich bei der Onleihe. Kontaktadresse in der linken Sidebar. Die Digiauskunft meldete sich postwendend und versprach, mein Monitum weiterzuleiten. Das war, wie erwähnt, vor zwei Wochen. Es ging noch mehrmals per E-Mail hin und her, jedoch es änderte sich nichts.
Mal war eine Ausgabe vom selben Tag abrufbar, mal war sie wieder verschwunden.
Auch Ausgaben, die daraufhin zwischenzeitlich schon einmal abrufbar waren, verschwanden kurz darauf wieder aus der Übersicht.
Heute wird dort jede Ausgabe als „nicht verfügbar“ angezeigt. Und die Digiauskunft meldete mir bei meiner letzten Nachfrage zum Ende der vergangenen Woche, ein konkreter Zeitpunkt für die Behebung des Fehlers sei nicht absehbar.
Meine öffentliche Bibliothek reagierte in Bezug auf solchen Service schon routiniert: Man wisse bereits, daß vieles bei der Onleihe nicht funktioniere. Ohjemine.
Nun ist natürlich auffällig, daß es ausgerechnet das Neue Deutschland trifft. Durch solche technischen Mängel kann man auch die Abrufzahlen niedrig halten, konkret: Bei null. Aber das wollen wir doch nicht annehmen, nicht wahr? Ein Schuft, wer Böses dabei denkt.