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Der Wanderer XCII

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft (jaja, etwas locker formuliert, schon klar) geht dieses Jahr an: Claudia Goldin. Einen Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia zu ihr gibts seit 2007, angelegt und überwiegend geschrieben von einem Ökonomen und einem Autor, der sich mit Wissenschaftlern beschäftigt, die Mitglied bei der American Academy of Arts and Sciences sind. Gestützt auf das Who is Who in Economics, aber eben aus einer Zeit, als wir noch keine Fußnoten setzten. Der nächste Blick fällt in die GND: Keine Veröffentlichung im Sammelgebiet der Deutschen Nationalbibliothek. Ihr Personen-Datensatz ist bis heute mit keinem Titel verknüpft. Es hat bisher keinen Verlag hierzulande gegeben, der ihre Werke einer Übersetzung für würdig hielt. Kein ganz neues Phänomen: Sie hat über Jahrzehnte publiziert, und zwar über Themen wie: Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women oder Corruption and Reform: Lessons from America’s History, wohl zuletzt: Career and Family: Women’s Century-Long Journey toward Equity.

Der Wanderer LXXXV

CRE.FM zu Git aus dem Jahr 2009 gehört. Man merkt, dass sich in dem Bereich kaum mehr etwas getan hat. GitHub war am Aufkommen, Wikipedia und „die Wikis“ waren immer noch ziemlich präsent, aber immer noch viel mehr als „etwas Neues“ als man es heute beschreiben würde.

Interessant fand ich an mehreren Stellen den Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Technik, dem Umgang damit und den gesellschaftlichen Auswirkungen. Das Forken wurde von einer regelrechten Kampfansage mit hingeworfenem Fehdehandschuh zu einer geradezu erwünschten Kulturtechnik, die jederzeit grundlegende Änderungen am Bestand ermöglicht und damit Spielräume öffnet. Das Forken als praktizierter Liberalismus. Sire, geben Sie Forkfreiheit!

Nicht weiter verfolgt wurde leider die Idee, dass es nachteilig war, Wikipedia in einem zentralen Repository zu belassen, wenn alle Welt sonst dezentral arbeitet. Noch heute wird der Fork von Wikipedianern im alten Sinne als ein Kampfbegriff verstanden, eher als eine Drohung als eine Chance, eine Entwicklungsmöglichkeit. Die Probleme beim Forken von Wikipedia wurden immer größer mit der Zeit, weil die Erweiterungen im Umfeld, vor allem die Integration von Wikidata, aber auch schon die zentrale Auslagerung aller Bilder auf Wikimedia Commons, einen eigenen Weg, der davon getrennt verliefe, kaum noch zulässt. Wikipedia ist als Dump nicht mehr standalone weiterzuverwenden. Es ist kaum zu ermessen, was diese im Laufe der Jahre geschaffenen Tatsachen für die Entwicklung von Wikipedia und für die Community bedeutet haben. Die Inselstellung dürfte sich dadurch verschärft haben. Die Isolation, die uns vom Rest des Webs trennt. Brücken zu den dezentralen Strukturen kann auch Wikidata nur formal aufbauen, nicht mehr inhaltlich.

Der Diff und der Umgang damit ist ein zentrales Instrument der Content-Entwicklung, das in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen viel zu wenig beachtet wird. In Blog-Systemen spielt es auch kaum oder gar keine Rolle.

Form follows function. Content follows medium.

Zwanzig Jahre Wikipedia: Dokumentarfilm auf Arte

Das transnationale Medium Arte beschreibt in einem Dokumentarfilm, der am 5. Januar 2021 im linearen Programm läuft lief, das transnationale Projekt Wikipedia und nimmt dabei eine Position ein, die derjenigen der Wikimedia Foundation beim Blick auf ihre Operationen nicht unähnlich sein dürfte.

Aus den Interviews wurde nicht deutlich, welche der Wikipedianer, die dort gezeigt wurden, denn nun eigentlich je miteinander auf Wikipedia zu tun bekommen hätten. Immerhin zwei aus der deutschsprachigen Wikipedia waren darunter, aber die anderen sprachen jeweils nur über ihre eigene Sprachversion, und diese finden nicht zueinander.

Auf dieser globusdrehenden Metaebene verschwindet auch die Unzufriedenheit der Community an den Verhältnissen vollständig.

Was bleibt, ist ein Dilemma: Wikipedia als mächtiger information hub und zugleich als verletzlicher Gigant in einer Umwelt von Fake News. Viel genutzt, aber bis heute nicht alternativlos.

Die Rolle der Bibliotheken und vor allem der Verlage im Markt der Informationen fehlte ganz. Die Ökonomie der Inhalte, aus denen die Wikipedianer schöpfen, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf Literatur stützen.

Es ist kein kritischer Film.

Lorenza Castella, Jascha Hannover: Das Wikipedia Versprechen. 20 Jahre Wissen für alle? WDR. Deutschland. 2020. Verfügbar in der Arte-Mediathek bis 4. April 2021.

6. Januar 2020: Das Video des Films habe ich nachträglich in den vorstehenden Beitrag eingebettet, nachdem es auf YouTube eingestellt worden war.

Missbrauch von Wikipedia durch Werbung und PR

Angesichts der Veröffentlichung des 6-millionsten Artikels vergangene Woche in der englischsprachigen Wikipedia hat die Community-Zeitungsseite „Wikipedia Signpost“ ein Moratorium bei der Veröffentlichung von Unternehmensartikeln gefordert. Das sei kein Vorwurf gegen die Wikimedia Foundation, aber die derzeitigen Maßnahmen, um die Enzyklopädie gegen missbräuchliches undeklariertes Paid Editing zu schützen, funktionierten ganz klar nicht. „Da die ehrenamtlichen Autoren derzeit von Werbung in Gestalt von Wikipedia-Artikeln überwältigt werden, und da die WMF nicht in der Lage zu sein scheint, dem irgendetwas entgegenzusetzen, wäre der einzige gangbare Weg für die Autoren, fürs erste die Neuanlage von Artikeln über Unternehmen zu untersagen“, schreibt der Benutzer Smallbones in seinem Editorial zur heutigen Ausgabe.

Bald sechs Millionen Artikel in der englischen Wikipedia

Der Wikipedia Signpost weist darauf hin, dass die englische Wikipedia bald sechs Millionen Artikel umfassen werde. Derzeit sind es 5.975.874 Seiten im Artikelnamensraum. Die nächste Millionenschwelle soll um den 1. Januar 2020 herum erreicht sein. Wegen dem Autorenschwund bestehen zunehmend Bedenken hinsichtlich der Aktualität der Inhalte bei Wikipedia. In deutscher Sprache gibt es 2.370.146 Artikel.

Konflikt zwischen Community und Betreiber-Stiftung in der englischsprachigen Wikipedia

Nachdem die Wikimedia Foundation am 10. Juni 2019 den Administrator Fram gesperrt und „gebannt“ hatte, ist es in der englischsprachigen Wikipedia unruhig geworden. Eine zweistellige Zahl von Administratoren, Oversights und Bürokraten haben im Protest ihre erweiterten Benutzerrechte zurückgegeben. Die wochenlangen Diskussionen, vorwiegend auf der Seite Community response to the Wikimedia Foundation's ban of Fram, sind von den Portalen Buzzfeed und Slate aufgegriffen worden. Der Wikipedia Signpost brachte dazu vergangenes Wochenende mehrere Beiträge, davon ist einer, der die Abläufe dokumentiert hatte, schon wieder gelöscht worden.

Vergangene Nacht kam ein reitender Bote mit einem Statement des Boards der Wikimedia Foundation zu alledem, heute Morgen folgte eine weitere Stellungnahme der Geschäftsführerin Katherine Maher (jeweils Permalinks, die Seite wird weiter bearbeitet).

Bei dem Konflikt geht es wesentlich um den Grad der Autonomie, der den lokalen Communities im Rahmen ihrer Selbstverwaltung von dem Betreiber von Wikipedia belassen wird. Die Stiftung beansprucht das letzte Wort beim Umgang mit schweren Belästigungen von Benutzern untereinander, rudert in dem konkreten Fall aber nun teilweise zurück, indem jetzt doch das Schiedsgericht der englischen Wikipedia eingeschaltet werden soll. Das Verhältnis zwischen Community und Stiftung beim Umgang mit solchen Vorgängen bleibt aber vorerst im einzelnen unklar, es sind viele Nachfragen gestellt worden.

Die bisherige Kritik bezieht sich vor allem auf die Einmischung in Community-Angelegenheiten sowie auf das intransparente Verfahren ohne Anhörung des Betroffenen, das auch für Dritte nicht nachvollziehbar ist, weil dazu keine Einzelheiten veröffentlicht werden. Der Vorfall ist nicht abgeschlossen und wird die Aufmerksamkeit der Wikipedianer auf längere Zeit hinaus in Anspruch nehmen, insbesondere bei der bevorstehenden Wikimania, die vom 14. bis 18. August 2019 in Stockholm stattfinden wird.

Wikipedia baut ab, oder: Was von „open“ übrig bleibt II

Ein schöner Aperçu zur Mediengeschichte der letzten etwa zehn Jahre (auch wenn er es im Titel enger fasst) ist bei André Staltz zu lesen (via Stephen Downes, der zaghaft widerspricht).

Facebook saugt alles mögliche in sich hinein, während Google nur noch außerhalb des Web wächst und selbst Wissen direkt anbietet, ohne den Sprung auf eine externe Quelle, direkt innerhalb des Google-Ökosystems.

Natürlich kommt einem die neue Richtung der Wikimedia Foundation in den Sinn: Wenn sie bei alledem nicht mitspielen würde und Wikipedia nicht als knowledge as a service anböte, würde sie relativ schnell untergehen. Also stellen sie immer mehr Schnittstellen bereit, um ihr Wissen an Google verschenken können, weil die es sonst woanders sich schenken lassen würden oder notfalls auch ad hoc hinzukaufen, wenn es gebraucht wird.

Und selbstverständlich entsteht damit auch ein noch größeres wettbewerbsrechtliches Problem als bisher schon, wenn die ehemalige Suchmaschine nur noch eine einzige Empfehlung ausspricht und ausgibt, anstelle von einer Liste mit einer bisweilen fünfstelligen Anzahl von Suchtreffern, aus denen der Benutzer auswählen muss. Von einem Ranking wird man nicht mehr sprechen können, und Google wird sich mit dieser Technik eher einer noch strengeren Prüfung durch die EU-Kommission unterwerfen. Es könnte sogar sein, dass diese Technik in der EU gar nicht eingesetzt werden darf.

Während das Web verschwindet, entsteht eine Landschaft aus völlig separaten Ökosystemen, die Endgeräte ansteuern, in denen kombinierte Antwort- und Bestellmaschinen integriert sind. Diese Entwicklung ersetzt den alten Computer mit Webbrowser vollständig. Sie verläuft disruptiv und ist nicht mehr umkehrbar.

Es bedarf keiner Erörterung, dass sich dies auch noch weiter auf die hergebrachten Mitmachprojekte des Web 2.0 auswirken wird. Wer an diese Technik aus Apps plus Endgeräte gewöhnt ist und damit aufwächst, wird nie auf die Idee kommen, an einem Massenprojekt wie Wikipedia teilzunehmen, weil er sich so etwas gar nicht mehr vorstellen kann. Normal ist, dass man auf riesige Datenbestände zugreift, die automatisiert erstellt oder jedenfalls automatisiert ausgewählt worden sind, aber nicht, dass man sie als Autor eigenhändig mit schreibt, kuratiert, pflegt und kollektiv verwaltet. Das liegt alles zentral bei der Firma, die es anbietet. Top-down, also nicht in den Händen einer Community, bottom-up.

Dieser Wandel hält von der Mitarbeit ab, und der Konflikt, der sich daraus ergibt, steht wiederum im Mittelpunkt des Streits, der gerade zwischen Community und Wikimedia Foundation entstanden ist. Benutzer haben sich geweigert, die neue Strategie einfach abzunicken, sie widersprechen und verlangen echte Mitsprache, die dort gerade verloren gegangen ist.

Wissen wird wieder exklusiver, und die Entscheidung darüber liegt sowohl bei den GAFAs als auch bei den großen amerikanischen Foundations nicht mehr in der Hand der Benutzer, sondern beim Management. Insoweit gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen.

Und doch wird es auch in diesen Szenarien aus virtuellen Gemeinschaften, virtuellen Realitäten und künstlicher Intelligenz immer wieder Nutzer geben, die dank natürlicher Intelligenz unter dem Radar fliegen und sich abseits dieser großen Lager organisieren und zusammenfinden werden, in Nischen und Kommunen, und dort alternative Entwürfe sich ausdenken und leben werden. In Inseln der Vernunft in einem Meer von Unsinn und mit Spaß am Gerät, natürlich. Aber nicht mehr bei den Großen des Plattformkapitalismus, sondern ganz woanders.

Hier entsteht etwas ähnliches wie in der Politik: Die Entfremdung zwischen Apparat und Zivilgesellschaft führt dazu, dass sich letztere vom Betrieb abwendet und „schon mal anfängt“ mit eigenen Projekten, die von unten beginnen: vegetarisches Essen statt Massentierhaltung, Autos werden abgeschafft, Postwachstum beginnt bottom-up. Der Bruch zwischen Apparat und Unterbau erfolgt langsam, und die Bruchstellen klaffen lange Zeit hinweg leise, aber immer mehr, ganz ähnlich wie eine Eisscholle, die eines Tages abbricht und einfach weg treibt in eine andere Richtung, wo sich beide nie wieder begegnen werden. Den großen Eisberg, der sie gebar, ficht das nicht an. So beginnt etwas Neues.

Staltz, André. 2017. The Web began dying in 2014, here’s how. André Staltz. 30. Oktober. staltz.com (zugegriffen: 5. November 2017). – Yannick. 2017. Die Wikipedia der Zukunft: Zwischen Dienstleistung und politischem Projekt. netzpolitik.org. 1. November. netzpolitik.org (zugegriffen: 2. November 2017). – Paumier, Guillaume und Nicole Ebber. 2017. Service and equity: A new direction for the Wikimedia movement towards 2030. Wikimedia Blog. 3. November. blog.wikimedia.org (zugegriffen: 5. November 2017).

Ein Blick in die kleinen Wikis

Nachdem das Rezepte-Wiki schon Ende 2014 in das Koch-Wiki umgezogen war, hat sich das Projekt stabilisiert. Die Inhalte werden weiter gepflegt, und vor allem wird auch die Technik modernisiert.

Aus Wikipedia übernommen wurden die Benachrichtigungs- und Ping-Funktionen auf der Plattform (die man, wie dort, am besten in den Account-Einstellungen stummschaltet, um davon in Ruhe gelassen zu werden), aber man setzt sich auch ab von der großen Schwester, beispielsweise durch einen eigenen Skin: Seit einer Woche läuft das Koch-Wiki standardmäßig unter Chameleon, responsiv und einheitlich auf allen Clients nutzbar. Alle Konten wurden umgestellt und erhalten erst einmal dasselbe Layout wie alle Leser; wenn man angemeldet ist, kann man aber in den Einstellungen zum gewohnten Skin zurückwechseln. Außerdem gibt es die neue Kühlschranksuche, in der man sich interaktiv Kochrezepte aus dem Wiki zu den jeweils im Kühlschrank verfügbaren Zutaten anzeigen lassen kann.

Ein anderes immer noch recht interessantes Wiki ist sicherlich die indiepedia.de, die sich bekanntlich der Independent-Musikszene gewidmet hat. Auch hier leider eine ganz ähnliche Beobachtung wie bei Wikipedia: Ältere Inhalte werden nicht mehr aktualisiert, Benutzer stellen ihre Arbeit ein, andere greifen deren Werk nicht auf, dadurch kommt es zur Veralterung des Bestands. Auch auf indiepedia.de gibts also etwas zu tun…

Ein Beispiel ist die Kölner Künstlerin Julia Kotowski, die unter dem Namen Entertainment for the Braindead vor etwa zehn Jahren bekannt geworden war. Ihre Lieder von damals, die sie alle vollständig selbst eingespielt und produziert hatte, habe ich immer noch dabei, und ich höre sie regelmäßig.

Während es eine Zeitlang etwas stiller um sie geworden war, hat sie jetzt für den November eine neue EP angekündigt, die über Bandcamp vertrieben wird. Es gibt zwei Stücke als Preview.

Ihr Eintrag auf indiepedia.de ist aber immer noch auf dem Stand von 2010 stehengeblieben. Dort gibt es auch ihr altes Netlabel Aaahh Records noch, das schon lange nicht mehr existiert – mittlerweile organisiert man dort Konzerte. Die alte Backlist stand vollständig unter Creative-Commons-Lizenz und kann deshalb aus dem Internet Archive heruntergeladen werden. Sozusagen das moderne Antiquariat des Netzes.

Wikipedia baut ab, oder: Was von „open“ übrig bleibt

Es ist schon eine Weile her, daß ich einen Blick auf die Entwicklung bei Wikipedia geworfen hatte.

Die Sommer-Statistik ist jetzt mit großer zeitlicher Verzögerung veröffentlicht worden. Die Tabelle zeigt: Es gab noch nie so wenig Autoren, seit ich 2005 bei dem Projekt begonnen hatte, siehe die Spalten "Wikipedians Edits >5" bzw. "Edits >100". Es sind jetzt nur noch 4600 mit mehr als fünf und 720 mit mehr als 100 Bearbeitungen pro Monat.

Zur Neuautorenwerbung hatte Wikimedia Deutschland im Sommer Banner geschaltet, ergänzt um entsprechende Anleitungen. Daraufhin gab es 159 Neuanmeldungen, von denen dann aber nur 32 editiert haben; davon hatten zwei mehr als zehn Bearbeitungen gemacht – das war das Ziel der Kampagne. Eine Herbstaktion wird folgen, natürlich auch ein entsprechender "Dankes-Banner" ab Neujahr nach der alljährlichen Spendenkampagne.

Die Folge des Autoren-Exodus ist vor allem, daß die Inhalte schon seit mehreren Jahren und breit angelegt veralten. Sie werden nicht mehr aktualisiert, und auch eine inhaltliche und redaktionelle Weiterentwicklung bleibt aus, während sich das Web und auch die bibliothekarischen und archivalischen Online-Angebote immer weiter entwickeln und die Suchmaschinen zu Antwortmaschinen geworden sind. Und die wissenschaftlichen Bibliotheken bauen die Fachinformationsdienste auf, die sich nur noch an Wissenschaftler richten – die Folge: Wissen wird wieder exklusiver, es verschwindet hinter Paywalls und ist nur noch für Insider abrufbar, noch viel restriktiver als zu Print-Only-Zeiten; ich bekomme ohne Affiliation z.B. keinen Remote-Zugriff auf Datenbanken der FIDs direkt vom FID. Das ist ein völlig unzureichender Stand für eine Wissens- und Informationsgesellschaft – das Gegenteil müßte das Ziel sein: Wissen zu befreien und immer besser zugänglich zu machen. Der einzige Trend, der von allem, was einst als open angedacht war, übrig bleibt, wird nach alledem wohl Open Access sein, und wenn es so käme, wäre es ein großer Erfolg, ganz gleich in welcher Variante.

Es ist nicht möglich, einen toten Knoten im Netz wiederzubeleben, die Karawane ist weitergezogen. Man kann heute gerade noch mit Wikipedia arbeiten, aber ihre Nützlichkeit wird bald noch weiter abnehmen und schließlich wird der Korpus so wirken wie heute ein Brockhaus aus den 1970er Jahren anmutet: Das meiste ist nicht ganz falsch, aber eben angestaubt, und man muß sich die weitere Entwicklung der darauffolgenden Jahrzehnte hinzudenken und woanders recherchieren. Es gibt heute genügend andere Quellen, und das Bessere ist stets der Feind des Guten. Das galt auch schon beim Aufstieg von Wikipedia gegenüber den früheren Nachschlagewerken.

Netzlese 2017-01-29

Geert Lovink kommt demnächst nach Frankfurt, kommenden Samstag, den 4. Februar, hält er bei der Langen Nacht der Sozialforschung im Rahmen der Frankfurter Positionen einen Vortrag im MMK1 zum Thema Das Selbst im digitalen Netz, neben räusper Mercedes Bunz, Kai Dröge und Olivier Voirol, Tanja Gojny, Olga Goriunova, Rembert Hüser, Eva Illouz, Julika Rudelius, Christina Schachtner sowie Uwe ­Vormbusch. Beginn ist um 19 Uhr, Eintritt frei. Zuletzt hatte Geert Lovink bei La Repubblica ein Interview über Social Media zu Zeiten von Trump gegeben. Das Museum zeichnet seine Vorträge üblicherweise auf und stellt sie auf YouTube, hoffentlich auch diesmal.

An dem Abend wird von Solisten des Ensemble Modern auch For Philip Guston von Morton Feldman aufgeführt. Dauer: Fünf Stunden.

Die documenta14 findet dieses Jahr statt, ab April in Athen, ab Juni dann in Kassel, jeweils hundert Tage lang. Sie landet nicht wie ein Raumschiff in Athen, bevor sie nach Kassel weiterzieht. Sie ist vielmehr eine gewollte Verfremdung von einer Stadt zur anderen und in allem, was bei diesem Projekt zwischen beiden hin- und hertreibt, heißt es auf der Website zur Kunstvermittlung der Ausstellung. Athen und Kassel? Die Regierungsübernahme durch SYRIZA in Griechenland war im Januar 2015, ist also nun auch schon wieder zwei Jahre her. Und Varoufakis Superstar, dieses Drama begann am 27. Januar 2015. Das Referendum, wonach er als Finanzminister zurücktrat, fand am 5. Juli 2015 statt. Er bleibt in Kontakt mit seiner zweiten Heimat Australien und gibt bisweilen Interviews im dortigen Rundfunk, in denen er die europäischen Verhältnisse erklärt, zuletzt vergangene Woche den Populismus in Europa.

Antje Schrupp hat dazu aufgerufen, im September zur Bundestagswahl zu gehen und dort, bitte, eine Partei zu wählen, die auch Aussichten darauf hat, ins Parlament einzuziehen. Wer kleinere Parteien wählt, stärkt den politischen Gegner, die Rechtsextremisten stehen bekanntlich wieder vor dem Berliner Reichstag, ganz ähnlich wie vor 84 Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD gerade mit einer etwas sonderbaren Begründung nicht verboten, und auch die anderen dürfen weitermachen. Antje kritisiert derweil die Rückwärtsgewandtheit der LINKEN, die weiterhin mehrheitlich auf eine Arbeits- und Vollbeschäftigungsgesellschaft und auf ganz viel Staat setzten. Christoph gegen das Grundeinkommen Butterwegge als Bundespräsidentenkandidat passe in dieses Bild. Stimmt. Aber wenn ich nur die Wahl habe zwischen denjenigen, die über fünf Prozent kommen, ist die Auswahl am Ende nicht mehr so groß.

Politisch getrieben ist auch Eric Bonse, der Brüsseler Europakorrespondent der taz, der immer noch leidenschaftlich gegen Martin Schulz anschreibt, der Linksblinker und Rechtsabbieger, der gerade von der ehemaligen Schröder-Truppe auf den Schild seiner Partei gehoben worden ist. Man hat rochiert – Außenminister wird BuPrä, Wirtschaftsminister wird Außenminister, ehemalige Justizministerin wird Wirtschaftsministerin – und die Massenmedien gehorchen aufs Wort und machen sofort ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Angela Merkel daraus. Klar, es würde einem nicht einmal auffallen, wenn Schulz Mitglied bei der CDU wäre. Daß die Leute hierzulande meinen, es sei nicht bekannt, welche Positionen er vertrete, zeigt nur, wie wenig Aufmerksamkeit man den Vorgängen auf der europäischen Ebene beimißt. Gut, es stand nicht alles in den Zeitungen. Aber alles war jahrelang in den europapolitischen Blogs zu verfolgen. Unter anderem bei lostineurope.eu. Siehe aber dort auch die dortige Blogroll. Schulz ist bei weitem kein unbeschriebenes Blatt.

A propos Europa. Zum Beispiel die Schweiz. Da gab es zu Anfang des Jahres eine Sendung des Schweizer Radios SRF2 Kultur zur Urheberrechtsreform, die dort demnächst ansteht. Zur Erinnerung: Die Reformen, die es bei uns gab, gingen allesamt auf EU-Recht zurück. Und was sind die Themen, die nun aktuell(!) in der Schweiz diskutiert werden? An der Spitze steht die Pirateriebekämpfung, also Raubkopien, die über Tauschbörsen verteilt werden. Gefolgt von der Bibliothekstantieme, die es in der Schweiz noch nicht gibt. Und schließlich: Bildrechte. Ja, wirklich, die Sendung wurde am 6. Januar 2017 veröffentlicht. Aber auf einen Blick über die Grenzen hinweg wird man in dem Programm ebenso vergeblich warten wie auf den Begriff der Freien Lizenz oder der Freien Inhalte.

Deshalb zum Schluß ein Link zum WikiMOOC, den Wikimédia France ab März bei fun-mooc.fr durchführt. Alles, was man als neuer Autor über Wikipedia wissen sollte. Leider nur auf Französisch, aber vielleicht demnächst auch auf Deutsch, wer weiß? Ich bin dran.

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